Foto von Giovanni Gimmi Garbujo

Der Rhythmus des Geheimnisses

Auszug aus einem Dialog mit dem spanischen Theologen Javier Prades bei einem Seminar der Vereinigung „Famiglie per l’Accoglienza“.

Beitrag. Mein Mann und ich sind seit neun Jahren verheiratet und vor etwa sechs Jahren haben wir ein Adoptionsverfahren aufgenommen, aber bisher ohne Erfolg. Diese lange Zeit des Wartens war objektiv gesehen ein Gewinn. Sie war reich an Schmerz, Missverständnissen, Wut, und gleichzeitig an Gnade, neuen Entdeckungen, dem Aufblühen oder der Erneuerung von Freundschaften, die dazu geführt haben, dass sich einige Freunde dafür geöffnet haben, Pflegekinder aufzunehmen. Aber vor allem durften wir in dieser Zeit unsere eheliche Berufung vertiefen. Paradoxerweise war es eine fruchtbare Zeit, aber die Wahrnehmung eines Mangels und das Unverständnis bleiben, vor allem, wenn Ereignisse eintreten, bei denen ich mir die Frage stelle: „Warum bekommen andere Kinder und wir nicht?“

In letzter Zeit ist diese Frage akuter geworden, und vielleicht zum ersten Mal seit der Entdeckung, dass wir keine natürlichen Kinder bekommen können, ist sie wirklich grundlegend. Es geht um die Frage nach meiner Bestimmung und was ich heute zum Leben brauche: ein Kind? Oder ist dieser Mangel wesentlich umfassender? Die Erkenntnis, dass ein Kind nicht die Antwort ist, ist sehr offensichtlich, ebenso wie die Gewissheit, dass meine eheliche Berufung der privilegierte Ort ist, durch den meine Beziehung zu Jesus tiefer wird, ich würde sagen fleischlich, im Sinne eines Dialogs mit jemandem, der nie aufgehört hat, um mein Herz zu betteln.

Niemals habe ich die Frage Jesu, die ich Hunderte Male gehört habe, als so wesentlich für mein Leben empfunden wie in diesen Tagen, nachdem Giussani sie uns am Eröffnungstag erneut stellte: „Was nützt es  was nützt es, wenn du tun kannst, was dir einfällt, wenn du die ganze Welt gewinnst“, so sagt er, „und dann den Sinn deiner selbst verfehlst?“ ... „Um welchen Preis kann ein Mensch sein Leben zurückkaufen?“ Gleichzeitig bleiben der Wunsch und die Bereitschaft, Kinder und Jugendliche aufzunehmen, lebendig. Ich bin weder Lehrerin, noch habe ich jemals eine Vorliebe für Kinder oder Jugendliche gehabt. Aber ich sehe in meiner Beziehung zu meinen Neffen oder zu den Kindern der „Gralsritter“, dass sich die Freude am Zusammensein mit einer Sorge um ihre Bestimmung verbindet, gerade wenn ich sehe, wie verwirrt oder wütend sie sind – selbst wenn ich merke, dass sie sich um mich nicht scheren.

Die Tatsache, dass diese Form der Fruchtbarkeit unserer Ehe, zumindest aus meiner Sicht, derzeit verwehrt ist (und ich kann nicht ausschließen, dass sie uns ganz verwehrt wird), lässt mich nicht zur Ruhe kommen. Aus diesem Grund haben wir wieder Kontakt zum Jugendgericht und zu einer internationalen Adoptionsagentur aufgenommen. So wollen wir die beiden Wege, die wir eingeschlagen haben, wieder aufgreifen. Manchmal tauchen auch neue Hypothesen auf: ehrenamtliche Tätigkeit in erzieherischen Einrichtungen für Jugendliche oder jemanden in Pflege zu nehmen. Mal kam uns der Gedanke, in ein anderes Land zu gehen. Dies sind alles gangbare und sehr gute Optionen, aber manchmal scheinen sie doch nicht ganz zu passen: Wir haben den Eindruck, dass wir Gefahr laufen, ein „Loch zu stopfen“, anstatt unseren eigenen Weg zu gehen. Gleichzeitig möchte ich nicht dabei stehenbleiben und damit Gefahr laufen, zu resignieren oder vielleicht aus Vorurteilen heraus die Türen zu verschließen, wenn etwas auf uns zukommt.

Deshalb frage ich: Wie ist das Verhältnis zwischen jemanden Aufnehmen und der Wirklichkeit folgen – momentan auf andere Weise als ich es mir wünsche – und dem Bemühen, die eigene Hypothese zu überprüfen, ohne dass dies zu einem Anspruch, einer Strategie oder zum „Aktivismus“ wird, um ein Loch zu stopfen?


Javier Prades. Mir hat immer Julián Carróns Vorschlag geholfen, „sich dessen bewusst zu sein, was noch nicht gelöst ist, und nicht so zu tun, als sei das, was noch nicht gelöst ist, doch schon gelöst“. Es geht in der Tat darum, die Schwierigkeit, die Wunde nicht vorschnell zu verschließen, sie nicht zu verschließen, indem man so tut, als sei das Ungelöste schon gelöst. Denn das Geheimnis hat einen Rhythmus, und wir alle sind in gewisser Weise, in irgendeinem Augenblick, in irgendeiner Dimension des Lebens „ungelöst“. Nur im Paradies wird sich alles lösen. Nur dort wird es wirklich eine Entsprechung ohne Verwerfungen geben, nur dort wird uns das zuteil, was uns wirklich entspricht, das ewige Mehr.

Bis wir dort hinkommen, bleibt unser Leben dramatisch, auch durch diese ungelösten Situationen. So „ersparen“ wir, wenn ich das so sagen darf, dem Geheimnis nicht seinen Part. Wenn ich weiß, dass eine Situation nicht gelöst ist, lebe ich in der Erwartung und warte auf Gottes Handeln. Lassen wir Gott bei dieser Gleichung nicht weg! Heute ist die Frage noch nicht geklärt ... Lassen wir das Geheimnis sprechen! Bisher haben wir noch nicht gehört oder erkannt, wie dieser Wunsch sich erfüllen kann. Okay, das stimmt, lassen wir es erst einmal dabei. Aber warum sollte Gott es nicht morgen tun? Wie sah unsere, eure Erfahrung bisher aus? Gott offenbart sich, wann er will, nach einem Plan, gemäß einer Weisheit (so sagt der von Giussani so oft zitierte Miguel Mañara von Milosz), die Gott sei Dank nicht die unsere ist. Wenn wir also die Sache als solche ungelöst lassen und uns nicht anmaßen, sie selber zu lösen, weil wir vermeintlich schlauer wären und die Strategie ändern, dann erlaubt uns dies, meiner Meinung nach, das Wesen der Wirklichkeit zu achten, das heißt, die Struktur der Wirklichkeit, die Dialog mit dem Geheimnis ist und die nicht wir bestimmen.

Das Leben ist uns geschenkt, nicht nur weil wir zur Welt gekommen sind, sondern auch im Sinne der Vorsehung jetzt und hier. In der Liturgie gibt es ein Gebet, das wir, wenn wir es uns wirklich bewusst machen, nur schwer aufrichtig sprechen könnten: „Gott unser Vater, deine Vorsehung geht niemals fehl“ (Tagesgebet vom 9. Sonntag im Jahreskreis). Das sagen wir bei der Feier der Heiligen Messe. Jeder von uns würde wahrscheinlich eine Anmerkung hinzufügen und sagen: „fast nie“.

Der Glaube, der uns in der kirchlichen Liturgie verdeutlicht wird, besagt, dass die Vorsehung, und damit auch die zeitliche Abfolge der Ereignisse, Teil von Gottes unfehlbarem Plans ist. Lassen wir ihn sprechen, und „fordern“ wir ihn heraus mit der Bitte: Beeil dich! Komm, Herr Jesus! Das heißt: Antworte mir, lass mich die Zeichen sehen, die meiner Sehnsucht entsprechen, lass mich verstehen, was die wahre Natur meiner Sehnsucht nach Fruchtbarkeit ist, und nicht unbedingt die Vorstellung, mit der ich die Fruchtbarkeit identifiziere. Mein Erzbischof, der mich zum Priester geweiht hat, hat mir einmal gesagt: „Gott kann eine Sehnsucht wecken, die im Herzen lebendig bleibt, um andere Dimensionen des Lebens zu befruchten, auch wenn sie vielleicht nicht mit dem eigentlichen Gegenstand dieser Sehnsucht identisch sind.“ Ich habe diese Bemerkung nie vergessen. Denn oft trägt man einen Wunsch im Herzen und neigt dazu, ihn spontan mit dem Naheliegenden zu identifizieren. Aber vielleicht wird er nicht so erfüllt, wie ich es mir vorgestellt habe, sondern Gott „benutzt“ diese Sehnsucht auf geheimnisvolle Weise, um mich vielleicht auf ein unbekanntes Ziel hinzuweisen, was dann vielleicht in anderen Situationen oder für andere Initiativen eine Dynamik bei mir in Gang setzt und diese befruchtet.

Giussani hat öfters erzählt, es sei sein Herzenswunsch gewesen, Missionar zu werden. Ist er das geworden? Hat er in Brasilien gelebt oder in Afrika? Als bärtiger Missionar unter den Kindern? Nein. War er demnach kein Missionar? Jeder möge das selbst beantworten ... Die Vorsehung Gottes kommt ins Spiel in den Momenten, in denen das Geheimnis sich zeigt, und sie bewegt vielleicht etwas im Leben, das nicht unserer Vorstellung entspricht. Es ist sehr interessant, sich selbst im Handeln zu beobachten, in der Beziehung mit dem Geheimnis.