Ukraine. Menschlich bleiben.
Elena Mazzola ist mit einer Gruppe von jungen Waisen aus Charkiw nach Italien geflohen. Eine von ihnen, Irka, hatte am meisten Angst davor, dass man ihr erklären würde: Es gibt doch keinen Gott.„Pater Aleksandr ist der junge Pfarrer einer orthodoxen Kirche in Cherson, der ersten ukrainischen Stadt, die von den Russen erobert wurde. Er ist ein Freund von mir. In den letzten Wochen haben wir fast jeden Tag miteinander telefoniert. Morgens postet er auf Facebook, um mir mitzuteilen, was er gerade erlebt. Aber wenn wir uns abends unterhalten, erzählt er mir von seinem Leid und seiner Angst.“ Wir treffen Elena Mazzola, Memor Domini und Präsidentin der ukrainischen NGO Emmaus im Val Seriana bei Bergamo. Dorthin ist sie geflohen, mit einigen ihrer Kollegen und den behinderten Waisen, um die sie sich seit fünf Jahren kümmert. Nach einer Odyssee von mehr als 50 Stunden kamen sie in Italien an. Bis zur slowakischen Grenze hatten auch Maxim, Aleksandr und Georgij sie begleitet. Aber volljährige Männer dürfen die Ukraine nicht verlassen. Daher wurden sie zurückgewiesen. Aleksandr ist der Ehemann von Anastasia, der Direktorin von Emmaus. Sie hat einen drei Monate alten Sohn, Matvei, den sie noch stillt. Georgij war gerade 18 geworden und daher nach Kriegsrecht alt genug, um zu kämpfen.
Elena berichtet: „Neulich sagte Pater Aleksandr mir: ‚Ich tue viel, um zu helfen. Aber innerlich kann ich nicht beten. Was für ein Priester bin ich? Ich habe den Vormittag damit verbracht, in der Stadt Klopapier und Binden zu kaufen ... Aber was hier fehlt, ist vor allem Brot.‘ Ich antwortete ihm: ‚Das ist eine Frage der Würde. Wir befinden uns zwar im Krieg, aber wir sind keine Tiere. Morgen schicke ich dir etwas Geld, und du kaufst Seife und Duschgel, und zwar die guten.‘ Er verstummte. Dann sagte er: ‚Der Lippenstift von Don Giussani!‘“ Es ist eigenartig, aus dem Mund eines orthodoxen Priesters in der Ukraine heute die bekannte Anekdote über den Gründer von CL zu hören. Zu den jungen Leuten, die sich darüber mokierten, dass eine arme Frau das Geld, das sie ihr gegeben hatte, für Lippenstift ausgegeben habe, sagte Giussani einmal: „Ihr habt nicht verstanden, was Teilen bedeutet, und ihr akzeptiert nicht, welche Bedürfnisse andere haben. Das Bedürfnis dieser Frau war in diesem Moment wohl, sich schön zu machen. Und nicht eure moralischen Vorstellungen.“
Aus der Erfahrung der Bewegung Comunione e Liberazione ist vor einiger Zeit in Charkiw die NGO Emmaus entstanden. Mit einer Caritativa in einem Waisenhaus hatte es angefangen. Nach und nach wurde daraus eine Organisation, die versucht, verwaisten und behinderten Kindern ein Zuhause zu geben. In der Nach-Sowjet-Ära hätten sie sonst ab ihrem 18. Geburtstag in einem Altenheim leben müssen. Elena, die zuvor an der Moskauer Akademie der Wissenschaften mit Tatjana Kasatkina zusammengearbeitet hatte, ist inzwischen überzeugt, dass ihre Berufung zur Jungfräulichkeit mit diesen jungen Menschen zu tun hat. „Das wurde mir klar, als Irka mir zum ersten Mal ihre Lebensgeschichte erzählte. Sie berichtete, die beiden Hebammen wären, als sie ihren entstellten Körper sahen, mit dem Arzt übereingekommen, sie für tot zu erklären und sie ihrer Mutter vorzuenthalten. Seit einiger Zeit hält sie daher ihren eigenen Totenschein in Händen. Jahre später war es ihr gelungen, ihre Mutter ausfindig zu machen. Doch kurz darauf wurde diese krank und starb. Man hielt es nicht einmal für nötig, Irka zu benachrichtigen. Nachdem ich diese Dinge gehört hatte, sagte ich ihr: ‚Irka, hat dir nie jemand gesagt, dass du schon immer gewollt und geliebt warst und dass du ein Geschenk bist?‘ An ihrer Reaktion merkte ich, dass sie so etwas noch nie gehört hatte. Da wurde mir klar, dass wir Christen etwas besitzen, was andere nicht haben: ‚Ich bin du, der du mich schaffst.‘ Das Selbstbewusstsein und die Gewissheit, dass wir gewollt und geliebt sind, ermöglicht es uns, das auch in jedem anderen zu sehen.“
Aber auch in dieser Hinsicht „lernt man nie aus“. Elena musste Einsamkeit und Verlassenheit erst am eigenen Leib erfahren. Ein paar Jahre nach der Eröffnung des Hauses der Memores in Charkiw war sie plötzlich als einzige übrig. „Ich fühlte mich abgehängt und fragte mich, was ich noch hier machte. Ich musste mir darüber klar werden, was es ist, was mich aufrechthält: eine perfekte Gemeinschaft oder ein Haus nach allen Regeln? Damals hörte ich Carrón sagen: ‚Wir sind in der Hand des Vaters, das merken wir doch immer wieder. Was fehlt uns denn noch zum Leben?‘ Und ich habe diese Erfahrung auch in all der Unsicherheit und fehlenden Ordnung gemacht, und inmitten der Pandemie.“
Aber Irka und die anderen Mädchen von Emmaus haben das Gefühl, dass man von allen verraten wird, so verinnerlicht, dass sie überzeugt sind, nichts könne von Dauer sein. Jede von ihnen ist ein Meer des Leids. „Sie haben Krieg bereits in anderer Form erlebt. Sie haben die totale Gewalt schon am eigenen Leib erfahren“, sagt Elena. So meinte Irina zum Beispiel im Januar, als sie schon überlegten, wie sie die Mädchen in Sicherheit bringen könnten: „Ich bin mir sicher, dass du zurück nach Italien gehst und uns hier zurücklässt.“ Doch so war es nicht. Elena und ihre Mitarbeiter haben alles getan, um diese jungen Leute, die die Schutzlosesten von allen in der Ukraine sind, zu beschützen. Als Putins Truppen mit der Besetzung begannen (und Charkiw war eines der ersten Ziele), waren die meisten der Waisen von Emmaus schon nicht mehr in der Stadt. Einige waren bereits in Italien, andere mit Elena in Lwiw.
Ein paar Tage, nachdem sie die Ukraine verlassen hatten, gestand Irka Elena: „Am meisten Angst hatte ich in den ersten Tagen des Krieges davor, dass du kommst und mir sagst: ‚Es gibt also doch keinen Gott.“ „Da wurde mir klar“, sagt Elena, „dass sie langsam die Gewissheit erlangt, geliebt zu sein, unabhängig von mir. Inmitten des Krieges hatte sie Angst, dass wir unseren Glauben verlieren könnten.“
Elena denkt oft daran, dass das, was es ihr und ihren Freunden und Mitarbeitern bei Emmaus erlaubt hat, in der völligen Ungewissheit vor dem Ausbruch des Krieges die Initiative zu ergreifen und ihre jungen Schützlinge rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, der liebevolle Blick war, der aus dem Glauben erwächst. „Das macht einen klüger, wenn es darum geht, die Fakten der Wirklichkeit zu verstehen. Besonnenheit und Realismus waren unsere Leitsterne. Auch zu einem Zeitpunkt, als eine russische Invasion noch das schlimmste und unwahrscheinlichste Szenario zu sein schien.“
Auf ihrem Telefon gehen in diesen Tagen Dutzende Nachrichten ukrainischer Bekannter ein, die sie um Hilfe bitten. Eine der ersten war von ihrer Haushaltshilfe aus Charkiw, die inzwischen auch bei ihr in Italien ist. Und Anastasia, die junge Mutter, sitzt, wenn sie nicht gerade stillen muss, ständig am Computer und organisiert Busse, die zur Grenze fahren, um Fliehende abzuholen.
Die Anrufe und Textnachrichten kommen auch von Leuten, die jemanden aufnehmen wollen. „In Italien ist es immer noch nicht leicht, den Ernst der Lage und das Trauma der Menschen zu erkennen. Die Hilfsbereitschaft, die ich hier sehe, ist wirklich beeindruckend, eine wahrhaft christliche Bereitschaft, Menschen aufzunehmen. Aber manchmal laufen wir auch Gefahr, dass das eine abstrakte Beziehung bleibt. Die Leute, die hier ankommen, sind alle ernsthaft traumatisiert, auch wenn man das nicht gleich sieht. Wir müssen auf die reale, konkrete Person schauen; die müssen wir sehen und hören. Der Papst würde sagen: Wir dürfen nicht uns selbst in den Mittelpunkt stellen. Wir sollten keine Angst haben, mit ihnen zu leiden und zu weinen. Meiner Meinung nach, lohnt es sich.“ Was wir dabei gewinnen, meint Elena, ist dass wir lernen, „ungeschuldet zu lieben, und das ist das einzige, was uns erfüllen kann. Dass wir lernen zu lieben, wie Christus liebt. Dann wird man klüger, erkennt mehr, wird menschlicher.“ Wieso menschlicher? „Für mich ist es in diesen Tagen wichtig, nicht so zu tun, als sei alles in Ordnung. Ich habe sehr schöne Dinge vor Augen: Die Menschen, die uns hier aufnehmen, die wirklich mit uns leben, sind ein Wunder im wahrsten Sinne des Wortes. Oder die drei Mädchen, die erst im Oktober letzten Jahres aus dem Waisenhaus zu Emmaus gekommen waren und nun hier sind: Sie hatten nie einen Fuß außerhalb des Waisenhauses gesetzt. Sie haben Charkiw zum ersten Mal gesehen mit uns ... Sie wussten nichts von der Welt. Und ich sehe, wie sie geliebt werden, dass sie ein Geschenk sind für uns und für die Welt, und frage mich: Warum ausgerechnet sie? Sie sind wirklich von Gott bevorzugt. Aber ich kann auch nicht verbergen, dass ich mich schlecht fühle. Die Gewalt, die uns angetan wird, ist für mich unerträglich. Wir mussten fliehen, ohne etwas mitnehmen zu können. Sie zerstören unsere Häuser. Viele Freunde und Bekannte leben unter dem Bombenhagel in Angst und Schrecken. Mein Freund Maxim hat seine Eltern und einen Sohn in Mariupol. Mehr als zehn Tage lang wusste er nicht, ob sie noch am Leben sind. Ich spüre eine heftige Rebellion und Wut in mir. Aber es ist auch eine Gelegenheit, meine Erfahrung mit Christus zu vertiefen. Er, der für mich am Kreuz gestorben ist. Ich möchte diesen Schmerz nutzen, um zu lernen, so zu lieben wie er, all diesen Schmerz zu tragen, wie er es tut. Denn das bringt etwas Neues in die Welt, etwas, das genauso real ist und gleichzeitig im Gegensatz steht zur Macht des Krieges. Daraus schließe ich, dass Jungfräulichkeit nicht nur bedeutet, ‚dass man liebt und umsonst gibt ...‘ Sondern dass sie auch daraus entsteht, dass man das ganze Drama und die Einsamkeit annimmt, meine und die der Menschen um mich herum. Und dass man immer wieder den annimmt, der auf dieses Drama antworten kann: Christus. Und ich sehe, dass einen das öffnet für ganz große Dinge.“