Die Vorstellung der Neuausgabe des "Religiösen Sinns"  im Theater Dal Verme, Mailand, 2. Mai 2023 (Pino Franchino/Fraternità CL)

Neuausgabe des „Religiösen Sinns“

Am 2. Mai 2023 fand in Mailand eine Vorstellung der Neuausgabe des Religiösen Sinns von Don Giussani statt. Als Vorwort enthält das Buch einen Vortrag, den Papst Franziskus 1998 als Erzbischof von Buenos Aires darüber gehalten hat.
Jorge Mario Bergoglio

Am 2. Mai 2023 fand im Theater Dal Verme in Mailand eine Vorstellung der Neuausgabe von Don Giussanis Werk Il senso religioso statt. Die Veranstaltung wurde per Video an Dutzende Orte in aller Welt übertragen. Der Präsident der Fraternität von CL, Davide Prosperi, leitete den Abend ein. Dann fand ein Dialog über die Themen des Buches mit dem spanischen Theologen Javier Prades statt. Moderatorin war die italienische Journalistin Irene Elisei.
Wir veröffentlichen hier einen Vortrag, den Jorge Mario Bergoglio, damals Erzbischof von Buenos Aires, am 16. Oktober 1998 bei der Präsentation der spanischen Ausgabe des Buches in Buenos Aires gehalten hat. Er steht als Vorwort auch in der neuen deutschen Ausgabe von Giussanis
Der religiöse Sinn, die im EOS Verlag, Sankt Ottilien, erschienen ist.

Als ich den Vortrag, auf dem dieser Text basiert, anlässlich der Vorstellung der spanischen Ausgabe von Der religiöse Sinn hielt, war dies weder ein formaler Akt, noch etwas, was als einfache wissenschaftliche Neugierde gegenüber einem Werk erscheinen könnte, das sich auf die Darstellung unseres Glaubens konzentriert. Ich sah mich vor allem zu einem Akt der Dankbarkeit gegenüber Monsignore Giussani verpflichtet. Seit vielen Jahre haben seine Schriften mein Denken angeregt und mir geholfen zu beten. Sie haben mich gelehrt, ein besserer Christ zu sein, und mein Beitrag soll davon Zeugnis ablegen.
Monsignore Giussani ist eines jener unvorhersehbaren Geschenke, die der Herr unserer Kirche nach dem Konzil gemacht hat, indem er jenseits aller pastoralen Strukturen und Programme ein Aufblühen von Menschen und Bewegungen bewirkt hat, die in der Kirche Wunder eines neuen Lebens hervorbringen. Am 30. Mai 1998 traf sich Papst Johannes Paul II. öffentlich auf dem Petersplatz mit den neuen Gemeinschaften und kirchlichen Bewegungen. Es war ein objektiv transzendentes Ereignis. In besonderer Weise bat er vier Gründer von Bewegungen um ihr Zeugnis. Zu ihnen gehörte Monsignore Giussani, der 1954, dem Jahr, in dem er begann, an einer staatlichen Schule in Mailand Religion zu unterrichten, die Bewegung Comunione e Liberazione ins Leben rief. Sie ist heute in mehr als sechzig Ländern der Welt vertreten und der Papst schätzt sie sehr.
Der religiöse Sinn ist kein Buch, das ausschließlich für die Mitglieder der Bewegung bestimmt wäre, es ist auch nicht nur für Christen oder Gläubige gedacht. Es ist ein Buch für alle Menschen, die ihr Menschsein ernst nehmen. Ich wage zu behaupten, dass das Problem, mit dem wir uns heute am meisten auseinandersetzen müssen, nicht so sehr die Gottesfrage ist – die Existenz Gottes, die Gotteserkenntnis –, sondern die Frage nach dem Menschen, die Erkenntnis des Menschen und die Suche nach der Spur, die Gott im Menschen hinterlassen hat, damit dieser ihm begegnen kann.

Die neue Ausgabe von Der religiöse Sinn (Vorwort von Jorge Mario Bergoglio), EOS-Verlag 2023

Fides et ratio

Es war ein glücklicher Zufall, dass der Vortrag am Tag nach der Veröffentlichung der Enzyklika Fides et ratio von Johannes Paul II. gehalten wurde, die mit dieser dichten Betrachtung beginnt:
„Im Übrigen zeigt uns ein bloßer Blick auf die Geschichte des Altertums deutlich, dass in verschiedenen Gegenden der Erde, die von ganz unterschiedlichen Kulturen geprägt waren, zur selben Zeit dieselben Grundsatzfragen auftauchten, die den Gang des menschlichen Daseins kennzeichnen: Wer bin ich? Woher komme ich und wohin gehe ich? Warum gibt es das Böse? Was wird nach diesem Leben sein? Diese Fragen finden sich in Israels heiligen Schriften, sie tauchen aber auch in den Weden und ebenso in der Awesta auf; wir finden sie in den Schriften des Konfuzius und Lao-tse sowie in der Verkündigung der Tirthankara und bei Buddha. Sie zeigen sich auch in den Dichtungen des Homer und in den Tragödien von Euripides und Sophokles wie auch in den philosophischen Abhandlungen von Platon und Aristoteles. Es sind Fragen, die ihren gemeinsamen Ursprung in der Suche nach Sinn haben, die dem Menschen seit jeher auf der Seele brennt: von der Antwort auf diese Fragen hängt in der Tat die Richtung ab, die das Dasein prägen soll.“ (1)
Das Buch von Monsignore Giussani steht im Einklang mit der Enzyklika: Es wendet sich an alle Menschen, die ihr Menschsein ernst nehmen, die diese Fragen ernst nehmen. Paradoxerweise wird in Der religiöse Sinn wenig über Gott und viel über den Menschen gesagt. Es wird viel über unsere Fragen nach dem „Warum“ gesprochen, viel über unsere grundlegenden Bedürfnisse. Den protestantischen Theologen Niebuhr zitierend, erklärt Giussani, dass „nichts so unglaubwürdig ist wie die Antwort auf eine Frage, die sich nicht stellt“ .(2) Und eines der Probleme unserer Supermarkt-Kultur (die wohlfeile Angebote macht, um das Herz zu besänftigen) ist es, diesen Fragen des Herzens eine Stimme zu geben. Das ist die Herausforderung. Angesichts der Trägheit des Lebens, einer Ruhigstellung, die von dieser Supermarkt-Kultur (wenn auch in sehr unterschiedlichen Formen) günstig angeboten wird, besteht die Herausforderung darin, uns die wirklichen Fragen nach dem Sinn des Menschen, nach unserer Existenz zu stellen und eine Antwort auf sie zu finden. Wenn wir aber auf Fragen antworten wollen, die wir nicht zu beantworten wagen oder auf die wir nicht antworten können oder die zu formulieren wir nicht in der Lage sind, dann führen wir uns selbst ad absurdum.
Einem Menschen, der seine grundlegenden Fragen nach dem „Warum“ und die brennende Sehnsucht seines Herzens vergessen oder unterdrückt hat, scheint über Gott zu sprechen ein abstrakter, esoterischer Diskurs, oder eine Frömmigkeit, die keinerlei Einfluss auf das Leben hat. Man kann ihm nicht über Gott sprechen, bevor man die Asche weggeblasen hat, die die Glut dieser Grundfragen bedeckt. Der erste Schritt besteht darin, den Sinn für diese Fragen freizulegen, die verborgen, begraben, vielleicht schon halb tot sind, aber doch vorhanden.

Davide Prosperi leitete die Buchvorstellung im Theater Dal Verme in Mailand (Pino Franchino/Fraternità CL)

Die Unruhe des Herzens

Das Drama der heutigen Welt ist nicht nur das Ergebnis der Abwesenheit Gottes, sondern auch und vor allem der Abwesenheit des Menschen, des Verlustes seiner Physiognomie, seiner Bestimmung, seiner Identität, seiner Fähigkeit, die grundlegenden Bedürfnisse zu erklären, die in seinem Herzen schlummern. Die allgemeine Mentalität, und leider auch die vieler Christen, geht davon aus, dass zwischen Vernunft und Glaube ein unüberbrückbarer Gegensatz besteht. Der religiöse Sinn betont dagegen – und hierin liegt ein weiteres Paradoxon –, ernsthaftes Reden über Gott bedeute, die Vernunft zu preisen und zu verteidigen und ihren Wert sowie die richtige Methode für ihren Gebrauch zu entdecken. Nicht eine Vernunft, die als ein im Voraus festgelegtes Maß für die Wirklichkeit verstanden wird, sondern eine Vernunft, die offen ist für die Wirklichkeit in der Gesamtheit ihrer Faktoren und die von der Erfahrung ausgeht, von diesem ontologischen Fundament, das unser Herz in Unruhe versetzt. Man kann nicht zu ruhigen, satten Herzen über Gott sprechen, denn das wäre eine Antwort ohne Frage.
Die Vernunft, die die Erfahrung reflektiert, ist eine Vernunft, die als Beurteilungskriterium hat, alles mit dem Herzen zu vergleichen, aber mit dem Herzen im biblischen Sinne, das heißt mit der Gesamtheit der ursprünglichen Bedürfnisse, die jeder Mensch besitzt: das Bedürfnis nach Liebe, nach Glück, nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Das Herz ist der Kern unseres transzendenten Inneren, wo Wahrheit, Schönheit, Güte, die Einheit, die allem Sein Harmonie verleiht, ihre Wurzeln haben. In diesem Sinne verstehen wir die menschliche Vernunft. Nicht im Sinne des Rationalismus, jenes Rationalismus aus dem Labor, des Idealismus oder des Nominalismus (letzterer ist besonders in Mode), die vermeintlich alles können, die beanspruchen, die Wirklichkeit zu besitzen, indem sie den Namen, den Begriff oder die Rationalisierung der Dinge besitzen. Oder, wenn wir noch weiter gehen wollen, behaupten, die Wirklichkeit zu besitzen, indem sie eine Technik absolut beherrschen, die uns in dem Moment übersteigt, in dem wir sie anwenden, und so in eine Zivilisation abgleiten, die Guardini gerne als „die zweite Form der Unkultur“ bezeichnete.
Wir hingegen sprechen von einer Vernunft, die weder auf die mathematische, die naturwissenschaftliche oder die philosophische Methode reduziert wird noch sich in ihr erschöpft. Jede Methode ist nämlich dem jeweiligen Anwendungsbereich und speziellen Gegenstand angemessen.

Irene Elisei und Javier Prades während des Gesprächs über Don Giussanis Buch (Pino Franchino/Fraternità CL)

Existenzielle Gewissheit

Was die persönlichen Beziehungen betrifft, so ist die einzig angemessene Methode, um zu wahrer Erkenntnis zu gelangen, das Leben und das Zusammenleben, eine lebendige Gemeinschaft, die es einem durch vielfältige Erfahrungen und Zeichen ermöglicht, zu dem zu gelangen, was Giussani „moralische Gewissheit“ oder schöner noch „existenzielle Gewissheit“ (3) nennt. Dies ist die einzig angemessene Methode. Denn diese Gewissheit entsteht nicht im Kopf, sondern im Zusammenspiel aller Fähigkeiten des Menschen und besitzt alle Voraussetzungen, um gleichzeitig eine reale und rationale Gewissheit zu sein.
Der Glaube seinerseits ist eine besondere Anwendung genau dieser Methode der moralischen oder existenziellen Gewissheit, ein spezieller Fall von Vertrauen in andere, in Zeichen, in Anhaltspunkte, in Konvergenzen, in das Zeugnis anderer. Dennoch steht der Glaube nicht im Widerspruch zur Vernunft. Wie jeder eindeutig menschliche Akt ist der Glaube vernünftig, was nicht bedeutet, dass er auf eine reine Schlussfolgerung reduziert werden kann. Er ist vernünftig, aber – drücken wir es einmal so aus –, nicht nur „schlussfolgernd“.
Warum gibt es Schmerz, warum gibt es den Tod, das Böse? Warum ist das Leben lebenswert? Was ist der letzte Sinn der Wirklichkeit, der Existenz? Was für einen Sinn hat es zu arbeiten, zu lieben, sich einzusetzen in der Welt? Wer bin ich? Woher komme ich? Das sind die großen und elementaren Fragen, die sich ein junger Mensch stellt, aber auch ein Erwachsener, und zwar nicht nur Gläubige, sondern jeder Mensch, sei er Atheist oder Agnostiker. Früher oder später, vor allem in den Extremsituationen des Lebens, im Angesicht eines großen Schmerzes oder einer großen Liebe, bei der Erziehung der Kinder oder wenn man eine scheinbar sinnlose Arbeit macht, kommen solche Fragen unweigerlich an die Oberfläche. Es sind Fragen, die man nicht ausrotten kann. Ich sagte, dies sind Fragen, die sich auch ein Agnostiker stellt. In diesem Zusammenhang möchte ich, auch als Hommage, auf einen großen Dichter aus Buenos Aires verweisen, einen Agnostiker, Horacio Armani. Wer seine Gedichte liest, findet eine kluge Darstellung von Fragen, die auf eine Antwort warten.

Die Zuhörer im Theater Dal Verme am 2. Mai (Pino Franchino/Fraternità CL)

Umfassende Antwort

Der Mensch kann sich nicht mit verkürzten oder einseitigen Antworten zufriedengeben, die ihn zwingen, einen Aspekt der Wirklichkeit auszublenden oder zu vergessen. Dennoch tun wir das, und das bedeutet, dass wir vor uns selbst fliehen. Der Mensch braucht eine umfassende Antwort, die den gesamten Horizont seines Ichs und seiner Existenz umfasst und rettet. Er trägt eine Sehnsucht nach dem Unendlichen in sich, eine unendliche Traurigkeit, eine Nostalgie (den nostos algos des Odysseus), die nur durch eine ebenso unendliche Antwort befriedigt werden kann. Das menschliche Herz erweist sich als Zeichen eines Geheimnisses, das heißt, von etwas oder jemandem, der eine unendliche Antwort ist. Außerhalb des Geheimnisses findet das Verlangen nach Glück, nach Liebe und nach Gerechtigkeit niemals eine Antwort, die das Herz des Menschen vollkommen befriedigen könnte. Gäbe es diese Antwort nicht, wäre das Leben ein absurdes Sehnen.
Nicht nur das menschliche Herz, sondern auch die gesamte Wirklichkeit stellt sich als Zeichen dar. Das Zeichen ist etwas Konkretes, es zeigt eine Richtung an, etwas, das man sehen kann, das einen Sinn offenbart, das man erfahren kann, das aber auf eine andere Wirklichkeit verweist, die man nicht sehen kann. Andernfalls wäre das Zeichen sinnlos.
Sich angesichts der Zeichen Fragen zu stellen, erfordert hingegen eine zutiefst menschliche Fähigkeit, die erste, die wir als Männer und Frauen haben: das Staunen, die Fähigkeit zu staunen, wie Giussani es nennt, letztlich das Herz eines Kindes. Das Prinzip aller Philosophie ist das Staunen, und nur das Staunen führt zur Erkenntnis. Und wenn diese Fähigkeit zu staunen nachlässt, zunichte gemacht wird oder stirbt, kann man feststellen, dass moralischer und kultureller Verfall einsetzt. Kulturelles Opium neigt dazu, diese Fähigkeit zu staunen aufzuheben, zu schwächen oder abzutöten. Papst Johannes Paul I. hat einmal gesagt, das Drama des heutigen Christentums bestehe darin, dass es Kategorien und Normen an die Stelle des Staunens setze. Das Staunen kommt noch vor allen Kategorien. Es ist das, was mich dazu bringt, zu suchen, mich zu öffnen. Es ermöglicht mir, eine Antwort zu erhalten, die weder verbal noch begrifflich ist. Denn wenn das Staunen mich öffnet als Frage, dann ist die einzige Antwort eine Begegnung. Und nur in einer Begegnung wird mein Durst gestillt. Durch nichts anderes.

FUSSNOTEN
(1) Johannes Paul II., Enzyklika Fides et ratio, 1.
(2) Vgl. R. Niebuhr, Glaube und Geschichte, Müller, München 1951, S. 13.
(3) L. Giussani, Der religiöse Sinn, EOS-Verlag 2023, S. 36.