Krieg und Barmherzigkeit
Trotz des unterschiedlichen Hintergrunds möchten wir die Worte Don Giussanis über den Irak-Krieg (Corriere della sera, 8. April 2003) als Beitrag zur Beurteilung der aktuellen Situation in der Ukraine erneut vorschlagenSehr geehrter Herr Direktor,
das was angesichts des Bombardements und der Zerstörung in den Städten zur Wahrheit der Dinge zurückführt, ist meines Achtens der Gedanke an den Tod Jesu. Ich kann mir keine andere Erklärung geben als diese: Christus zu folgen, der am Kreuz stirbt; so wie er zu sein – das genügt.
Deshalb haben wir in Einfachheit dem Wunsch des Papstes nach Liebe und Frieden zugestimmt. Und wie er erkennen wir an, dass Friede und Liebe nicht aus einer Verurteilung der Kriegsbefürworter erwachsen, sondern aus dem ganzen Einsatz für die Erneuerung einer Erziehung, die die Anerkennung einer „Urschuld“ als Ursprung aller menschlichen Entscheidungen fördert. Im Namen Christi wird sie Erbsünde genannt.
Wir können kein Urteil fällen, das von einer rein psychologischen oder natürlichen Analyse und damit letztlich vom irrigen Verständnis der Macht ausgeht, das der Mentalität Saddams aber auch der von Busch entspringt. Ein Urteil ist mit dem Eingeständnis möglich, dass die Schuld mit Sicherheit auf der einen wie auf der anderen Seite liegt (und beide Seiten werden dies zu verantworten haben). Aber es ist ebenso offensichtlich, dass der Ursprung der Schuld weder beim einen noch beim anderen liegt. Die ursprüngliche Schuld und damit die Möglichkeit zu Schreckensherrschaft ist ein Gift, dessen Ursprung und Wohnstatt in einem Geheimnis liegt. Auf dieser für uns unergründlichen Ebene kommt die Barmherzigkeit Gottes zur Hilfe.
Das aber, worüber ich rede, betrifft nicht nur das Jenseits. Denn die Barmherzigkeit Gottes hilft bereits in der irdischen Existenz. Deshalb besteht bereits in dieser Welt die Möglichkeit des Friedens für die einen und der Verzweiflung für die anderen. Gott ist barmherzig, das Geheimnis ist eine Barmherzigkeit, die das Kreuz einschließt. Für die einen bedeutet das Kreuz die Züchtigung, Buße und Demut auf einem Weg des Friedens. Für die anderen ist es ein Geheimnis von grenzenloser Wut.
So ist im Horizont der Barmherzigkeit das Gesicht des amerikanischen Soldaten identisch mit dem Gesicht des irakischen Soldaten, der vor der Kanone steht, deren Granate ihn zerfetzen wird. Sie sind gleich, und stehen sich nicht mehr als Gegner einander gegenüber. Welches unergründliches Geheimnis! In der Barmherzigkeit verwirklicht sich der Vorsprung der Liebe, die bis zur Vergebung vordringt. Wenn man nicht bis zu diesem Punkt kommt, dann bleibt alles Lüge. Und selbst die Vernunft verfängt sich in Widersprüchen: man beschuldigt den anderen oder sich selbst bis zur völligen Verzweiflung.
Die Rettung ist durch die Nachfolge Christi geschenkt: Durch das Einfühlungsvermögen in sein Verständnis des Menschen und durch die Bitte um die Gnade, dass der Mensch in seiner Freiheit das tut, was Christus in seiner Freiheit getan hat: Die Hingabe der tödlichen Schwäche in die barmherzigen Hände Gottes, das heißt des Geheimnisses des Seins.
Man denke an die Psalmen oder an die prophetischen Worte der Bibel. Gott greift in den Weg des Volkes mit Prophezeiungen oder durch seine Autorität ein und sagt etwa: " Ich züchtige euch! Du wirst gezüchtigt, mein Volk!" Oder er bedient sich der Propheten, um zum Volk zu sprechen, das verängstigt ist, weil es unter der Last eines heidnischen Herrschers stöhnt. So spricht der Prophet Nehemia: "Macht euch keine Sorgen, denn die Freude am Herrn ist eure Stärke!". (Nehemia 8, 10) Er spricht von Gott, der das Gute, das Schöne und die Güte bringt, in denen das Volk die Energie findet, um alles zu beurteilen, was geschieht.
Damit kann das Volk, das eine schlimme und bedrängende Zeit durchlebt, ein Urteil über das fällen, was gerecht oder ungerecht ist. Und es ist dazu in dem Maße in der Lage, wie es erzogen worden ist: Wenn es erzogen wurde, wenn es also ein Weggeleit, eine Ausrichtung hat, dann kann es in der Nachfolge seiner Lehrer gegenüber geschichtlichen Evidenzen – dem, was geschichtlich klar ist – ja oder nein sagen. In diesen Zeiten besitzt der Papst hinreichende Gründe, um Nein zum Krieg zu sagen, auch wenn der Krieg von Menschen geführt wird, die genügend Gründe hätten, ihn zu führen. Wir sollen das im Auge behalten, was der Papst sagt, weil es von einer Person stammt, die dazu erzogen wurde, das Geschehene aus dem Blickwinkel des Gesetzes Gottes und des Gedächtnisses des Volkes zu betrachten. Johannes Paul II. sagte zunächst, dass es falsch sei, den Krieg zu führen – falsch, weil es keine angemessenen Gründe gibt. Dann fügte er hinzu: "Gott wird euch richten." Dies ist eine Art und Weise, jene zu warnen, die eine geschichtliche Verantwortung gegenüber der Zukunft übernommen haben (deshalb empfinden wir vor allem ein tiefes Mitleid mit dem, der die schreckliche Verantwortung für den Krieg übernommen hat).
Gewiss hätte meine Mutter niemals jene Gründe für einen Krieg angeführt, die seine Befürworter nun vortragen. Sie hätte sich aber ebenso wenig jenen angeschlossen, die dem Krieg aus einem entgegengesetzten politischen Kalkül widersprechen. Beim Blick auf die einen wie die anderen hätte meine Mutter gesagt: "Bitten wir den Herrn, damit er uns hilft." Und dieses Urteil hätte ihr Frieden geschenkt. Aber nicht auf Grund einer Gleichgültigkeit. Sondern aus dem Wissen heraus, dass Gott der Herr von allem ist und alles zu einem guten Ende führt – gleich wie schlimm der Augenblick der Geschichte sein mag.