Das digitale Zeitalter und das Bedürfnis nach Kontakten
„Ist das Beharren der christlichen Tradition auf der Bedeutung des Fleisches für das Heil noch sinnvoll? Und wenn ja, warum?“ Ein Beitrag von Davide Prosperi in der italienischen Tageszeitung Corriere della Sera.Sehr geehrter Herr Direktor,
ein Motto, das Tertullian zugeschrieben wird, besagt, das Fleisch sei der Angelpunkt des Heils. Der Kirchenvater hat eine extrem wichtige Frage so sachlich formuliert, dass es uns, die wir fast unmerklich von der Moderne zur hyperdigitalen Postmoderne übergegangen sind, geradezu skandalös erscheint. Ist das Beharren der christlichen Tradition auf der Bedeutung des Fleisches für das Heil noch sinnvoll? Und wenn ja, warum?
Am Dreikönigstag, den wir gerade gefeiert, begegnen wir drei Gestalten, mit denen ich mich als Wissenschaftler immer gerne identifiziert habe: den drei Weisen, Männern der Wissenschaft, die die Natur erforschen und nach Wahrheiten suchen, die zur Lösung der Probleme des Lebens beitragen können. Während sie die Sterne beobachten, richten sie ihren Blick gleichzeitig auf die Erde. Ihr Weg endet vor einem Stall in Bethlehem, wo sie ein Kind anbeten. Man darf sich wohl mit Fug und Recht fragen, was an einem Kind so außergewöhnlich ist. Für Gläubige ist die Antwort nicht schwer: In diesem kleinen Kind, das den Blick seiner Mutter sucht und nach ihren Liebkosungen verlangt, zeigt sich die Liebe Gottes zu seinem Geschöpf, die sich nach Nähe, Intimität, gemeinsamen Leben sehnt. Das kommt für Christen in den ausgestreckten Armen des Jesuskindes zum Ausdruck, die sich der Mutter entgegenrecken.
Den Grund, warum im Christentum die Vermittlung durch „Fleisch und Blut“ so wichtig ist, kann jeder einsehen. Es hat damit zu tun, dass der Mensch Liebe erkennt und spürt durch die Sprache des Körpers. Mensch zu sein bedeutet, dass wir keine reinen Geister sind. Nichts kann das Fleisch, einen Blick, eine Umarmung, ein von Angesicht zu Angesicht gesprochenes Wort ersetzen. Gott hat uns nicht etwa telefonisch mitgeteilt, wer wir in seinen Augen sind.
Unabhängig von allen politischen und medizinischen Überlegungen ist es meines Erachtens wichtig, das Eigentliche nicht aus den Augen zu verlieren, was uns die Covid-Pandemie lehrt: Das Fleisch ist nicht nur der Angelpunkt des ewigen Heils. Es ist genauso wichtig für die irdische Gesundheit, in deren Definition auch die WHO das „geistige und soziale Wohlergehen“ mit einbezieht. Berichte in den Medien bezeugen das Tag für Tag. Lehrer berichten von den Problemen, mit denen junge Menschen konfrontiert sind, und wie sie dauerhaft unter den Folgen des Distanzunterrichts leiden. Soziale Isolation und psychische Leiden nehmen dramatisch zu. Die Forschung stellt fest, dass Home office ähnlich effizient ist wie die Arbeit im Büro. Aber den Folgen einer zunehmend entmaterialisierten und auch räumlich distanzierten Gesellschaft wird weniger Aufmerksamkeit geschenkt.
Diese Dynamik gab es schon lange vor der Pandemie. Schon vor einigen Jahren stellte der Leiter der amerikanischen Gesundheitsbehörde fest, die größte Bedrohung für die öffentliche Gesundheit sei nicht Krebs oder Diabetes, sondern die Einsamkeit. Studien der Wirtschaftswissenschaftler Anne Case und Angus Deaton über den „Tod aus Verzweiflung“ zeigen den Zusammenhang zwischen der niedrigeren Lebenserwartung bestimmter Bevölkerungsgruppen in den USA und der Abnahme sozialer Bindungen.
Wie oft haben wir in Anlehnung an die Worte von Papst Franziskus gesagt, niemand werde alleine erlöst. Nun da Impfstoffe die Sterblichkeit durch das Virus drastisch gesenkt haben und wir bemüht sind, uns eine neue „Normalität“ vorzustellen, möchte ich hinzufügen, dass auch niemand „aus der Ferne“ gerettet wird. Wir brauchen nach wie vor die körperliche Nähe zu anderen, um ganz wir selbst zu sein.
Ist Corona also einfach nur ein Unglück? Ich glaube, nein. Vielleicht brauchte es im Zeitalter des Internets und der „virtuellen Räume“, in die wir uns immer mehr zurückziehen, paradoxerweise etwas wie das Coronavirus, um uns wieder das Gefühl zu geben für die große Macht, die in unseren zerbrechlichen Händen, unseren unbedeutenden Gesichtern und bescheidenen Worten verborgen ist.
- Davide Prosperi, Corriere della Sera, 8 gennaio 2022 87 KBDavide Prosperi, Corriere della Sera, 8 gennaio 2022