11. September 2001. „Möge Gott die Welt retten“
Vor zwanzig Jahren wurde der Anschlag auf die Twin Towers verübt. Das hat die Welt grundlegend verändert. Wovon kann ein Neubeginn ausgehen? Die folgenden Gedanken von Don Giussani dazu sind seiner Biographie entnommen.Am frühen Morgen des 11. September 2001 entführte eine Gruppe islamistischer Selbstmordattentäter mehrere Flugzeuge, die sich im Luftraum über den Vereinigten Staaten befanden. Zwei von ihnen wurden in die Twin Towers im New Yorker Finanzdistrikt gelenkt. Fast 3.000 Menschen kamen ums Leben. Weitere Opfer forderte das Flugzeug, das in das Pentagon-Gebäude in Washington DC stürzte, und ein viertes stürzte in Pennsylvania ab. Zu den Anschlägen bekannte sich die von Osama Bin Laden gegründete islamisch-fundamentalistische Bewegung al-Qaida.
Sobald Don Giussani die Nachricht hörte – es war früher Nachmittag in Mailand – rief er Jonathan Fields, den Leiter der Gemeinschaft von CL in New York, an. Als erstes bat er ihn, für die Weltkirche und für diese schrecklichen Ereignisse zum heiligen Josef zu beten.
Während Giussani sprach, schrieb Fields seine Worte so gut er konnte ab und übermittelte sie sofort an alle Freunde der Bewegung, die in ganz Amerika verstreut lebten. Es sind gebrochene Sätze, Andeutungen von Gedanken, die dennoch die Sorge erahnen lassen, die Giussani zu seinem unverzüglichen Anruf bewegte: „Wir müssen uns unser Urteilsvermögen erhalten und alles mit dem vergleichen, was uns geschehen ist, besonders in diesem schwerwiegenden und wichtigen Augenblick... Wir müssen dieses Urteil zuallererst uns selbst gegenüber wiederholen. Dieser Augenblick ist mindestens so ernst wie die Zerstörung Jerusalems. Er liegt ganz im Geheimnis Gottes verborgen... Alles ist ein Zeichen... Beten wir zur Muttergottes... Die letzte Definition der Wirklichkeit ist, dass sie positiv ist und dass die Barmherzigkeit Gottes das großartigste Wort ist. Das ist sicher, wir müssen fest in der Hoffnung bleiben. Ich danke jedem einzelnen von euch, dass ihr da seid.“ In einer Abschrift dieses Anrufs aus Italien fordert Fields seine Freunde auf: „Bitte tut alles, um gemeinsam zur Messe oder zum Rosenkranz zu gehen.“
Johannes Paul II. brachte bei der Generalaudienz am Mittwoch, dem 12. September seine Trauer über die Tragödie zum Ausdruck, die Amerika heimgesucht hatte: „Gestern war ein finsterer Tag in der Geschichte der Menschheit, es ereignete sich ein schrecklicher Angriff auf die Würde des Menschen. [...] Das menschliche Herz hat Abgründe, die gelegentlich Pläne unerhörter Ruchlosigkeit hervorbringen können. Sie haben die Wucht, in wenigen Augenblicken das friedliche und schöpferische Leben eines Volkes zu zerstören. Wenn in solchen Momenten jedes Wort unangemessen scheint, kommt uns der Glaube zu Hilfe. Allein das Wort Christi kann uns eine Antwort auf die Fragen zu geben, die unser Gemüt quälen. Alle, die an Gott glauben, wissen, dass auch dann das Böse und der Tod nicht das letzte Wort haben, wenn die Mächte der Finsternis zu triumphieren scheinen.“
Giussani schickt ein Telegramm an den amerikanischen Präsidenten George W. Bush: Alle Mitglieder der katholischen Bewegung Comunione e Liberazione, so schreibt er, „stehen Ihnen in diesem für die ganze Nation und somit für alle Menschen schmerzlichen Augenblick nahe angesichts der tragischen Ereignisse in New York und Washington DC, die einen schrecklichen Anschlag auf die Menschenwürde darstellen.“ In seiner Botschaft an Bush greift Giussani die Worte des Papstes auf und bittet Gott „für Ihre Person und für Ihr Volk, auf dass Sie gemeinsam jene friedensstiftende Gerechtigkeit erlangen können, nach der es Sie dürstet und derer die die ganze Welt bedarf, denn die Vereinigten Staaten haben allen gegenüber einen geschichtlichen Auftrag“.
Das Titelblatt vom Septemberheft von Spuren ist der Tragödie in Amerika gewidmet. Giussani hat für diese Titelseite folgenden Satz diktiert: „Möge Gott die Welt retten. Wenn man all die Sünden der Welt vor Gott hinstellt, liegt es nahe zu sagen: ‚Wer kann bestehen? Keiner kann gerettet werden‘. Und doch stirbt Gott für eine solche Welt, Er wird Mensch und stirbt für die Menschen. Die Barmherzigkeit ist der eigentliche Sinn des Geheimnisses Gottes. Seine Barmherzigkeit ist eine Positivität, die Anmaßung und Verzweiflung überwindet“.
Das Editorial greift dann die ersten Überlegungen Giussanis auf, die er während eines Gesprächs mit einigen Verantwortlichen der Bewegung formuliert hatte: „Der Terroranschlag, der gegen Amerika verübt wurde, stellt in erster Linie eine schreckliche Überraschung dar. Die Symbole der Macht dieser Welt wurden zum Einsturz gebracht und rissen Tausende mit sich in den Tod. Es ist, als ob die Macht, die augenfälligste Zurschaustellung menschlicher Schaffenskraft, nichts vermöchte gegen eine andere Fähigkeit des Menschen, gegen seine Fähigkeit, zu zerstören und die Bemühungen der zivilisierten Gesellschaft zunichte zu machen.“ In dem Leitartikel heißt es weiter: „Die Menschen des Westens, die in ihrer Zerstreuung ihre eigene Zerbrechlichkeit, das Böse und die Sünde vergessen, die sie in sich tragen, sind beim Anblick dieser Fernsehbilder zutiefst bestürzt, die zeigen, wie ‚die anderen‘ ihre abscheulichen Vorhaben, die alle Vorstellung hinter sich lassen, in die Tat umsetzen. Tatsächlich ist alles, was menschlich ist, in ernsthafter Gefahr. Vor dieser Gefahr kann kein weltraumbasierter Schutzschirm uns schützen. Nicht aus technischen Gründen, sondern wegen des Giftes - die Christen nennen es ‚Erbsünde‘ -, wegen der Missgunst, die der Mensch gegen das Gute und gegen sich selbst in sich trägt“.
Weiter heißt es in dem Text: „Es ist schwierig gegen jemanden anzukämpfen, der keine Angst hat zu sterben, der geradezu Tod und Selbstzerstörung zu seiner Strategie der Selbstbehauptung macht. [...] Sie sind willens – obwohl lebendig – wie Tote herumzulaufen. Sie haben in sich jeden Geschmack an Existenz und Freiheit ausgelöscht. Sie sind vollkommen entfremdet. [...] Solch ein Mensch, mag er sich nun seinem Gott, oder schlimmer noch, anderen Menschen ergeben haben, hat keine Existenz, er ist ein Nichts, angefüllt mit Sprengstoff, das alles vernichtet, auf das es trifft.“. Die Bestürzung und der Schmerz über das Geschehene zwingen uns, „mit allen dem Menschen zur Verfügung stehenden Mitteln nach Gerechtigkeit zu streben, nicht jedoch in menschlicher Anmaßung, sondern indem sie dem Willen Gottes folgen, jenes Gottes, den der Papst angerufen hat. Viele sind ihm darin gefolgt und haben sich zum Gebet niedergekniet“.
Für Giussani ist die Betrachtung des Leidens der Welt mit seiner persönlichen Situation verbunden: In Anbetracht seines fortschreitenden Alters und seines Gesundheitszustandes sagte er seiner Krankengymnastin Jone in jenem tragischen September während einer Behandlung: „Gott lässt das Leiden zu, damit das Leben mehr Leben wird. Ein Leben ohne Leiden schrumpft und verschließt sich.“
Diese Gedanken Giussanis finden sich auch auf den Titelseiten der Zeitschrift Tracce im Oktober und November wieder, die direkt von ihm inspiriert sind. Das Titelbild vom Oktober trägt den Titel „Kreuz und Barmherzigkeit“ und zeigt ein Foto des Kreuzwegs 2001 auf der Brooklyn Bridge mit den Twin Towers im Hintergrund. Dabei steht folgender Satz von Giussani (aus einer Betrachtung über die schmerzhaften Geheimnisse des Rosenkranzes): „Um jenes Holz herum findet sich die Boshaftigkeit des Menschen ein, der dem Ruf des Unendlichen nicht nachkommt. Es finden sich die Verwüstungen ein, die dieses Verbrechen zur Folge hat. So zeigt sich im Tod des Gott-Menschen die Summe und das Sinnbild all jener Verbrechen. Denn die Welt befindet sich im Bösen. Doch zugleich findet sich auch die unwiderstehliche Macht Gottes ein, damit ausgerechten jene äußerste Verwüstung und jene äußerste Boshaftigkeit zu einem Werkzeug der Erlösung wird“. Das Titelbild vom November zeigt eine Fotomontage des Kraters von Ground Zero und von Johannes Paul II., der das Kreuz an seinem Hirtenstab umarmt. Der Titel lautet „Die unerbittliche Positivität der Wirklichkeit“. Ferner finden sich folgende Worte Giussanis: „Wenn andere vor dem Terrorismus nicht zurückscheuen, dann müssen wir zu einem Bewusstsein gelangen, das die extremen Konsequenzen jenes Lebens, das der Herr geschaffen hat, mitträgt. Das ist der Beitrag, den die Christen in das oft unverständliche Chaos der Welt hineintragen: Sie bejahen eine unerbittliche Positivität, aufgrund derer man im Leben immer wieder neu beginnen kann“.
Die Schlussworte beim Eröffnungstag von Comunione e Liberazione in Mailand am 22. September 2001 sind trotz der Sorge um die Ereignisse in der Welt von der Zuversicht geprägt, die Giussani aus einem Text des Propheten Jeremia schöpft: „Du bist doch in unsrer Mitte, Herr, und dein Name ist über uns ausgerufen. Verlass uns nicht!“. Er betont, dass dies das Ergebnis, „die Frucht, der wunderschöne Ertrag eines Bewusstseins ist, das sich während seines ganzen Lebens von der Gnade Gottes immer wieder aufgerichtet, immer wieder nach vorne gestoßen weiß.“