Zerstörte Gebäude in Kiew (Foto: Daniel Ceng Shou-Yi/ANSA)

Ungerechtigkeit forderte ukrainischen Widerstand heraus

Der menschliche Faktor ist entscheidend und überrascht diejenigen, die nicht geglaubt haben, dass noch jemand bereit ist, für die Freiheit zu kämpfen. Ein Beitrag von Julián Carrón im Corriere della Sera vom 30.3.2022
Julián Carrón*

Sehr geehrter Herr Direktor,

welchen Eindruck machen doch die Bilder von Zivilisten, die im Angesicht russischer Panzer ukrainische Fahnen schwenken! Mehr noch als die Männer, die in einem natürlichen Impuls der Selbstverteidigung zur Waffe greifen. Welch ein Missverhältnis! Es ist viel über den laufenden Krieg geschrieben worden - „ein barbarischer und frevelhafter Akt“, wie Papst Franziskus ihn beim Angelus am Sonntag, den 27. März, nannte. Unterschiedliche und sogar gegensätzliche Auslegungen folgten aufeinander. Aber es gibt einen Umstand, der hervorsticht und mit dem sich alle diese unterschiedlichen Positionen früher oder später auseinandersetzen müssen. Nämlich der unerwartete Widerstand der ukrainischen Bevölkerung.

Abgesehen von einer Bewertung militärischer und strategischer Aspekte - zu denen ich mich aber nicht äußern kann –, drängt sich vor allem der menschliche Faktor auf. Das gilt vor allem für jene – zu denen wir vielleicht auch gehören –, die nie darauf gewettet hätten, dass es noch jemanden gibt, der sich für die Verteidigung der Freiheit einsetzen will. Mit ihrer Kühnheit bezeugen die Ukrainer uns allen ein Selbstbewusstsein, das uns sprachlos macht. Sie zeigen einen Hunger und Durst nach Gerechtigkeit und einen Wunsch nach Freiheit, die uns mit Staunen erfüllen.
So haben sie uns genötigt, uns der Unverkürzbarkeit des Ichs bewusst zu werden, ihres Ichs und unseres Ichs. Wir dachten, sie hätten sich wie so viele von uns vom Konsumismus einlullen lassen, oder von der Ansicht, dass es sich nicht lohnt, dem Drang nach Freiheit, den der Mensch im Herzen trägt, Raum zu geben. Wir wurden aber eines Besseren belehrt: In ihnen zeigt sich uns, jenseits aller Kommentare, dass das menschliche Herz nicht vor der Macht kapituliert.

Wie also lässt sich der Ursprung des hartnäckigen Widerstands der Ukrainer erklären, der uns so sehr erstaunt? Stets sind es Herausforderungen der Wirklichkeit, die den Menschen aufrütteln. Das hätten wir auch aus unseren Erfahrungen mit der Pandemie angesichts der drängenden Fragen lernen müssen, die die Ausbreitung von Covid in uns aufgeworfen hat. Das betrifft jeden von uns, unabhängig von Ideologie, Glaube oder sozialem Status.

Wenn wir also auf unsere eigenen Erfahrungen schauen, werden wir ohne Schwierigkeiten verstehen, was das Ich der Ukrainer angesichts der „gewalttätigen Aggression“, unter der sie leiden, geweckt hat. Nichts weckt unser Verlangen nach Gerechtigkeit mehr - gleich wie tief es auch schlummern mag - als die Erkenntnis, dass es mit Füßen getreten wird, besonders durch die „Bestialität des Krieges!“ (Papst Franziskus). Kein Diskurs, keine Strategie, keine Autosuggestion und keine Ethik kann das menschliche Ich mehr aufwecken als die kraftvolle Herausforderung, die von der Wirklichkeit selbst ausgeht. Massimo Recalcati hat dies sehr gut verstanden: Er wies auf einen Faktor hin, „der selbst der subtilsten geopolitischen Analyse entgehen kann“. Welchen Faktor meint er? Die „Kraft der Sehnsucht“, das heißt jener „zusätzliche Faktor, der über militärische Fähigkeiten und Strategien hinausgeht“. Genau diese Sehnsucht wird von der Macht allzu oft unterschätzt.

Vielleicht hat uns die Herausforderung des Krieges in der Ukraine nicht so sehr berührt wie Covid-Pandemie. Aber die Bilder der Zerstörung, die wir in Europa nach den beiden Weltkriegen endgültig hinter uns gelassen zu haben glaubten, haben uns zweifellos erschüttert. Wir kamen nicht umhin, diesen Schock zu verarbeiten. Dies zeigt sich in der Welle der Solidarität mit den Flüchtlingen, die in unseren Städten sichtbar wird. Ein Meer von Nächstenliebe, die uns mit Dankbarkeit erfüllt.

Aber was tun, um sich nicht verwirren zu lassen von der Vielzahl an Artikeln, Fernsehdebatten und Gesprächen, die täglich geführt werden? Ein methodischer Vorschlag kann uns helfen: Die Vernunft darf nicht ‚verabsolutiert‘, das heißt von der Wirklichkeit abgekoppelt werden. Sonst würden wir sie der Ideologie ausliefern. Gerade der Zusammenprall zwischen dem Menschen und der Wirklichkeit, lässt alle Bedürfnisse der Vernunft an die Oberfläche treten und verhindert so, dass die Vernunft den verschiedenen Verkürzungen erliegt. Journalisten wie Antonio Polito und Ezio Mauro, um nur zwei Beispiele zu nennen, haben dieses Verlangens nach Gerechtigkeit, bei denen, die Gewalt erleiden, berücksichtigt; das erlaubte es ihnen, einen verkürzten Gebrauch der Vernunft und eine Gleichbewertung des Ich und der Macht zu entlarven.

Wassili Grossman hat dies in seinem Buch ‚Leben und Schicksal‘ sehr treffend ausgedrückt: „Der Totalitarismus kommt ohne Gewalt nicht aus. Wenn er das täte, würde er untergehen. Ewige, ununterbrochene Gewalt, direkt oder verdeckt, ist die Grundlage seiner Macht. Der Mensch verzichtet nicht freiwillig auf seine Freiheit. Diese Schlussfolgerung enthält das Licht unserer Zeit, das Licht der Zukunft.“

Was beim Einmarsch Russlands in die Ukraine auf dem Spiel steht, ist ein Kampf, der jeden von uns betrifft. Wie können wir uns gegen den totalitären Anspruch der Macht wehren? Indem wir uns der Strategie bewusst sind, die die Macht anwendet. Don Giussani beschreibt sie folgendermaßen: „Ihr Hauptsystem, ihre Hauptmethode besteht darin, das menschliche Herz, die menschlichen Bedürfnisse, die Wünsche [...], den grenzenlosen Impuls, den das Herz hat, einzuschläfern, zu betäuben oder, besser noch, verkümmern zu lassen [...]. Und so wachsen Menschen heran – beschränkt, behindert, gefangen, halbtot, das heißt ohnmächtig.“ Aus diesem Grund – ich betone das – ist das einzige wirkliche Hindernis für die Macht die Sehnsucht und daher Begegnungen und Orte, die im Stande sind, diese Sehnsucht wieder zu wecken. Giussani fährt fort: „Die einzige Ressource, um der Zudringlichkeit der Macht Einhalt zu gebieten, liegt in jenem Gipfel des Kosmos, der das Ich ist, das heißt die Freiheit. [...] Das einzige Mittel, das uns bleibt, ist eine kraftvolle Wiederbelebung des christlichen Sinns für das menschliche Ich, für die Unverkürzbarkeit der Person“. Daher die Behauptung: „Wir haben keine Angst vor der Macht, wir haben Angst vor Menschen, die schlafen und deshalb der Macht erlauben, mit ihnen zu machen, was sie will“, denn „die Macht der Mächtigen wächst im Verhältnis zur Ohnmacht der anderen“, im Verhältnis zum Mangel an Bewusstsein des ‚Ichs‘.

Was ist nun das angemessene Objekt unserer Freiheit, das heißt der Fähigkeit zur vollkommenen Erfüllung? Was genügt der Sehnsucht, die uns aus der Tiefe unseres Ichs heraus antreibt? Nur das, was in der Lage ist, die Sehnsucht zu erfüllen. Alles andere, selbst die Einverleibung einer anderen Nation, ist „klein und unbedeutend für das Fassungsvermögen unserer Seele“, wie uns der Dichter Leopardi in Erinnerung ruft.

Nur ein Friede auf der Höhe des menschlichen Herzens kann wahrer und dauerhafter Friede sein, der Friede, den wir mit der ganzen Kirche am vergangenen Freitag erfleht haben. Nur Christus, nicht als bloßer Name oder als Lehre, sondern als gegenwärtiges Ereignis, ist auf der Höhe des menschlichen Herzens. Wie Papst Franziskus der Welt zuruft, ist es Christus, der lebendige Christus, der die „Quelle des wahren Friedens“ ist: für Russen, für Ukrainer und für uns.

*Professor für Theologie an der Katholischen Universität Mailand