Einige Studenten der CL-Gemeinschaft in Lissabon

Lissabon - Kleingeld und Sterne

Als die Welt im letzten Frühjahr stehenblieb, begann für diese jungen Leute in Lissabon etwas Neues. Sie wollten den Lockdown nicht einfach aussitzen, sondern ließen sich herausfordern ... So ist ein Buch entstanden, eine Zeitschrift und ein Podc
Davide Perillo

Das Buch muss schon nachgedruckt werden. Die 100 Exemplare waren nach drei Tagen vergriffen. Auch die Zeitschrift war schnell ausverkauft. 150 Stück haben nicht gereicht. Wenn man noch die Leute dazu nimmt, die den Podcast heruntergeladen haben, sagen diese Zahlen doch einiges. Sie sprechen von einer Frische und Lebendigkeit, die weder Lockdown noch Quarantäne zum Erliegen bringen konnten. Im Gegenteil. Genau in der Zeit, als die Welt stehenblieb, hat hier alles begonnen.

Vor einem Jahr, im März 2020, erreichte die Mitglieder von CL ein Brief von Julián Carrón. Er schrieb, dass sich das Leben auch im Bezug auf die üblichen Veranstaltungen der Bewegung (Exerzitien, Kartage, Seminar der Gemeinschaft) drastisch verändern würde, da man sich nicht mehr treffen könne. Aber er zeigte auch eine neue Perspektive auf. „Wir stellen uns die gleiche Frage wie alle: Wie können wir menschlich mit dieser Situation umgehen?“ Wie können wir auch diese „dramatische Zeit, wie wir sie noch nie erlebt haben“ nutzen, um zu prüfen, ob man wirklich „stets intensiv das Wirkliche leben“ kann, wie es Don Giussani sagte? Und: „Wie können wir einander in dieser Situation begleiten? Welche Weggemeinschaft brauchen wir wirklich?“

Bohrende Fragen, die vielen keine Ruhe ließen. Auch Sofia Gouveia Pereira, die Verantwortliche von CL in Portugal, fühlte sich persönlich angesprochen und tauschte sich mit anderen darüber aus. „Ich war beeindruckt, wie gewiss sich Julián war“, erzählt sie. „Sogar in einer solchen Situation kann man wahrhaft leben, nicht nur überleben. Ich wollte das vor allem auch für mich selber verstehen. Und hoffte, dass mir meine Freunde dabei helfen, dass wir es gemeinsam herausfinden könnten.“ Als daher ein paar Studenten vom CLU ihr sagten, sie wollten nicht einfach nichts tun in dieser Situation, sondern gemeinsam etwas Schönes machen, das ihnen helfen würde zu leben, sagte Sofia ihnen das, „was ich mir selber vorgenommen hatte: Wir müssen uns diesen Brief zu eigen machen.“ Sie forderte sie heraus: „Die persönlichen Treffen sind ausgesetzt, aber nicht unsere Gemeinschaft. Seid kreativ!“

Und diese jungen Leute wurden kreativ. Mit einer ganz einfachen und schönen Idee: Jeden Freitag Abend trafen sie sich via Zoom, um gemeinsam etwas anzuschauen oder anzuhören. Einige von ihnen suchten etwas aus (ein Lied, eine Geschichte ... ) und erklärten, warum sie das gewählt hatten. Dann sprachen sie gemeinsam darüber und versuchten, dem weiter auf den Grund zu gehen. O que tem a ver com as estrelas?, nannten sie es. „Was hat das mit den Sternen zu tun?“ Diese Frage hatte Don Giussani als junger Priester spontan zwei Verliebten gestellt, die er beim Küssen überrascht hatte. Später erzählte er das öfter und erklärte, in diesem Moment sei ihm plötzlich „die wahre Definition von Moral“ aufgegangen, nämlich der Bezug zwischen dem konkreten Augenblick und dem Sinn von allem, „der Zusammenhang zwischen der flüchtigen Handlung und der Gesamtheit der Dinge“.

Die Geschichte, die uns schon verband, die Freundschaft, die Art, wie wir miteinander umgingen, hat mich überzeugt, dass das, was wir erlebten, sich nicht verlieren würde. Ja, dass der Lockdown sogar eine Chance sein könnte

Diese Geschichte kann man auch in dem Buch lesen, das die Studenten unter dem Titel Estrelas gerade herausgebracht haben. Darin haben sie die Texte gesammelt, die sie bei ihren Treffen (zwölf waren es zwischen dem 20. März und dem 14. Juni 2020) gelesen haben, die Filme, die sie gemeinsam angeschaut haben, die Lieder, die Gedichte und die Bilder. Man findet darin die Hoffnung Péguys und den Schmerz von Johnny Cash, erfährt, was für Chesterton ein Wunder ist, und kann über die prähistorischen Felszeichnungen im Vale do Côa staunen. Man begegnet Pasolini, dem „immer irgendetwas fehlt“, und John Mayer mit Something’s Missing. Also dem Leben. Mit all den Fragen, die entstehen, wenn man auf die Wirklichkeit trifft.

Davon will auch die Zeitschrift berichten, die praktisch gleichzeitig mit dem Buch erschienen ist. O Troco nennt sie sich, „das Kleingeld“, wie die Münzen, die man als Restgeld erhält. „Die Dinge dieser Welt, die Fotografie, die Musik, das Theater, können uns weiterbringen in diesem anspruchsvollen Rätsel, das das tägliche Leben darstellt“, schreibt Leonor, eine der Studentinnen. „Wenn wir uns bewusst sind, was um uns herum passiert, dann gehen wir unseren eigenen Fragen auch mehr auf den Grund. Diese Zeitschrift wird von Menschen gemacht, die anderen die Schönheit zeigen wollen, die sie entdeckt haben, egal wo.“

Und das ist genau die Herausforderung, die uns vor einem Jahr gestellt wurde. Ein Vorschlag, den man gemeinsam überprüfen sollte. „Am ersten Abend“, erinnert sich Leonor (die Mathematik studiert), „waren wir fünf, höchstens sechs.“ Eine von ihnen war Francisca, die alle nur Kika nennen, eine Freundin und Studienkollegin von Leonor. „Als Sofia uns vorgeschlagen hat, den Brief zu lesen, war ich nicht sehr überzeugt“, meint sie. „Aber nach unserem ersten Treffen war mir klar, dass ich mich geirrt hatte. Da gab es etwas sehr Interessantes. Was auch meine Ansicht darüber ändern konnte, was mir gefällt oder nicht. Ich habe bemerkt, dass ich nicht mehr mich selber vorschlagen wollte, sondern etwas, dem ich folgte.“
Etwas also, das vorher kommt. Kika erklärt es so: „Die Geschichte, die uns schon verband, die Freundschaft, die Art, wie wir miteinander umgingen, hat mich überzeugt, dass das, was wir erlebten, sich nicht verlieren würde. Ja, dass der Lockdown sogar eine Chance sein könnte.“

Und die erste Frucht war, so berichten sie, die Entdeckung, dass „das Leben nicht auf zwei Gleisen verläuft, nämlich dem, was man gerne tun würde, und dem, was die Realität einem vor die Nase setzt, sondern dass es eins ist“, wie Constança sagt. Sie studiert Sprachen. „Was ich im Studium lerne, kann ein neues Licht auf das werfen, was ich hier erlebe, und umgekehrt. Das gleiche gilt auch für meine Freunde. Zu Beginn der Pandemie hatte ich Angst. Vielleicht nicht unbedingt, sie zu verlieren, aber ... Ich hatte Sorge, alles würde weniger intensiv. Doch dann haben wir festgestellt, dass jeder Augenblick erfüllt sein kann.“ Zum Beispiel als sie den Film Die Faust im Nacken sahen, der viele Fragen aufwarf. („Was kann, unserer Erfahrung nach, die Angst besiegen?“) Oder als sie das Gedicht Being Boring von Wendy Cope lasen und ihnen aufging, dass auch zu Hause ein Ort sein kann, an dem man gerne ist. Und als sie der Sehnsucht des Menschen begegneten, in Johnny Cash’ Hit Hurt („If I could start again ...“) oder den Gedichten der brasilianischen Autorin Alice Sant’Anna: „Gibt es etwas in unseren Tagen, das uns vor dem Nichts bewahrt?“

Das Buch ''Estrelas'' und die Zeitschrift ''O Troco''.

Die jungen Leute in Lissabon stellten nach und nach fest, dass es da tatsächlich etwas gibt. Sie machten sehr wertvolle Erfahrungen. Zum Beispiel, wie schön es ist, „mich mit den anderen zu teilen“, wie Maria sagt. Genau so drückt sie es aus: „mich teilen“. Nicht nur die Dinge mitteilen, die einem gefallen oder die man weiß, sondern sich selbst als ganzen Menschen. „In den vergangenen Wochen habe ich begonnen, kleine Kinder zu unterrichten“, berichtet Maria weiter. „Dabei habe ich gemerkt, dass es mir genau deswegen Freude macht, weil ich mich ganz hingebe. Das gleiche geschah mit Estrelas, oder jetzt mit der Zeitschrift. Ich habe Design studiert und kümmere mich um die Illustrationen und die Graphik. Das macht mich glücklich, weil so das, was ich in mir habe, nicht nur in mir bleibt.“ Wenn man es „teilt“, wird es mehr.
„Zur Vorbereitung auf die Treffen hat jeder von uns sich mit dem beschäftigt, was er vorschlagen wollte“, erzählt Constança. „Bei den gemeinsamen Abenden hat sich dieses Wissen dann vervielfacht. Es wurde bereichert durch das, was die anderen dazu beitrugen.“

Und noch etwas haben alle entdeckt: wie wichtig das Urteil ist. „Als sie mich zum ersten Mal gefragt haben, ob ich etwas vorschlagen wollte, hatte ich Angst“, erklärt Maria. „Denn das hat mich gezwungen, ein Urteil abzugeben: Was gefällt mir? Warum gefällt es mir? Und warum möchte ich es den anderen vorführen? Nur dadurch konnte ich schließlich die Dinge wirklich genießen. Und als ich merkte, dass dieses Beurteilen mein Leben nach und nach verändern kann, wurde mir klar, dass ich keinen Rückzieher machen darf. Jetzt wird auch ein Film, den wir in der Familie gemeinsam anschauen, beurteilt: Warum lohnt es sich, ihn anderen vorzuschlagen?“

Für Pedro kam der Vorschlag von Estrelas aus weiter Ferne. „Als es losging, war ich als Erasmus-Student in Bologna und schon länger im Lockdown. Ich hatte viele Zweifel und eine große Frage: Was will Gott von mir? Durch diese Initiative wurde mir klar, dass die Antwort nicht unbedingt etwas Großes sein musste (bei den Freunden von CL in Italien bleiben, das Leben in der Uni, die Caritativa), sondern auch kleine Dinge: ein Gedicht lesen, einen Film anschauen ... Auch darin ist Gott. Alles hängt davon ab, wie ich vor dem Geheimnis stehe.“

An einem der Abende stellte er das Gedicht „Nirvana“ von Charles Bukowski vor. „Ich studiere Ingenieurwesen. Das hat nichts mit Lyrik zu tun. Jemand fragte mich: ‚Wieso sprichst du über Literatur? Welche Befähigung hast du dazu?‘ Zuerst dachte ich, die Kritik sei berechtigt. Aber dann wurde mir bewusst, dass es hier nicht um meine Expertise über Bukowski geht, sondern darum, was seine Verse mit mir machen. Und das weiß ich genau. Auch ich brauche etwas, das für immer bleibt – wie der junge Mann in dem Gedicht.“ Der sitzt in einem Café in North Carolina, schaut aus dem Fenster, sieht den Schnee fallen, und möchte für immer dort bleiben. „Wenn man das liest, spürt man die Sehnsucht, die er in sich trägt. Bukowski spricht natürlich nicht von Christus, ganz und gar nicht. Aber dieses Etwas, das dem jungen Mann fehlt, lässt mich an Christus denken.“ Und das ist eigentlich die wertvollste Entdeckung: was das alles „mit den Sternen zu tun hat“. Die Verbindung zwischen dem einzelnen Augenblick und dem Ganzen. Die gibt einem neuen Atem. „Dem nachzugehen, was Carrón in seinem Brief geschrieben hat, mithilfe der Estrelas, hat mir geholfen, freier zu sein“, sagt Leonor. „Denn frei ist man, wenn das Herz ergriffen ist.“ So fühlt sie sich: agarrada, ergriffen.

Es ist beeindruckend, das aus dem Mund einer jungen Frau von 20 Jahren zu hören. Und diese radikale Schönheit, die das Herz ergreift, hat sich ausgebreitet über die Monate und viele andere erreicht, die sich auch den „Sternen“ angeschlossen haben. „Wie es genau kam, weiß ich nicht mehr. Nur dass ich nach dem ersten Treffen so glücklich war, dass ich es allen erzählen wollte“, erzählt Kika. „Das war etwas ganz Tolles, das ich nicht erwartet hatte.“ Der erste Vorschlag kam von Leonor: das Lied Terra firme von Benjamim, einem in Portugal sehr bekannten Liedermacher. Es spricht von Seeleuten, von einer Reise, die man unternimmt, weil man „irgendwo ankommen“ will, und von einem „sicheren Hafen“, der darin besteht, dass man „keine Angst hat“. „Wir haben sehr lange darüber diskutiert und wollten genau verstehen, was das bedeutet, was für ihn dieser sichere Hafen ist“, berichtet Leonor. „Am Schluss schlug ich vor: ‚Fragen wir ihn doch selbst!‘“ Nachdem sie die Kontaktdaten herausgefunden hatte, schrieb Leonor ihm und berichtete von dem Treffen. Mit einer Antwort hatte sie eher nicht gerechnet, schon gar nicht mit dieser: „Ich dachte selbst nicht einmal, dass in meinem Lied all diese Dinge enthalten sind. Ich wollte eigentlich nur über Flüchtlinge sprechen.“ „Wir sind noch in Kontakt“, sagt Leonor. „Jetzt habe ich ihm das Buch geschickt. Ich bin froh, weil ich einen Freund gefunden habe.“



Es wurden immer mehr Freunde, denn die Sache hat sich schnell herumgesprochen. Die Frische von Estrelas wirkt ansteckend. Teilweise kamen auch ältere Menschen dazu, vor allem aber Studienkollegen und Jugendliche. „Ich habe mehrere Freundinnen zu den Abenden eingeladen und ein paar auch gebeten, mir bei dem Podcast zu helfen“, erklärt Madalena. „Einmal hörte ich, wie eine zu jemand anderem sagte: ‚Diese Zeitschrift zu lesen, ist richtig entspannend. Weil ich da merke, dass ich nicht alleine vor den Rätseln des Lebens stehe.‘ Eine andere kam zu mir, nachdem sie O Troco gelesen hatte, und meinte: ‚Man merkt, dass da etwas passiert ist unter euch.‘ Ich fragte: ‚Und was denkst du?‘ ‚Ich bin dankbar‘, antwortete sie.“

Dankbarkeit. Das ist ein Zeichen dafür, dass man etwas Schönes erhalten hat, das man nicht selber gemacht hat. Man nimmt es an. Und indem man ja sagt, baut man auch daran mit. Diese Kreativität entsteht, wenn man etwas (oder jemandem) folgt. Die jungen Leute spüren das ganz genau. Als sie sich nach der Sommerpause wieder trafen, mitten in der zweiten Welle, wollten sie nicht mit Gewalt die Veranstaltungen wieder aufnehmen. „Wir haben uns überlegt, dass es vielleicht besser ist, nicht mit Estrelas weiterzumachen“, erklärt Leonor. „Das hätte bedeutet, an der Form des Ereignisses festzuhalten. Wir wollten uns lieber überraschen lassen.“

So ist O Troco entstanden – als Printausgabe, digital und dann der Podcast. Wenn man die Zeitschrift durchblättert, begegnet einem die gleiche Frische wie in den Gesichtern, die bei der Zoom-Konferenz auf dem Schirm erscheinen. Glückliche Gesichter, die einen an andere denken lassen, und an Begriffe wie Gewissheit, Vorschlag, Erziehung ... „Klar, die Veranstaltung für die Lehrer mit Carrón habe ich mir angeschaut“, sagt Constança. „Mir ist aufgefallen, dass sich da einige Leute voll ins Spiel gebracht haben bei der Diskussion. Man hat gemerkt, dass Erziehung für sie mehr ist als nur die Beziehung zwischen Lehrer und Schülern. An den Gesichtern einiger, die da gesprochen haben, konnte man ablesen, dass sie Söhne und Töchter sind. Sie folgen jemandem. Ich glaube, das hat sehr viel mit dem zu tun, was bei uns geschieht.“ Wieso? „Auch bei Estrelas geht es darum, sich selbst ins Spiel zu bringen. Nicht „individuell“, sondern als ein Ich das gemeinsam mit anderen die Erfahrungen, die es macht, überprüfen will. Herausfinden, wer es ist. Auch wir haben uns als Töchter und Söhne entdeckt.“