Wagnis Familie

Die Familie ist Ort der Freiheit und der Weitergabe des Lebens. Sie stellt uns vor die radikale Alternative: Wollen wir Sicherheit oder Fruchtbarkeit? Ein Interview mit dem italienischen Philosophen Silvano Petrosino.
Giuseppe Frangi

„Gott hat diese menschliche ‚Erfindung‘ Familie so gefallen, dass er beschloss, sie für sich selbst zu nutzen. Er wurde ein Mensch und lebte in einer Familie.“ Silvano Petrosino ist Professor für Philosophie, Kommunikationstheorie und Religionsanthropologie an der Katholischen Universität in Mailand. Bei seinen Studenten ist er sehr beliebt, weil er die Fähigkeit besitzt, die großen Kategorien des Denkens auf das Leben des Einzelnen herunterzubrechen. Da wir mit ihm über Familie sprechen wollen, erwähnen wir der Vollständigkeit halber, dass er verheiratet ist, zwei Kinder hat und einen Enkel.

Der Satz über Gott und die Familie tauchte irgendwann in unserem Gespräch auf, und wir werden noch sehen, was für eine Bedeutung es hat, dass Gott ausgerechnet in dem kleinen Städtchen Nazareth am Rande der Welt Mensch geworden ist. Doch zunächst müssen wir uns mit der schwierigen Situation der Familien in der aktuellen Krise befassen, mit ihrer Erschöpfung und Zerbrechlichkeit.

Wie Sie immer sagen, lohnt es sich, aus der Geschichte zu schöpfen. Und heute ist die Familie, geschichtlich gesehen, sehr fragil geworden. Warum eigentlich?
Lassen Sie mich vorab eines klarstellen: Die Familie ist eine Institution, die dazu da ist, grundlegende Bedürfnisse zu befriedigen. Wir dürfen zum Beispiel ihre lebenserhaltende Funktion nicht übersehen. Der Mensch ist ein „Tier“, das sehr unreif geboren wird. Erst im vierten Lebensjahr erlangt er ein ausreichendes Maß an Autonomie. Zum Vergleich: Eine Gazelle kann schon unmittelbar nach der Geburt laufen. Wir hingegen brauchen sehr viel Pflege. Und die garantiert uns die Familie. Außerdem muss man bedenken, dass früher die Kindersterblichkeit sehr hoch war. Die Familie war daher der unverzichtbare Hort, der das neue Leben schützte und es so der menschlichen Spezies ermöglichte, sich auszubreiten. Aus dieser grundlegenden Funktion heraus hat die Familie dann weitere unverzichtbare Fähigkeiten entwickelt: Sie ist der Ort, an dem Beziehungen gepflegt werden, angefangen von den geschlechtsspezifischen zwischen Mann und Frau über die generationenübergreifenden zwischen Eltern und Kindern bis hin zu den Beziehungen zwischen verschiedenen Clans.
Im Übrigen ist die Familie kein geschlossener Organismus, sondern immer auch offen für Bündnisse durch Heiraten, zuweilen sogar mit dem Feind. Viele Jahrhunderte lang haben Menschen nicht aus Liebe geheiratet ... Kurz gesagt, ohne die Familie gäbe es keine menschliche Gesellschaft.

Silvano Petrosino, Professor der Kommunikationstheorie und Religiöse Anthropologie an der Katholischen Universität Mailand.

Und was ist heute anders?
Zum ersten Mal in der Geschichte kann der Mensch Leben erzeugen ohne eine Beziehung zwischen Mann und Frau. Kinder sind zu einem „Recht“ geworden. Wenn man Lust auf ein Kind hat, bekommt man auch eins. So kann die Familie ganz gut ersetzt werden durch Agenturen, die den Kinderwunsch erfüllen und die Elternteile auch bei allem, was folgt, unterstützen. Darüber hinaus ist in den Medien und in der Kultur die Ansicht verbreitet, es gäbe heute zu viele von uns und wir müssten weniger werden. Damit verliert auch die Aufgabe, den Fortbestand der menschlichen Spezies zu sichern, an Bedeutung. Ich muss dabei an die biblische Geschichte von Hagar denken, der ägyptischen Sklavin, mit der Abraham einen Sohn zeugte, um seinen Stamm zu erhalten, weil seine Frau Sarah unfruchtbar schien. Als die betagte Sarah dann Isaak zur Welt brachte, wurde Hagar weggejagt. Sie sollte mit ihrem Sohn Ismael in der Wüste sterben. An diesem Punkt greift Gott ein und rettet sie. Er erfüllt damit auch die Prophezeiung, dass Abraham „Vater einer Vielzahl von Völkern“ werden soll. Gott ist nicht rigide, er bewegt sich auch aus der Spur und eröffnet so neue Perspektiven ...

Sie haben von Gott gesprochen, der das Weinen Hagars hört. Ein Gott, der nicht durch spezielle Effekte Mensch wird, sondern in einer Familie in Nazareth Wohnung nimmt ...
Richtig. Denn wenn es stimmt, dass die Familie eine menschliche „Erfindung“ ist, dann muss sie Gott wohl sehr gefallen haben. Er hätte seine Zustimmung nicht deutlicher zum Ausdruck bringen können, als indem er beschloss: Genau dort komme ich zur Welt. Und indem er sich eine Familie aussucht, führt er einen neuen Faktor ein: den Begriff der Liebe, der seine Quintessenz dann in der Beziehung zwischen Josef und Maria findet. Allerdings hatte es dazu schon früher einen Präzedenzfall gegeben, nämlich Jakob, der Laban aus Liebe um die Hand Rahels gebeten hatte, obwohl eigentlich Lea die Erstgeborene war (vgl. Gen 29). Biblisch gesehen ist das perfekte Symbol für die Beziehung zwischen Mensch und Gott die zwischen Mann und Frau ...

Aber Liebe bedeutet auch Eros ...
Klar. Ich weise immer gerne darauf hin, dass Gott auch die Hormone geschaffen hat, durch die eine gegenseitige Attraktion ausgelöst wird. Aber wir müssen auch anerkennen, dass das eine Verheißung in sich birgt, die über die rein körperliche Anziehung hinausgeht und es möglich macht, dass die Liebe auch andere Formen annimmt. Wunderbar finde ich das Beispiel aus der Komödie Filumena Marturano von Eduardo De Filippo, in der die Titelheldin aus Liebe viel List und Täuschung anwendet, um Domenico Soriano zu überzeugen, sie zu heiraten, was ihr schließlich gelingt. Allerdings verrät sie ihm nie, welcher ihrer Söhne tatsächlich von ihm ist. „Kinder sind Kinder ... Sie sind alle gleich ...“, erklärt sie. Und er wird zum Vater aller.

Wenn einen das Virus trifft, während man allein ist, dann erschlägt es einen, dann ist es nur schrecklich. Wenn es einen aber trifft, während man in einer Beziehung steht, dann ist es zwar auch schrecklich, aber man kann sich vorstellen, dass man es übersteht.

In letzter Zeit ist das Unberechenbare in unser Leben eingebrochen. Ist eine Familie nur dann eine richtige Familie, wenn sie in der Lage ist, damit umzugehen?
So ist es. Allerdings ist heute eine Sicherheitsphilosophie vorherrschend. Zum besseren Verständnis benutze ich gerne die unterschiedlichen Begriffe „Haus“ und „Heim“. Das Haus ist ein Gebäude und muss Sicherheitsstandards genügen. Denn der Anspruch auf ein Leben in geordneten Strukturen ist absolut gerechtfertigt. Das „Haus“ muss also sicher sein. Aber für das „Heim“ kann man diesen Anspruch nicht erheben. Denn hier geht es um Beziehungen. Der Anspruch auf Ordnung und Sicherheit kann sogar ein Hindernis für die Entwicklung des Menschen sein. Dass man sich verliebt, zum Beispiel, kann man nicht durch technische Hilfsmittel herbeiführen. Das hängt von der Freiheit ab. Denn jede Beziehung birgt ein gewisses Risiko in sich. Das müssen wir akzeptieren. Was wollen wir denn eigentlich wirklich? Dass wir aus freien Stücken geliebt werden, auch wenn wir dafür ein Risiko eingehen müssen! Wenn man jemandem einen Heiratsantrag macht, muss man damit rechnen, dass er nein sagt. Dafür gibt es keine Rezepte, keinen Zaubertrank, der garantiert wirkt ...

Don Giussani geht noch einen Schritt weiter: Damit ein Mann und eine Frau Vater und Mutter werden können, braucht es „einen anderen Blick aufeinander“. Können Sie das nachvollziehen?
Ja. Ich möchte es einmal so erklären: Im Bereich des „Heims“ muss ich akzeptieren, dass der andere „anders“ ist. Ich muss anerkennen, dass er ein Geheimnis ist, dass er seine eigenen Träume hat, seine Verletzungen, sein Unbewusstes. Im Alltag zu Hause beschweren wir uns oft über Unordnung. Dabei ist das manchmal einfach die Ordnung des Anderen. Wir dürfen nicht mit Ansprüchen an den anderen herantreten. Zu akzeptieren, dass wir den anderen nicht vorausberechnen können, ist die einzige Voraussetzung für eine wahre Beziehung. Leider geschieht es oft, dass ich, wenn ich merke, dass der andere nicht meinen Erwartungen entspricht, versuche, ihn loszuwerden. Dabei ist es nicht der oder die andere, die versagt hat, sondern ich selbst. Weil ich mit dem Anspruch gekommen bin, dass er meine Erwartungen erfüllt. Dann ist mir Sicherheit wichtiger als Fruchtbarkeit.



Wie meinen Sie das?
Der Mensch ist ständig auf der Suche nach etwas Beständigem, Sicherem, auf das er sich stützten kann. Er meint, Wahrheit sei gleichbedeutend mit Sicherheit. Wie es zum Beispiel im Bereich der Naturwissenschaften ist: Dort ist Wahrheit etwas absolut Sicheres, Unanfechtbares, auf das man bauen kann. In Wirklichkeit ist der Mensch aber dazu bestimmt, etwas viel Tieferes zu erfahren: die Fruchtbarkeit. In der Bibel verspricht die Verheißung Gottes dem Menschen nie Sicherheit, sondern immer Fruchtbarkeit. „Ich werde dich zu einem großen Volk machen.“ Das Merkmal der Fruchtbarkeit ist, dass wir nicht Herr des Geschehens sind, sondern daran teilnehmen. Aber der Ausgang hängt nicht von uns allein ab, und schon gar nicht haben wir ihn in der Hand. Um auf unser Thema zurückzukommen: Wenn man sich innerhalb einer Beziehung fragt, was anzeigt, dass die Liebe echt ist, dann ist es die Fruchtbarkeit, die Früchte, die sie hervorbringt, in welcher Form auch immer.

Oft wird auf Werte verwiesen, die den Bestand der Familie schützen sollen. Was sagen Sie dazu?
Es besteht die Gefahr, dass die Werte selbst zu einem Zauberwort werden. Am Beginn einer Beziehung stehen nie Werte. Die setzen sich erst durch, wenn die Beziehung wahr ist und wirklich gelebt wird. Die katholische Welt ist da in eine Falle getappt, weil sie die Frage der Freiheit nicht hoch genug eingeschätzt hat. Sie hat vielmehr den Gehorsam an die erste Stelle gesetzt, der zuweilen in Unterwürfigkeit ausartet. Es gibt zwei Möglichkeiten, Gesetze zu missachten: entweder man ist ungehorsam, oder man beschränkt sich darauf, mechanisch zu gehorchen, nach dem Motto: „Ich mache immer und ausschließlich das, was du sagst.“ Jesus hat den Pharisäern im Bezug auf die heiligen Texte immer vorgeworfen: Ihr lest sie, aber ihr versteht sie nicht. Ihr wendet das Gesetz nur mechanisch an. Ihr denkt nicht mit und versucht nicht, seinen Sinn zu erfassen. Wenn man nicht darüber nachdenkt, kann man auch keinen wirklichen Respekt davor haben. Etymologisch gesehen bedeutet Respekt „zurückschauen“ (von lateinisch respicere). Man schaut die Werte also nicht wirklich an. Man versteht ihre Bedeutung nicht. Um auf die jüngste Erfahrung der Pandemie und das „Unvorhergesehene“ zurückzukommen, das sie in unser Leben gebracht hat: Wenn einen das Virus trifft, während man allein ist, dann erschlägt es einen, dann ist es nur schrecklich. Wenn es einen aber trifft, während man in einer Beziehung steht, dann ist es zwar auch schrecklich, aber man kann sich vorstellen, dass man es übersteht. Die Familie ist eine solche Beziehung, die gerade deshalb glaubwürdig bleibt, weil sie vor allem eine „Geschichte“ ist, mehr noch als eine Ansammlung von Werten.