Das unvorhergesehene Sich-Wahrnehmen
„Wir wollen nicht mehr akzeptieren, dass das Menschsein risikoreich und komplex ist.“ Die Schriftstellerin Susanna Tamaro* spricht über den Erziehungsnotstand unserer Zeit.„Erziehung ist ein Grundbedürfnis des Menschen, wie Essen und Trinken. Wir müssen auch wahre, schöne und gute Geschichten ‚zu uns nehmen‘, die gehaltvoll sind und unsere Seele stärken. Jemand muss uns daran erinnern, dass wir nicht allein sind.“ Das ist einer der vielen Kommentare, die nach der Veranstaltung zum Thema „Erziehung“ mit Julián Carrón vom 30. Januar 2021 in den sozialen Netzwerken gepostet wurden. Die Zeit der Pandemie hat viele Fragen im Zusammenhang mit Bildung und Erziehung aufgeworfen – von der Qualität von Distanzunterricht bis hin zur wachsenden Gefahr, dass junge Menschen immer apathischer werden. Der Erziehungsnotstand betrifft uns alle, mehr denn je. Carrón hatte bei der Veranstaltung einen Ausspruch von Susanna Tamaro zitiert, der unerwartetes Licht auf ein Problem wirft, das in den Medien so allgegenwärtig ist, weil es oft missverstanden oder unterschätzt wird. „Die Pandemie hat Einsamkeit offengelegt, nicht hervorgebracht“, hatte Tamaro dem Corriere della Sera gesagt. Das Virus sei wie ein Lackmustest, der die tiefe Isolation ans Licht gebracht habe, die es schon vor der Pandemie gab. Jetzt sehen wir die Spitze des Eisberges, beleuchtet vom hellen Licht einer Ausnahmesituation, das es unmöglich macht, ihn zu übersehen. Aber der Berg war schon vorher da. Das Risiko ist groß, dass wir von Desinteresse aufgefressen werden.
Die Pandemie hat etwas offenbart, das an uns allen nagt: die tief sitzende Angst, ins Nichts zu fallen. Zu meinen, das Problem ließe sich mit der richtigen Didaktik oder Überlebenstechniken bewältigen, ist sehr kurzsichtig. Es verschleiert nur das wahre Drama und hilft uns nicht, nach einer Antwort zu suchen auf die Frage, was dieser Angst wirklich begegnen kann. Nur dem Anschein nach beziehen sich diese Fragen auf die Welt der Schule und der „jungen Leute“. Jeder Mensch in jedem Alter trägt sie in sich. Was kann die Sehnsucht nach Leben wieder wecken? Susanna Tamaro hat sich bereit erklärt, sich solchen Fragen zu stellen, von ihrem Ferienhaus in Umbrien aus, wo sie inmitten der Natur lebt, mit Pflanzen, Bäumen und Tieren, Hunden, Bienen und Marienkäfern. (Wir werden noch sehen, warum Marienkäfer so wichtig sind.)
Was erkennen Sie in dieser Zeit? Welche Entdeckungen machen Sie?
Um ehrlich zu sein, hat der Lockdown für einen Einzelgänger wie mich, mit wenigen sozialen Kontakten, nicht viel verändert. In gewisser Weise war es sogar ein Glück. Ich konnte mit so vielen Menschen auf eine Weise kommunizieren, die früher undenkbar war ... Vieles kann ich aus gesundheitlichen Gründen sonst nicht mehr machen, aber dank Videokonferenzen kann ich von meiner Couch aus mit 500 Leuten auf einmal sprechen. Für manche war der Distanzunterricht auch eine Gnade: die Schüchternen oder die Schwierigen wie ich fühlten sich beschützt. Doch die Pandemie war gleichzeitig ein aufschlussreicher Lackmustest. Sie hat ans Licht gebracht, dass Erziehung und Bildung seit 30 Jahren vernachlässigt werden.
Erziehungsnotstand also?
Seit den 90er-Jahren spreche ich von einem Erziehungsnotstand, auch auf die Gefahr, dass ich als Untergangsprophetin abgestempelt werde. Ich wurde immer als rückwärtsgewandt gebrandmarkt, nur weil ich über dieses Desaster berichtete. Ich habe viele Bücher für Kinder geschrieben und bin in viele Grundschulen eingeladen worden. Je mehr Zeit vergeht, desto mehr nimmt die Zahl der Kinder zu, denen Probleme „bescheinigt“ werden. Inzwischen sind es oft fünf oder sechs pro Klasse. Das ist eine beunruhigende Tatsache, und es zeigt, dass das Problem viel tiefer liegt. Es bedeutet, dass die erzieherischen Grundlagen bei den Kindern nicht tragfähig sind. Wir bräuchten auch Schulen für die Eltern, nicht nur für Kinder. Wir müssten ihnen klarmachen, dass ein Kind kein Erwachsener ist. Wir behandeln Kinder wie kleine Erwachsene und vergessen, dass die Entwicklung nur Schritt für Schritt verläuft. Wenn ein Kind zu Hause machen kann, was es will, wird es sich früher oder später verlieren, weil ihm die Koordinaten fehlen. Die Auflösung der Familie hat sich verheerend ausgewirkt. Kinder werden zur Oberflächlichkeit gezwungen.
Wo fangen wir also an, um diese Grundlagen bei unseren Kindern und Jugendlichen wieder zu legen?
In den höheren Schulklassen ist die Verzweiflung manchmal schon so groß ist, dass man nur noch schwer zu den Herzen sprechen kann. Ein guter Lehrer kann wirklich ein Leben retten, aber die Hilfe muss beizeiten kommen. Bis zum Alter von zehn Jahren sind die „Fenster“ noch offen. Danach kann es schwierig werden, sie wieder aufzubekommen. Das Problem ist, dass wir die Kinder wie Mülleimer behandeln und sie mit schmutzigen, hässlichen Dingen anfüllen, mit Fernsehserien, die eine Art Pornographie des Bösen sind, und noch dazu langweilig. Es gibt Familien, die wie Lachse versuchen, gegen den Strom zu schwimmen. Aber die müssen sehr hart arbeiten, um gegen den Trend anzukommen, so stark ist der Druck der Massenmedien. Sie sind eine schweigende Mehrheit, die keine Stimme hat.
„Wir haben die Idee der Ewigkeit gestrichen, wir leben eingepfercht in die Zeit“, haben Sie kürzlich geschrieben. „Nur wenn wir bedenken, dass wir uns selbst überschreiten müssen, können wir wieder Ruhe finden.“ Was meinen Sie damit?
Die große (und selbstverschuldete) Armut des Menschen besteht heute darin, dass ihm der Atem der Ewigkeit fehlt. Jener Atem der Offenheit für das Geheimnis, der Kindern angeboren ist. Dabei spielt auch das Fehlen von Ruhe eine wichtige Rolle. Wir sind nie still. Wir haben die Zeiten der Erholung verkürzt und das verhindert, dass unser Blick offen bleibt für die Komplexität des Lebens. Nur die Stille kann wieder Worte voller Sinn hervorbringen, die das Herz aufzurütteln vermögen. Auch „Herz“ ist ein Wort, das in unserer Zeit geringgeschätzt und verächtlich gemacht wird. Deshalb ist Stille so wichtig, und das Betrachten der Natur. Wir haben jedes Zeichen von Endlichkeit aus unserem Gesichtskreis entfernt. Es gibt keinen physischen Kontakt mehr mit dem Tod. Wer stirbt, verschwindet plötzlich. Jeder Bezug zum Geheimnis des Todes ist ausgelöscht. Die Welt ist nicht mehr offen für das Ewige, für das Unsichtbare. Auch der unmäßige Gebrauch von elektronischen Geräten trägt dazu bei: Er erschwert den Kontakt zu unserem tiefen Selbst. Es besteht die Gefahr, dass zukünftige Generationen zu einem elektronischen Proletariat gehorsamer Konsumenten werden. Die Unzufriedenheit wächst. Die Statistiken, die Mariella Enoch vom Kinderkrankenhaus Bambin Gesù in Rom veröffentlicht hat, über die Zunahme von Einweisungen aufgrund von Suizidversuchen, selbstverletzendem Verhalten, Zwangsstörungen und Essstörungen, sind erschreckend.
„Falls jemand dich erzogen hat, dann nur durch sein Sein, nicht durch seine Worte“, hat Pasolini gesagt, mit dem prophetischen Blick, den so viele seiner Schriften ausstrahlen. Wie können wir junge Menschen aus dieser Apathie holen, die jedes Entdecken von etwas Neuem über sich selbst und andere verhindert?
Zu oft verzichten Erwachsene auf ihre Rolle als Erzieher, verstecken sich hinter der Schule, die als Dienstleister oder Selbstbedienungsladen begriffen wird. Wenn sie niemanden vor Augen haben, an dem sie sich orientieren können, dann laden Kinder und Jugendliche sich die Last ihrer Eltern auf, nicht umgekehrt. Und so werden sie nie erwachsen. Auch die Konfrontation mit der Wirklichkeit funktioniert nicht immer. Mittlerweile sind die Leute so blind geworden, dass man sie wieder zum Hinsehen erziehen muss. Wir müssen das Fenster des Staunens wieder öffnen, sonst ist selbst der schönste Ort nur wie ein Werbeprospekt oder eine Postkarte von einer „atemberaubenden Landschaft“. Paradoxerweise haben die Lehrer von berufsbildenden Schulen, die als die sozial schwierigsten gelten, mehr Hoffnung auf Erfolg, weil es dort mehr Hunger nach Schönheit gibt. Die Jugendlichen verhalten sich ruhig, wenn sie das Gefühl haben, dass der Lehrer sie wirklich anschaut, „sieht“. Um zu existieren, um zu spüren, dass wir existieren, brauchen wir den anderen, der uns erleuchtet mit seinem Blick. Sonst springt kein Funke über. Bevor die Welt der Unterhaltung omnipräsent wurde, war man sehr oft allein. Jetzt, da wir tausend Ausflüchte haben, wollen wir nicht mehr akzeptieren, dass das Menschsein risikoreich und komplex ist. Echte Erziehung ist das Gegenteil. Sie ist ein unvorhergesehenes Sich-Wahrnehmen unter menschlichen Wesen. Was ist Freundschaft, wenn nicht eine geduldige Aufmerksamkeit für das Leben des anderen?
Die Jugendlichen verhalten sich ruhig, wenn sie das Gefühl haben, dass der Lehrer sie wirklich anschaut, „sieht“. Um zu existieren, um zu spüren, dass wir existieren, brauchen wir den anderen, der uns erleuchtet mit seinem Blick.
„Dein Blick erleuchtet die Welt“ (Il tuo sguardo illumina il mondo) ist auch der Titel eines Buches, das Sie einem Freund, dem Dichter Pierluigi Cappello, gewidmet haben. Wir brauchen Menschen, deren Blick in der Lage ist, unseren Weg zu erleuchten ...
Mehr als die Erzählkunst wird es in dieser Zeit (in der die Konzentrationsspanne immer kleiner wird) die Lyrik sein, die die Fenster in den Herzen der Kinder wieder öffnet. Kurz, prägnant, essentiell. Einen Roman zu lesen, erfordert mehr Aufwand. Paradoxerweise hat die Pandemie die Lust, auf Papier zu lesen, zurückgebracht. Junge Leute haben es satt, so lange Zeit vor einem Bildschirm zu verbringen. Auf der Couch zu sitzen und Netflix zu schauen wird irgendwann auch langweilig. Dann bekommt man wieder Lust, mit Freunden Monopoly zu spielen. Diese „Extremsituation“ bringt Samen von Rebellion zum Keimen. Wir müssen wieder bei den manuellen Fertigkeiten anfangen, dass die Kinder zum Beispiel die Schreibschrift gut lernen. Die Verbindung zwischen Hand und Gehirn ist wichtig. Dinge, die man nur auf einem Bildschirm sieht, hinterlassen keinen bleibenden Eindruck. Es ist kein Zufall, dass motorische Probleme bei Kindern zunehmen, sie werden immer ungeschickter in ihren Bewegungen. Denn wenn man Wissen nicht mit einer physischen Geste verbindet, läuft man Gefahr, dass es auf neuronaler Ebene „verloren“ geht und man den kognitiven Zusammenhang zwischen Geste und Inhalt nicht mehr reaktivieren kann.
Was haben Sie während des Lockdowns „gelernt“?
Ich habe auf meiner Facebook-Seite einen Online-Kurs über die Natur gehalten, über das, was im Garten und bei den Obstbäumen geschieht. Kleine Dinge, die jeder vor Augen hat, aber niemand mehr „sieht“. Über die seltsamsten Tiere wissen wir durch Dokumentarfilme fast alles. Aber über Regenwürmer oder Marienkäfer wissen wir nichts. Wir müssen wieder lernen, etwas genau zu betrachten, unseren Blick auf die kleinen Dinge zu richten, das Gute wieder in den Mittelpunkt des menschlichen Diskurses zu stellen. Wir brauchen das Schöne. Das Gute wurde viel zu lange lächerlich gemacht. Wir müssen wieder bei den Marienkäfern anfangen. Die Natur öffnet uns die Türen zum Geheimnis. Als mein Roman Va' dove di porta il cuore [„Geh, wohin dein Herz dich trägt“] veröffentlicht wurde, fiel mir besonders auf, welch wütende Reaktionen das Wort „Herz“ bei den kulturellen Eliten hervorrief. Das Buch galt als kultureller Müll, als etwas für Ignoranten, die man leicht in die Irre führen kann, als Trivialliteratur. Ich war damals noch jung und wunderte mich über diese Wut. Jetzt wundere ich mich nicht mehr. Die Abschaffung der Seele und die Abschaffung des Herzens sind ein und dasselbe.
*Susanna Tamaro (geboren 1957 in Triest) hat u.a. den Bestseller Geh, wohin dein Herz dich trägt (1994) geschrieben. Ihr neuestes Buch, Una grande storia d'amore („Eine große Liebesgeschichte“), ist in Italien 2020 erschienen.