Der Schrei in jedem Zimmer
Die Palliativmedizinerin Anna Brizio macht jeden Tag einzigartige Erfahrungen mit Kranken und Sterbenden. Am Ende, sagt sie, „kommt bei den Kranken immer das Bedürfnis nach Sinn heraus“.„Giovanni, haben Sie Angst?“ Anna weiß nicht, wie sie auf diese Frage gekommen ist, angesichts dieses Patienten, der an Covid starb. „Ich war ganz vermummt, konnte fast nichts sehen ... Ich konnte nichts tun, als seine Hand zu halten. Es war das Einzige, was mir in diesem Moment eingefallen ist. Eine Sekunde später hätte ich im Boden versinken wollen.“ Aber die Antwort dieses alten Mannes, mit dem sie in den Tagen zuvor über Fotos und Sterne gesprochen hatte, wird Anna nie vergessen: „Ich habe keine Angst. Ich fühle mich wie früher, als ich ein Kind war.“ „Inwiefern?“ „Ich brauche es, getröstet zu werden.“ Eine Stunde später ist Giovanni gestorben. „Aber das letzte, was er aussprach, war eine Abhängigkeit. Es ist nicht wahr, dass wir Menschen autonom sind, dass wir alles alleine schaffen, nicht einmal in einem solchen Moment. Wir sind Beziehung. Und wir brauchen jemanden, der bei uns ist und sich um uns kümmert.“
Anna Brizio ist 48 Jahre alt, verheiratet, hat vier Kinder und arbeitet als Palliativmedizinerin am Luigi Sacco-Krankenhaus in Mailand. Damit tut sie genau das: Sie kümmert sich um Menschen, und zwar um Menschen, die bald sterben werden. Dazu geht sie in ihre Wohnungen, wo sie jedes Mal in eine andere Welt eintritt, und doch oft Ähnliches erlebt. Dort, in diesen Wohnungen und Häusern, spielt sich das eigentliche Drama um das „Ende des Lebens“ ab, nicht in den Zeitungen oder in Talkshows. Und dort ereignet sich immer wieder etwas, das mehr erklärt als tausend Reden, „eklatante Erfahrungen, die von ganz alleine Antworten geben auf jedwede ideologische Position zu Sterbehilfe und Tod“, sagt Anna.
Zu dieser Arbeit ist sie auf einem ganz eigenen Weg gekommen: Nach dem Abitur arbeitete sie ein Jahr als Schulbegleiterin für ein autistisches Kind. („Da begann ich zu verstehen, dass diese Krankheit Kennzeichen hat, die man bis zum letzten Chromosom studieren kann – und dass mich das interessiert.“) Dann studierte sie Medizin. Auf die Idee war sie gekommen, als ihr Philosophielehrer zu ihr sagte: „Meiner Meinung nach kannst du zwei Dinge tun: entweder Lehrer werden oder dich um andere kümmern.“ Anna entschied sich für Letzteres und wurde schließlich Hämatologin. Das ließ in ihr eine Frage entstehen: „Ich hatte viel mit Leukämie zu tun und mit Menschen, die bald darauf starben. Irgendwann wurde mir klar, dass wir viel tun für Kranke, die geheilt werden können: wir behandeln sie, stehen ihnen bei, überlegen einen Therapieplan. Aber sobald klar ist, dass keine Heilung möglich ist, scheinen sie von unserem Schirm zu verschwinden. Da gibt es nichts oder fast nichts mehr, was die Medizin für sie tun kann.“ Und das in einem Moment, in dem sie es mehr brauchen denn je. So begann Anna zu begreifen, dass „jedes Stadium einer Erkrankung seine Zeit hat und eine je eigene Antwort erfordert. Auch das letzte Stück Weges.“
Als sich 2015 die Gelegenheit bot, sich mit diesem letzten Abschnitt zu beschäftigen, griff sie zu. Seitdem trifft sie, gemeinsam mit ihren Weggefährten – denn in der häuslichen Palliativpflege arbeitet man als Team „und ich lerne sehr viel von den Krankenschwestern oder den Sozialarbeitern“ – immer wieder auf Geschichten, die meist zwischen den vier Wänden eines Zimmers verborgen bleiben, aber viel Licht ins Dunkel bringen können.
Anna nennt als Beispiel den Mann, „dessen Frau seit ihrem 45. Lebensjahr an Alzheimer erkrankt war und die er fünfzehn Jahre lang pflegte, bevor sie starb. Am Anfang war es auch für mich schwer. Ich musste versuchen, mit der Frau durch Blicke und Streicheln zu kommunizieren. Doch später genügte mir ein Händedruck, um zu erkennen, wie es ihr ging. Dieser Mann, der sie auf Händen trug, war extrem beeindruckend. Wenn man in ihr Haus kam, sah man gleich die wahre Liebe, die einzigartige Harmonie zwischen den beiden.“ Oder der junge Mann in einem Viertel an der Peripherie von Mailand, drogenabhängig und psychisch krank, „mit einem Tumor an der Zunge, der ihm den Gaumen angefressen hatte. Seine Wohnung war sehr schmutzig und es fiel uns anfangs schwer, dort hinzugehen. Aber wir fanden schnell einen Draht zu ihm und haben ihn dann zwei Jahre lang begleitet. Am Ende hatte er sein Badezimmer renovieren lassen und eine neue Dusche, um sich besser waschen zu können. Und er gab uns Ratschläge, wie wir unsere Haare färben sollten, denn von Beruf war er Friseur. Die Krankheit hat letztlich auch etwas Gutes für ihn bewirkt und er hat seine Würde wiederentdeckt. Denn es ist nicht so, dass man die nicht hätte. Man hat sie immer, aber oft muss man sie erst wiederentdecken durch die Augen anderer.“
Auch von einem Priester berichtet Anna, den sie bis zur letzten Stunde begleitet hat. Als er nicht mehr zu reagieren schien „und wir die technischen Dinge erledigt hatten, dachten wir, wir singen etwas. Er liebte die Alpini-Lieder. Wir haben zwei gesungen, und schon bei den ersten Tönen, ich übertreibe nicht, zuckten seine Augenbrauen und seine Lippen. Das war natürlich kein Wunder im engeren Sinne. Er starb vier Stunden später. Aber diese Lieder sprachen von seiner Geschichte, sie haben ihn aufgeweckt. Sie waren ein Ausdruck seiner Würde.“ Menschen und Momente mit Menschen erlebt sie, mit den Sterbenden und auch mit denjenigen, die ihnen nahestehen. „Die Palliativpflege kümmert sich um den Kranken und sein Umfeld. Man behandelt den Kranken, aber es gibt auch Momente, in denen man merkt, dass die Familienmitglieder es nötiger haben. Der Patient ist vielleicht ins Koma gefallen, er braucht meine Zuwendung nicht mehr, dafür die Person, die daneben steht.“
Dann erzählt Anna von Rino. Kurz bevor seine Frau starb, bat er sie, ob sie nicht eine Infusion mit etwas Flüssigkeit wieder anschließen könne. „Ich tat es, weil ich wusste, dass es ihr nicht schaden würde. Die Frau starb kurz darauf. Ich stand vor der Leiche, und der Ehemann schaute mir ins Gesicht und sagte (wobei er mich zum ersten Mal duzte): ‚Ich weiß, dass du das für mich getan hast. Danke.‘ Dabei zeigte er auf die Infusion.“ Der Kontext ist entscheidend. „Man behandelt nicht nur den Kranken, man begleitet ihn in seinem Umfeld. Man lernt die Familienmitglieder kennen, die Kinder, die ganz verwirrt sind, oder die alten Eltern. Und manchmal auch die Pflegerin, denn manchmal ist das die einzige Beziehung, die der Kranke noch hat.“ Man taucht in ganz verschiedene Welten ein, „mit den unterschiedlichsten Schattierungen, und man erlebt alles Mögliche: Da ist das Haus in der Vorstadt, in dem man Brot und Stielmus zu essen bekommt, und die Wohnung im Zentrum, wo einem Tee angeboten wird. Aber alle schreien nach dem Gleichen.“
Wenn man diese einzigartigen und wertvollen Geschichten aneinanderreiht, versteht man etwas besser, wie kompliziert und faszinierend zugleich es ist, vernünftige Regeln für alle aufzustellen. „Der Rechtsrahmen, in dem wir uns bewegen, hat gute Elemente und Anregungen für das Leben“, sagt Anna. „Diejenigen, die bestimmte Regeln erlassen haben, wollten Gutes tun. Das Gesetz über die Palliativmedizin zum Beispiel oder die Protokolle für die Schmerztherapie sind für den Menschen gemacht.“ Aber wie bringt man den Einzelfall und die allgemeinen Regeln zusammen? „Ich weiß, dass die Erfahrung mit Herrn Mario einzigartig war. Das ist seine Geschichte und basta. Aber wenn ich am nächsten Tag mit Herrn Carlo wieder anfange, der eine andere Geschichte hat, dann hat das Herz dieses Mannes doch genau dasselbe Bedürfnis wie das Herz von Mario, und vor allem wie meines. So finde ich da Gemeinsamkeiten.“
Und um dieses Bedürfnis des Herzens muss man sich vor allem kümmern, immer. Auch wenn es um Gesetze geht, darum, welche Maßnahmen zu treffen sind oder dass man das rechte Maß findet. Anna lehrt auch an der Universität. „Vor ein paar Tagen kam in einer Vorlesung das Thema auf, wie viel Distanz man zu den Kranken halten soll, um ein guter Arzt zu sein.“ Und, was hast du geantwortet? „Dass das eine sehr gute Frage sei, gerade weil es da keine festen Regeln gibt. Unser ärztliches Handeln bewegt sich immer zwischen Nähe und Distanz. Für den Patienten ist es wichtig, dass man eine gewisse Distanz zu seinem Fall hat, damit man die richtige Therapie anordnen kann. Aber gleichzeitig braucht er es, dass man sich in ihn hineinversetzen kann.“ Letztendlich ist die schwierigste Abwägung die zwischen der Bereitschaft, alles zu geben, und dem Erkennen, wann es Zeit ist, aufzuhören und loszulassen. Zwischen dem Risiko, sich in den Fall zu verbeißen, und dem schwindelerregenden Augenblick, in dem man loslassen muss. „Es kommt der Moment, in dem uns bewusst wird, dass der Kranke nicht uns gehört. Er gehört einem anderem. Wir geben ihm Medikamente, wir lindern die Schmerzen ... Alles notwendige und wertvolle Dinge. Aber wenn es nichts mehr zu tun gibt und mein Eingreifen nicht mehr nötig ist, dann muss ich einen Schritt zurücktreten. Als würde ich sagen: Das ist euer Part. Der des Sterbenden, und der derjenigen, die bei ihm sind. Diese Zeit gehört euch.“
Das ist „die Zeit der Liebe“, hat ein befreundeter Priester einmal zu Anna gesagt. Sie dient oft dazu, die Wunden eines ganzen Lebens zu heilen. „Es gibt Beziehungen, die in wenigen Wochen mehr Schönheit und Tiefe erreichen als in 30 Jahren Ehe zuvor.“ Oder um Dinge in Ordnung zu bringen. „Wir hatten einmal eine Frau, die nicht mehr ganze Tage in der Onkologie verbringen wollte, weil es nichts mehr brachte und sie erkannt hatte, dass ihr das wertvolle Stunden raubte von den wenigen, die ihr noch blieben. Ich fragte sie: ‚Was wollen Sie mit dieser Zeit anfangen?‘ Sie antwortete: ‚Ich möchte mich um meine Gefühle kümmern. Um die Beziehung zu meiner 20-jährigen Tochter, und zu meinem Mann.‘ Dann hielt sie kurz inne und fügte hinzu: ‚Und wenn Sie mir einen Rollstuhl besorgen können, dann möchte ich rausgehen, um die blühenden Magnolien zu sehen.‘ Auch ein Mensch in einer solchen Situation kann doch frei sein, oder nicht?“ Am Ende „kommt bei den Kranken immer das wahre Bedürfnis nach Sinn heraus, nach dem Sinn des Lebens. Ich kann für sie keine Antwort darauf geben. Aber durch sie kann ich die Frage auch in mir hören. Das ist ein Schrei, der so stark ist, dass das ganze Zimmer davon widerhallt. Manchmal ausgesprochen: ‚Warum passiert ausgerechnet mir das?‘ Manchmal subtiler, wenn man über die Bedeutung des Schmerzes spricht, „den physischen Schmerz, aber auch den Schmerz des Loslassens“. Und was entdeckt Anna dabei in Bezug auf sich selbst und auf andere? „Ich entdecke, dass der Mensch eine unendliche Explosion von Bedürfnissen ist. Und dass er Beziehung ist. Wir versuchen, so weit wie möglich darauf zu antworten. Aber letztlich ist es eine ganz persönliche Sache. Für den Patienten, und für mich.“
Was bedeutet es also letztlich, sich um jemanden zu kümmern? Anna hält kurz inne, denkt ein paar Sekunden lang nach. Dann antwortet sie: „Letzten Sonntag waren wir in einem Kloster und haben mit befreundeten Schwestern darüber gesprochen, wie man sich helfen könne, wenn eine Freundschaft möglicherweise zur Last wird, wenn man sich schwertut. Eine hat dazu auf die Geschichte von dem Gelähmten im Evangelium verwiesen, für den seine Freunde das Dach abgedeckt haben. Das hat mich überrascht. Dort heißt es, ‚als Jesus ihren Glauben sah‘, heilte er ihn. Wegen des Glaubens derer, die ihn dorthin gebracht hatten ... Also, ich denke, dass jemanden zu pflegen ein bisschen so ist. Du schaffst es jetzt gerade nicht, aber mach dir keine Sorgen. Leg dich auf deine Bahre. Wir tragen dich ein Stück. Es ist dein Weg, aber wir gehen ihn zusammen.“