Der „Corona-Priester“
Ignacio Carbajosa hatte sich in der Hochphase der Pandemie bereiterklärt, als Priester in einem Madrider Krankenhaus zu arbeiten. Daraus ist ein beeindruckendes Tagebuch entstanden.„Was ich gesehen habe, hat in mir gerungen. Es hat mich verletzt. Und es hat in mir einen Dialog mit dem Geheimnis Gottes ausgelöst“. Was Ignacio Carbajosa hier beschreibt, merkt man auf jeder Seite des Büchleins. Wir erleben seine Veränderung mit und werden beim Lesen selbst verändert.
Wir alle kennen die Bilder, die das Leid und die Folgen der Pandemie darzustellen versuchen. Wenn wir das Buch lesen, schauen wir hinter diese Bilder. Wir sehen den Menschen, wie er ist, wie er sich vor der Wirklichkeit versteckt oder sich ihr aussetzt. Carbajosa schreibt: „Ich begegne von Angesicht zu Angesicht dem Geheimnis des Schmerzes, das in einem ‚Ich‘ Gestalt angenommen hat, das nach einem Sinn fragt und sich nach Trost sehnt.“
In diesem „Tagebuch eines Krankenhausseelsorgers“ liest man nicht nur über das Geschehen. Man läuft geradezu mit durch die Stationen. Man begegnet Carbajosa und durch ihn auch unmittelbar den Kranken und Sterbenden in ihrem Leid. Der Mann, der eingenässt hat und dem der Seelsorger die Krankensalbung bringt. Die Demente, die nur noch formelhaft die Gebete wiederholt, die sie einst gelernt hat, und der Priester, der an ihrer Seite diese Gebete vor Gott trägt.
Dieses Buch berührt, weil es uns mit der Wirklichkeit konfrontiert, wie sie ist. „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?“ Angesichts von Patricia, zu der Carbajosa diese Worte spricht bei der Krankensalbung, werden sie zum WORT schlechthin, zur Realität. Das Buch berührt uns, weil der Autor sich berühren lässt von der Realität des Leids. „Ich gehe in ihre Zimmer und betrachte. Ich lasse mich von dem anrühren, was ich sehe, ich lasse mich verletzen“.
Zu Recht wird der Einsatz und die Opferbereitschaft der Pflegenden, der Ärzte und des gesamten betreuenden Personals im Krankenhaus gelobt. Hier schreibt ein Seelsorger, der am gleichen Ort wirkt, aber keine Medikamente verabreicht, sondern durch seinen Blick, seine Worte und die Sakramente, die er spendet, „die Zärtlichkeit Christi“ bringt. Und wenn er die in ihren Betten fixierten Patienten auf das Kreuz verweist, das in diesem katholischen Krankenhaus in jedem Zimmer hängt, dann wird der am Kreuz angenagelte Jesus zur konkreten Begleitung für diese Menschen.
Carbajosa schreibt nicht nur über das Leben. Sein „Tagebuch“ wird zu einer Schule des Lebens, wenn er sagt: „Mich überrascht jetzt, was mir so natürlich erschien, seit ich im Krankenhaus arbeite: dass meine Beziehung zu jedem einzelnen Menschen hier auf der Schwäche basiert, die ihnen und mir ganz zu eigen ist. Sie begegnen mir halbnackt und zerbrechlich, ohne die gewohnten Zuflüchte und Schutzmechanismen. Unsere Beziehung ist hüllenlos. Es ist die echte Beziehung: Wie viele Hüllen müssen wir in unserem gewöhnlichen Leben ablegen, bevor wir auf diese echte Ebene gelangen!“
„Wir brauchen jemand, der uns anschaut und uns sagt, wer wir sind. Gerade in der Einsamkeit, wenn wir nichts wert zu sein scheinen“, reflektiert er angesichts eines von Kinderhand geschrieben Zettels für Eusebio. Wer bin ich denn? Ich bin du, der du mich hältst, darin liegt meine Würde. Was für eine Gnade, wenn andere mich so sehen, wenn ich immer mehr mein Bewusstsein verliere, wenn mich durch den Zettel eines Kindes solch ein Blick erreicht, zu dem ich selbst nicht mehr fähig bin. Ich habe selten eine schönere Beschreibung der Würde des menschlichen Lebens gelesen.
Ignacio Carbajosa, Der Corona-Priester. Tagebuch eines Krankenhausseelsorgers, fe-Medienverlag, Kißlegg 2021