Memorial. Nobelpreis für die, die als Menschen leben wollen
„Das ist eine Anerkennung für die Zivilgesellschaft und den Wert der Person.“ Die italienische Historikerin Giovanna Parravicini, die lange Zeit mit MEMORIAL zusammengearbeitet hat, spricht über die Bedeutung dieses Friedensnobelpreises.Die Verleihung des Friedensnobelpreises an MEMORIAL International sowie an den Belarussen Ales Bjaljazki und das ukrainische Zentrum für bürgerliche Freiheiten hat in diesem dramatischen historischen Moment große Bedeutung für den Frieden. Sie ist eine Anerkennung für die Zivilgesellschaft und den Wert der Person, ihre Freiheit und Verantwortung. Sie ist ein Zeugnis dafür, dass zwischen Menschen guten Willens trotz aller Hindernisse und aller Gewalt immer ein „Wir“ möglich ist. „Menschen trotz allem“ – so lautete der Titel der Ausstellung, die MEMORIAL gemeinsam mit Russia Cristiana für das diesjährige Meeting in Rimini kuratiert hatte.
„Unser Maßstab ist der Mensch.“ So definierte Arseni Roginski, ein lieber Freund von mir und bedeutender Historiker, der zu den Gründern von MEMORIAL zählte und auf Andrei Sacharow (selbst Friedensnobelpreisträger 1975) als deren Präsident folgte, in Kurzform die Arbeit der Vereinigung. Während der langen Zeit, in der ich mit MEMORIAL zusammengearbeitet habe, hat mich immer wieder diese Aufmerksamkeit für die Person beeindruckt und die Bereitschaft, sich hinterfragen zu lassen, von jeder Situation und jedem Gesprächspartner. Eine menschliche Neugier, die die Mitarbeiter genauso ausstrahlten wie das umfangreiche Netz der Freiwilligen – eine Art großer Familie, bestehend aus Menschen aller Altersgruppen, die sich offensichtlich zu Hause fühlten, wenn sie für MEMORIAL arbeiten konnten, und es als ihr eigenes Werk empfanden. Viele von ihnen gelangten, trotz des säkularen Charakters der Organisation, schließlich zur Frage nach Gott und ließen sich davon berühren.
Ich erinnere mich zum Beispiel an das fast ungläubige Staunen, mit dem Roginski bei mir zu Hause die Texte von Joseph Ratzinger las, die in der russischen Ausgabe der Zeitschriften Nuova Europa und Tracce veröffentlicht wurden. Oder an seine Ergriffenheit, als er im Sprechzimmer der Nonnen auf dem Sacro Monte in Varese hörte, wie die Schwester, die nicht wusste, dass er unter den russischsprachigen Besuchern war, seinen Namen erwähnte als einen von denen, die aus Gewissensgründen inhaftiert seien und für die sie in den Jahren des Sowjetregimes im Kloster gebetet hätten. Das erzählte er, der Agnostiker war, immer wieder, auch noch kurz vor seinem Tod im Dezember 2017 einem befreundeten Wissenschaftler.
Eine ansteckende Offenheit für alles Menschliche. Ein Beweis dafür war die Ausstellung beim letzten Meeting in Rimini, die entstanden ist aus der Begeisterung einiger italienischer Studentinnen, die ein Praktikum in Moskau gemacht hatten, für die Arbeit von MEMORIAL. Angesichts dessen, was sie bei MEMORIAL gesehen und gehört hatten, fühlten sie sich so herausgefordert, dass sie das auch ihren Freunden in Italien nahebringen wollten.
Ohne diese menschliche Haltung wäre MEMORIAL heute wahrscheinlich nur eine von vielen Vereinigungen, die im Zuge der Perestroika entstanden und wieder verschwunden sind. Die großen Initiativen, die MEMORIAL im Laufe der Jahre angestoßen hat und die von einer klaren historischen und kulturellen Vision zeugen, wurden genährt von dieser menschlichen Gabe, sich nicht einfach an ein solches Leben zu „gewöhnen“, sondern sich im Gegenteil immer wieder Fragen zu stellen und einen Blick voll Aufmerksamkeit und Wertschätzung für den Menschen und die Wirklichkeit zu entwickeln.
Die Anfänge von MEMORIAL liegen in den späten 1980er-Jahren, als viele Menschen das Bedürfnis verspürten, die Vorkommnisse während der Jahrzehnte des Sowjetregimes, und insbesondere das Schicksal der zahllosen Opfer des Unterdrückungsapparates, aufzuklären. Dieses Bedürfnis erwuchs einerseits aus dem Bewusstsein, dass man so vielen verlorenen Leben Gerechtigkeit widerfahren lassen müsse, und andererseits aus dem Verantwortungsgefühl gegenüber der Gegenwart und der Zukunft des Landes. Die Initiatoren wollten dafür sorgen, dass sich die Schrecken der Vergangenheit nicht wiederholten. Und sie wollten das Erbe einer Menschlichkeit bekannt machen, die aus den Geschichten derjenigen aufschien, die, wie Grossman sagt, nie darauf verzichtet hatten, „sich als Menschen zu fühlen“, selbst unter unmenschlichen Bedingungen. Daraus ging der Vorschlag hervor, die Opfer tatsächlich zu rehabilitieren und ein Archiv, ein Museum sowie eine Bibliothek einzurichten, als Hilfen, um ein Urteil über die Vergangenheit fällen, Erinnerungsarbeit leisten und die wahren Ursachen der Katastrophe erforschen zu können, die über die in der Sowjetunion zusammengesperrten Völker hereingebrochen war. Und schließlich, um den „Faktor Mensch“ als Protagonisten der Geschichte zu stärken. Genau die Erinnerungsarbeit, deren Fehlen nicht unwesentlich zur tragischen Situation des derzeitigen Konfliktes beigetragen hat. 1993 entstand auch das „Memorial Human Rights Center“, das in Tschetschenien tätig war, Flüchtlinge und politische Gefangener unterstützt hat, und sich heute aktiv um Menschen kümmert, die aus der Ukraine nach Russland geflohen sind.
Im Laufe der Zeit hat MEMORIAL ein riesiges Dokumentationszentrum aufgebaut, ein Archiv und eine Datenbank mit den Opfern des Regimes (mehr als 3 Millionen Menschen). Außerdem haben sie den nationalen Schulwettbewerb „Der Mensch in der Geschichte des 20. Jahrhunderts“ ins Leben gerufen, die Initiative „Letzte Adresse“ (bei der Tafeln an Häusern angebracht werden, um öffentlich der Namen von Opfern der Repressionen zu gedenken), und noch vieles mehr.
Insbesondere am 30. Oktober, dem Tag der Opfer politischer Repression, versammeln sich seit mehreren Jahren auf Initiative von MEMORIAL Tausende im Zentrum Moskaus (und inzwischen auch in anderen Städten), um die Namen der Menschen zu verlesen, die der Repressionsapparat verschlungen hat. Jeder mit einem Zettel und einer Kerze in der Hand, stehen sie geduldig Schlange, um den Verschwundenen symbolisch eine Stimme und ein Gesicht zurückzugeben und um Vergebung zu bitten für das Böse, das geschehen ist.
Paradoxerweise erhält MEMORIAL den Friedensnobelpreis just zu einem Zeitpunkt, an dem sie in Russland verboten und ihre Existenz bedroht ist. Im vergangenen Dezember wurde die Vereinigung von der Moskauer Staatsanwaltschaft geschlossen. Und genau an dem Tag, als die Verleihung bekanntgegeben wurde, ordnete ein Gericht in Moskau die Beschlagnahmung ihrer Räumlichkeiten an. Doch wie Elena Žemkova, Geschäftsführerin von MEMORIAL, den jungen Leuten, die in Rimini durch die Ausstellung führten, sagte: „Jeder von euch, der MEMORIAL begegnet ist, hat es sich in gewisser Weise zu eigen gemacht, und MEMORIAL lebt in jedem von euch weiter.“
Von MEMORIAL wird das übrigbleiben und Frucht bringen, von dem jeder Einzelne den Wunsch und das Bedürfnis verspürt, es weiterleben zu lassen, durch seine Person, in seinem Umfeld, in der ganzen Gesellschaft.