© Fondazione Maddalena Grassi

Ohne Schutzschild

Don Vincent Nagle ist Seelsorger der Stiftung „Maddalena Grassi“ in Mailand und begleitet seit Jahren kranke Menschen. Dabei erlebt er immer wieder, wie viel Positives es gibt auch im Leid.
Paola Ronconi

Die „Fondazione Maddalena Grassi“ in Mailand ist eine Welt für sich. Anfang der 1990er Jahre wurde sie zur häuslichen Pflege von AIDS-Patienten gegründet. Heute hat sie an drei Standorten Abteilungen für Patienten im Wachkoma, Tagespflege, Menschen mit psychischen Erkrankungen und AIDS-Kranke. Insgesamt 1.300 bis 1.400 Patienten, von denen etwa 900 zu Hause gepflegt werden. Eine Welt, in der Krankheit, Schmerz, Leid und Tod vorzuherrschen scheinen. Doch gerade dort, wo keine Aussicht auf Heilung besteht, birgt das Leben in seinen dramatischsten Momenten oft Überraschungen, die man sich gar nicht vorzustellen vermag. Don Vincent Nagle ist der Seelsorger dieser Stiftung. Er ist Mitglied der Priesterbruderschaft vom heiligen Karl Borromäus und stammt aus San Francisco. Er hat Soziologie, Altphilologie, Arabistik und Religionsgeschichte des Islam studiert und in Afrika sowie im Nahen Osten gelebt, bevor er 1992 zum Priester geweiht wurde.

Mehr als 10 Stunden pro Tag spricht Don Vincent mit Menschen und hört ihnen zu. Dazu fährt er durch ganz Mailand und das Umland. Er begleitet Kranke, ihre Familien oder Freunde auf die Art und in dem Umfang, wie sie es wünschen. Manchmal bittet ihn auch jemand, ihm beim Sterben zu helfen. Und gerade dann beginnt eine dramatische Auseinandersetzung zwischen zwei Freiheiten, wie die zwischen ihm und Fabiano Antoniani, dem DJ Fabo, der seit einem Unfall querschnittsgelähmt und blind war. 2017 verlangte er Sterbehilfe und bekam sie auch. „Das war für mich, als würde ich einem Menschen beim Verhungern zuschauen neben einem reich gedeckten Tisch“, schrieb Nagle damals. Unser Gespräch soll von diesem „reich gedeckten Tisch“ ausgehen, um zu entdecken, wie es auf geheimnisvolle Weise viel Leben und Schönes geben kann auch im Leid.

Don Vincent, was bedeutet es für Sie, einen kranken Menschen zu begleiten?
Dieses Wort begleiten hat für mich im Laufe der Jahre einen ganz zentralen Stellenwert bekommen. Es sind mindestens drei Faktoren im Spiel. Der erste: Man darf nichts außen vor lassen. Freunde und vor allem Familienangehörige sagen mir oft: ‚Komm vorbei, damit er (oder sie) ein bisschen abgelenkt ist.‘ Aber diese Ablenkung betrifft nicht so sehr den Kranken, als vielmehr die Menschen seines Umfeldes, die Angst haben oder keine Kraft mehr, ihn zu begleiten. Doch ohne die Bereitschaft, zuzuhören und hinzuschauen, alles „anzufassen“, was mit der Person und ihrer Situation zu tun hat, kann man einen kranken Menschen nicht begleiten. Angehörige und Freunde haben davor allerdings oft Angst. Darf ich eine persönliche Erfahrung erzählen?

Sicher.
Einer meiner Brüder ist dieses Jahr gestorben. Er war seit 14 Monaten in Palliativpflege, obwohl man ihm nur noch sechs Wochen zu leben gegeben hatte. Ende August rief ich ihn über Facetime an, aber er hatte so starke Schmerzen, dass er nicht sprechen konnte. Er stöhnte und weinte. Mit jeder Faser meines Körpers hätte ich den Anruf beenden wollen, es tat mir so leid für ihn. Aber ich blieb trotzdem in der Leitung. Ab und zu sagte ich etwas, erzählte ihm eine gemeinsame Erinnerung, oder sang ein Lied. Eigentlich nur, um ihm deutlich zu machen, dass ich noch da war. Nach einer Viertelstunde, die mir wie eine Ewigkeit erschien, sagte mein Bruder mit kräftiger Stimme: „Und Gott sagte: ‚Ich lasse dich nicht fallen‘.“ Das ist ein Vers aus dem Deuteronomium, wo Gott dem Volk Israel zusagt, dass er es nicht verlassen wird. Das hat in dem Moment für mich bedeutet, ihn zu begleiten. Man kann die Situation nicht ändern oder verbessern, man kann den Menschen nicht heilen. Aber man ist da, und das hat einen Wert, der oft unterschätzt wird.

Vincent Nagle

Deshalb müssen nicht zuletzt die Personen begleitet werden, die dem Kranken nahestehen, oder?
Der erste Schritt besteht darin, sich einzugestehen, dass man Angst hat, dass der Zustand des Kranken einem Angst macht, selbst wenn man ihn liebt. Meine Erfahrung sagt mir, dass man oft auch an assistierten Suizid denkt, nicht nur wegen der leidenden Person, um sie aus einem unerträglichen Zustand zu „befreien“, sondern aufgrund der Ängste, die deren Lage bei einem selbst auslöst. In vielen Fällen geht es auch ein bisschen darum, sich der Verantwortung für den geliebten Menschen zu entledigen. Als würde man ihm sagen: „Das wäre der Weg, das Problem zu lösen. Denn du stellst ein Problem dar.“ Deshalb ist es so wichtig, dass man in solch einer Situation nicht allein ist. Damit man nicht bei seinen Ängsten stehenbleibt, sondern um den Mut bittet, dieses Leid anzuschauen. Und sich mit dieser Realität zu versöhnen, die natürlich hart ist, ganz klar. Aber es gibt noch einen zweiten grundlegenden Faktor beim Begleiten: dass man eine „positive Hypothese“ hat. Ich persönlich bin auf sie gestoßen: Jesus Christus, der die Wahrheit jedes Menschen ist. Er ist das, aus dem meine „positive Hypothese“ entspringt. Aber ich kann mich nicht mit fertigen Antworten vor einen leidenden Menschen stellen. Ich muss auch schwach sein können. Ich muss zu ihm oder ihr gehen und mich von ihrer Angst, seiner Panik anstecken lassen. Gleichzeitig muss ich beten, dass Christus sich zeigt: „Wo bist du? Komm!“

Und was geschieht dann?
Er kommt immer! Und immer auf unvorhersehbare Weise. Gott ist großzügig und bereit, durch den zu wirken, der ihn bittet, auch wenn die Bitte noch so unklar, unausgesprochen, vielleicht gar unbewusst ist.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Ich habe einmal einen Mann mit Tetraplegie betreut, der sehr mutlos und müde war. „Genug, es reicht!“, schrie er mir jedes Mal entgegen, wenn wir uns trafen. Wir hatten sehr interessante Gespräche. Manchmal sprach er aber auch gar nicht, weil er so wütend. „Früher oder später werde ich es tun ...“, erklärte er mir, womit er meinte, sich das Leben zu nehmen. Doch als er dann plötzlich eine Lungenentzündung bekam, ließ er mich rufen und bat mich, ihm die Beichte abzunehmen und die Kommunion zu bringen. Danach wollte er sich mit seiner Familie versöhnen. Er ist, ich würde fast sagen, einen „heiligen“ Tod gestorben, versöhnt mit Gott und allen Menschen.
Oder ein anderes Beispiel: Seit einigen Wochen begleite ich einen Mann, der im Sterben liegt und sich Sterbehilfe wünscht. Ich habe die Beziehung zu ihm mit einer gewissen ironischen Distanz begonnen: Er ist nicht gläubig, aber er betrachtet sich auch nicht als Atheisten. Der Gott der Bibel ist ihm allerdings zuwider. Einmal sprachen wir darüber, wie es für mich war, als ich vor Jahren alle Vorstellungen davon aufgeben musste, wie mein Leben abzulaufen hatte, und nur noch mit dem Wunsch zu leben, die Gegenwart Gottes zu spüren. Plötzlich unterbrach er mich: „Ich muss beichten.“ Jetzt versucht er so oft wie möglich, mit mir zu sprechen, und ist ein anderer Mensch geworden. Was mag mit ihm geschehen sein?
Oder eine 77-jährige Frau, die ALS hatte und einen Schlaganfall, geschieden war, zwei Kinder, die sich nicht um sie kümmerten. Sie war Lehrerin gewesen, sehr engagiert im ehrenamtlichen Bereich, ein positiver Charakter ... Als ich das erste Mal zu ihr kam, das ist jetzt vier Jahre her, zeigte sie mir das Dokument, das es ihr erlauben würde, lebenserhaltende Maßnahmen zu beenden, wenn sie es wollte. Und ich fragte sie spontan: „Warum haben Sie es noch nicht getan?“ Sie schwieg lange, dann schrieb sie: „Sie liebt mich“, und zeigte mit den Augen auf ihre Pflegerin. Die war ihre Putzfrau gewesen, aber als die Frau krank wurde, hatte sie beschlossen, sich ihr ganz zu widmen. „Ich werde geliebt, begleitet.“

Daher hatte sie den Gedanken, sterben zu wollen, aufgegeben?
Ja. Ich habe auch in Dutzenden anderer Fälle im Laufe der vergangenen Jahre erlebt, dass Menschen, die sich haben begleiten lassen, diesen extremen Schritt nicht gegangen sind. Viele begannen, über den Sinn dessen nachzudenken, was mit ihnen geschah, und öffneten sich einem positiven Impuls. Und ich habe gesehen, wie Gott dabei mitwirkte. Sicherlich ist ein gelebter Glaube ein enormer „Vorteil“. Aber viele Menschen, selbst solche mit einem lebendigen, aktiven christlichen Glauben, können sich nicht zu dieser positiven Hypothese durchringen. Wie viele gläubige Menschen haben mir im Vertrauen gesagt: „Don Vincent, wäre es nicht wirklich besser, all diesem Leid ein Ende zu setzen?“

Fondazione Maddalena Grassi

Kommen wir noch einmal auf das Begleiten zurück. Sie sagten, es gäbe noch einen dritten Faktor …
Bevor ich hier Seelsorger wurde, dachte ich immer, bei der christlichen Gemeinschaft ginge es um Güte, Wahrheit, Schönheit, Gerechtigkeit ... Wunderschöne Worte, die sich kraftvoll entfalten in einem geteilten Leben mit einem lebendigen Ideal im Zentrum. Aber inzwischen wird mir immer klarer, dass es letztlich nur einen Inhalt unseres gemeinsamen Lebens gibt: die Barmherzigkeit. Alles andere ist eine Frucht davon. Die Wahrheit wird dort Fleisch, wo man keine Angst mehr vor der Wirklichkeit hat. Die Wahrheit scheint auf, wenn man der Wirklichkeit ohne Schutzschild, ohne Vorbehalt, ohne Wenn und Aber begegnet, wenn Neugier und Sehnsucht einem den Weg weisen, nicht Angst. Doch wie kann man der Wirklichkeit so gegenübertreten? Nur wenn man Barmherzigkeit erfährt. Auch die Schönheit ist schließlich ja ein Zusammenwirken mit der Wirklichkeit. Und das ist Frucht der Barmherzigkeit.

Sie haben auch viel mit psychisch Kranken zu tun.
Am Anfang haben mir die Psychiatrie-Patienten oft Angst eingejagt, weil sie so in ihren Gedankenkreisen verschlossen waren. Die ersten Male war ich nach zwei oder drei Stunden sehr müde. Jetzt ist das viel weniger der Fall. Ich habe festgestellt, dass Gott mich früher oder später die Person hinter der Krankheit erkennen lässt. Und wenn dieser Moment kommt und ich diesen Menschen „sehe“, dann kommt der Wunsch auf, ihn ein Stück seines Weges zu begleiten. Diese Leute leben meistens in ihrer eigenen Welt, und ich akzeptiere, ein Teil davon zu werden. Ich weiß jedenfalls, dass Gott Anteil nimmt. An irgendetwas, das sie sagen oder nicht sagen, merke ich, dass sie mich „sehen“ und mir erlauben, zu ihrem wahren Ich vorzustoßen.

Was denken Sie, wenn Sie das Zimmer eines Kranken betreten?
Ich frage mich nicht, was ich tun kann. Ich gehe hinein und frage mich: „Was wird Gott tun?“ Das versöhnt mich mit der Wirklichkeit, nicht nur angesichts meiner Kranken, sondern angesichts meines ganzen Lebens.