Rose Busingye inmitten der Frauen vom Meeting Point in Kampala, Uganda (Foto Paolo Perego)

Direkt auf das Leben eingehen

Eine Geschichtsstunde, die zu einem Dialog über Abtreibung wird. Der nicht mit dem Klingeln endet, sondern sich bis zum Videogespräch mit Rose Busingye vom Meeting Point in Kampala fortsetzt. Und sogar darüber hinaus

Eine Stunde üblicher Geschichtsunterricht in einer überwiegend weiblichen Schulklasse. Ich komme rein und... „Herr Lehrer, sind Sie für oder gegen die Abtreibung? Wir sind alle dafür. Wir wollen Ihren Standpunkt wissen.“ Mit dieser Herausforderung empfängt mich eine zweite Klasse des Gymnasiums, in dem ich unterrichte, und überrascht mich; eine Hamlet-Frage stellt sich mir: „Soll ich wie üblich unterrichten und ihre Frage umgehen oder soll ich sie beantworten, indem ich die Mädchen ernst nehme?“ Ich muss mich entscheiden. Ich gehe das Risiko ein, ich antworte. Die Argumente, die ich vorbringe, sind in unserer zweitausendjährigen Geschichte verwurzelt: Liebe und Verantwortung für ein unschuldiges Geschöpf; der Wert eines Lebens, auch wenn es infolge von Gewalt geboren ist. Ich informiere sie über die Existenz von Vereinen, die Mütter begleiten, indem sie sich während der Schwangerschaft und der Geburt um sie kümmern und das ungeborene Kind einer Familie anvertrauen, die es adoptiert.

Dann frage ich: „Habt ihr schon einmal einen Menschen gekannt, der trotz des Leids und der Schmerzen einer Mutter geboren wurde, die vergewaltigt oder missbraucht wurde oder etwas Ähnliches?“ In der ersten Reihe hebt Emilia (die Namen sind fiktiv, Anm. d. Red.) die Hand, die fleißigste der Klasse und eine der radikalsten Abtreibungsbefürworterinnen: „Ich, Herr Lehrer. Meine Großmutter wurde als Mädchen verführt und verlassen, aber sie wollte unbedingt meinen Vater zur Welt bringen.“ Stille. Aufmerksamkeit. Nachdenklichkeit, als ich anmerke: „Wenn deine Großmutter dieses Geschöpf nicht geliebt hätte, wärst du jetzt nicht hier und weder ich noch deine Freunde hätten jemals die Gnade gehabt, dich kennenzulernen. Du bist hier, weil deine Großmutter aus Liebe und Verantwortung gehandelt hat.“

Während ich spreche, bemerke ich, dass sich viele Schülerinnen Notizen machen. Eine Stunde intensiven Dialogs vergeht wie im Flug. Er hätte zu einem Streit führen können, aber stattdessen entwickelte sich ein Gespräch voller gegenseitiger Wertschätzung.

Dennoch überkommt mich ein Unbehagen. Es reicht nicht aus, dass ich ihre Aufmerksamkeit auf unterschiedliche Herangehensweisen an das Thema ‚Leben‘ gelenkt habe. Das Bedürfnis, dass die Mädchen konkret sehen, worüber ich gesprochen habe, wird in mir immer dringender. Dass sie die Früchte dieser zweitausend Jahre christlicher Geschichte durch frauen- und kindernahe Werke sehen können. Ich öffne die Homepage von CL und durchsuche einige Ausgaben von Spuren, in der Hoffnung etwas zu finden, das ich im Unterricht zeigen kann. Während ich noch lese, fällt mir Rose mit ihren Frauen und das Meeting Point International ein. Das ist es, wonach ich suche: ein Zeugnis vom fleischgewordenen Christus heute. Ein Werk, das bezeugt, dass Christus kein Märchen ist, sondern eine lebendige Realität. Ich durchstöbere das Internet und entdecke einige Videointerviews mit Rose mit dem Titel „Der Wert der Person“; ich lade sie herunter und beschließe, sie im Sozialkunde-Unterricht zu zeigen. Ich widme diesen Videos einige Unterrichtsstunden und im Klassenzimmer herrscht eine seltsame Stille. Wieder einmal schauen sie zu, hören zu und machen sich Notizen. Am Ende der Vorführung überhäufen mich die Mädchen und Jungen mit Fragen, auf die ich versuche, erste, aber doch unvollständige Antworten zu geben. Ich habe das Gefühl, dass ich ihrem Wunsch mehr zu erfahren, die Sache zu vertiefen und sich dessen bewusst zu machen, was wir gesehen haben, nicht gerecht werde. Also frage ich: „Würdet ihr gerne eure Fragen direkt an Rose stellen?“ Die Antwort ist einhellig: „Na klar!“.

Ich bekomme die Erlaubnis des Schulleiters und des Klassenrats dafür, setze mich über meine Freunde von Avsi mit Rose in Verbindung und wir vereinbaren eine Videoverbindung. Der wichtige Tag kommt und Roses lächelndes Gesicht erscheint auf der elektronischen Tafel. Sie startet einen Dialog mit den Mädchen: Wir sprechen über Glück, Mühe, Schmerz, Verlassenheit und die Aufnahme von Kindern, vom Ursprung ihrer eigenen Geschichte und die des Meeting Points.

Rose beantwortet alle Fragen, erzählt von ihrer Freundschaft mit Don Giussani und wie sie daraus gelernt hat, auf die Frauen zu schauen, mit denen sie den Meeting Point gegründet hat. Sie spricht von ihrer Erfahrung bei den Memores Domini mit absoluter Freiheit; sie spricht von der Zugehörigkeit zu Christus. In dem Dialog taucht ein Aspekt auf, der mir auffällt: Rose antwortet auf eine direkte und außerordentlich intime Art und Weise jedem einzelnen Mädchen, das ihr eine Frage stellt. Jede ihrer Antworten steht im Zusammenhang mit dem wirklichen Leben jeder einzelnen von ihnen, bis in die Tiefen ihrer Herzen, als ob sie sie schon ihr ganzes Leben lang kennen würde.

An einem Punkt stellt Rebecca, das am meisten ideologisch denkende Mädchen der Klasse, die Frage nach der Abtreibung. Rose erwidert nicht mit einer perfekten Argumentation, sondern schweigt einen Moment und antwortet dann: „Rebecca, wenn du wüsstest, dass du ein Baby im Bauch hast, das genauso schön lächelt und genauso schöne Augen hat wie du, würdest du es dann abtreiben lassen?“ Stille. Überraschung. Meine auch. Sie liefert keine gesellschaftspolitischen Argumente. Sie geht direkt auf das Leben ein. Sie fährt fort: „Weißt du, Rebecca, du bist als Mädchen einzigartig und einmalig, weil Gott dich so gewollt und geliebt hat, wie du bist. Auch das Kind, das du in deinem Bauch tragen würdest und das dein Gesicht, dein Lächeln und deine Augen haben würde, hätte einen einmaligen Wert.“

Rebecca mustert mich mit ihrem Blick, als wolle sie sagen: „Aber so eine Sache habe ich nicht erwartet.“ Sie ist nicht in der Lage, einen Einwand zu äußern; sie denkt nach und bedankt sich. Eine Stunde ist buchstäblich wie im Flug vergangen. Rose drückte ihre Bereitschaft aus, die Mädchen wiederzusehen. Und mit ihrem Lächeln grüßte sie uns alle mit einem „bis zum nächsten Mal“.

Seitdem ist der Blick, mit dem die Mädchen auf mich schauen, wie eine Umarmung voller Wertschätzung, Zuneigung und Dankbarkeit, die zu einer Einladung zu ihren Volleyballspielen, zu einem Spaziergang in den Bergen bis zum Anvertrauen von Sorgen und Freuden ihres Alltags geworden ist, denn sie sagen: „‘Prof‘, wir haben in Sie Vertrauen.“
Sergio, Mailand