Die Erde auf einem Bild, das  von einem Besatzungsmitglied der Expedition 63 am 2. August 2020 aufgenommen wurde. © Nasa

Das Bedürfnis, gesehen zu werden

„Das Schöne an der Familie ist ihre Unvollkommenheit“, sagt die italienische Psychiaterin Mariolina Ceriotti Migliarese. „Und Kinder brauchen Eltern, denen ihre Freiheit am Herzen liegt.“
Maria Acqua Simi

In den meisten Schlagern geht es auch heutzutage um Liebe. Die Liebe verärgert, sie enttäuscht, sie treibt einen in den Wahnsinn, sie zermürbt. Und sie ist schöpferisch: „Ich weiß nicht, wer die Welt erschaffen hat, aber ich weiß, dass er verliebt war“, singt der italienische Rapper Alfa. Viele der Songtexte vermitteln die Verwirrung, die Begeisterung, aber auch die Klischees, mit denen ein so schwieriges Thema wie die Liebe assoziiert ist. „Heute neigen wir dazu, Liebe mit dem Gefühl zu verwechseln, verliebt zu sein. Doch Gefühle sind zwar ein großer Reichtum, reichen aber allein nicht aus, damit die Liebe Bestand hat. Sie müssen in Denken umgesetzt werden, in ein gemeinsames Projekt, sonst bleibt alles zerbrechlich und flüchtig. Und das spüre ich in meiner täglichen Arbeit, im Gespräch mit jungen Menschen und mit vielen Paaren jeden Alters“, sagt Mariolina Ceriotti Migliarese, eine Neuropsychiaterin mit dreißig Jahren Erfahrung. Die Mutter von sechs Kindern und Großmutter von sieben Enkelkindern, eine elegante und ruhige Frau, empfängt uns zum Gespräch in ihrem hellen Studio in Mailand.

Frau Dr. Migliarese, helfen Sie uns, die Situation zu verstehen: Es wird viel über emotionalen Analphabetismus geredet, Handbücher über die perfekten Eltern gibt es zuhauf, aber die Probleme bleiben. Wie kommt das? Was sehen Sie bei den jungen Menschen und bei den Eltern, die Sie treffen?
Das häufigste Problem bei den Jugendlichen von heute ist eine große affektive Zerbrechlichkeit, die sich in einem immer deutlicheren und beunruhigenden psychophysischen Leiden äußert. Die Zahl der Fälle von Selbstverletzung, Essstörungen, Schlafstörungen oder Konzentrations- und Lernschwierigkeiten nimmt exponentiell zu ... Das sind Symptome großen Leids. Hinzu kommt die allgegenwärtige Verbreitung von Pornografie, die objektive, sehr schwerwiegende Schäden verursacht. Es ist ein Phänomen, das immer noch zu sehr unterschätzt wird: eine schreckliche Plage. Denn die durch die Pornographie dargebotene Sexualität löst bei Kindern und Jugendlichen, die das Gesehene nicht verstehen können, einen Zustand der Erregung und gleichzeitig der Angst aus. Gleichzeitig führt sie zu einer Verzerrung der Vorstellung von Sex bei Heranwachsenden, so dass sie dazu verleitet werden, Sexualität vom Gefühlsleben und von der Beziehungsfähigkeit zu trennen.
Ganz zu schweigen von denjenigen, die sich mit Alkohol oder Drogen berauschen, um ihren Ängsten und Befürchtungen zu entfliehen. Alle jungen Menschen, denen ich begegne, haben jedoch im Grunde das Bedürfnis, gesehen zu werden, sich beachtet und gehört zu fühlen. Eltern, die in der Angst um ihre eigene Selbstverwirklichung gefangen sind oder sich im Gegenteil Sorgen machen, dass sie ihren eigenen Ansprüchen nicht genügen, tun sich oft schwer, ihre Kinder wirklich wahrzunehmen. Die Familie ist ein wunderschönes, unvollkommenes System. Wir sollten uns nicht von der Vorstellung abschrecken lassen, dass sie Verantwortung mit sich bringt. „Verantwortung“ ist ein gutes Wort, denn es enthält das Verb „antworten“, was einfach bedeutet, ein Bedürfnis zu sehen und zu versuchen, darauf eine Antwort zu geben.

Mariolina Ceriotti Migliarese

Heute ist es nicht mehr selbstverständlich, von Ehe und Familie zu sprechen. Viele junge Menschen entscheiden sich für ein Zusammenleben ohne Ehe ...
Das liegt daran, dass die heutige Welt dazu verleitet, Beziehungen als bloße emotionale Vereinbarungen zu begreifen: Du und ich sind zusammen, weil und solange wir uns lieben. Aber das ist nicht genug. Die Ehe hingegen ist ein affektiv-sozialer Zusammenschluss mit einem wichtigen öffentlichen Wert. Ein Bund, der dieses „Du und ich“ (also zwei Individuen) in eine Familie verwandelt. Es ist der Gründungsakt von etwas, das über zwei Menschen, die sich lieben, hinausgeht und das nach und nach mit vielen subjektiven, aber auch objektiven Gütern, wie Kindern, gefüllt wird. Eine Familie zu gründen verängstigt heute, denn es bedeutet, für immer mit einem anderen zu leben, der anders ist als man selbst. Es gibt Unterschiede, die grundlegend und unausrottbar sind und mit denen man zwangsläufig zu kämpfen hat. Ich spreche von den Unterschieden der Geschlechter, aber auch von der Verschiedenheit der Herkunftsfamilien. Angesichts der Unterschiede müssen Fähigkeiten zum gegenseitigen Verständnis entwickelt werden. Das ist auch ein schönes Wort: „Verstehen“ beinhaltet eine Bewegung auf den anderen zu, ein Zuhören und Aufnehmen. Das gilt für den Ehepartner, aber auch für die Kinder, die sich von ihren Müttern geliebt und von ihren Vätern geschätzt fühlen müssen, um psychisch gesund aufzuwachsen.

Es ist nicht leicht, dieses Gleichgewicht in einer Familie aufrechtzuerhalten.
Klar ist das nicht leicht. Aber drei Dinge können dabei helfen, wenn man sie beachtet: das Respektieren der jeweiligen Stellung in der Familie, die Wahrung der persönlichen Freiheit und das Einhalten einer gesunden Distanz in der Beziehung. Das Paar ist das Rückgrat, eine Beziehung, in der Mann und Frau zwar unterschiedlich, aber gleichwertig sind. Die Unterschiede im mütterlichen und väterlichen Blick sind eine einzigartige Ressource für die Kinder. Sie brauchen den Blick einer Mutter, die sie nicht deswegen liebt, weil sie gut, schön und leistungsfähig sind, sondern weil sie überhaupt da sind. Und sie brauchen einen Vater, der sie wertschätzt (und der selbst geachtet wird) und sie anspornt, sich zu verbessern, weiterzumachen, Schwierigkeiten mit Zuversicht und Mut zu überwinden. Sie brauchen Eltern, denen die Freiheit ihrer Kinder am Herzen liegt, damit sie ihrerseits erwachsen werden und in die Welt hinausgehen können. Unsere Kinder haben unendlich viele Fragen, und das macht uns Angst, denn wir sind nicht immer in der Lage, Antworten zu geben. Aber das ist nicht so wichtig. Wichtig ist, alle Fragen ernst zu nehmen, den Kindern zu helfen, ihre Gedanken auszudrücken, darüber nachzudenken und sich ein persönliches, eigenständiges Urteil zu bilden. Die wirkliche Hilfe, die Eltern ihren Kindern geben können, besteht darin, ihnen nicht ideologische Grundlagen zu vermitteln, die früher oder später unter dem Druck der Realität zusammenbrechen, sondern sie bei ihrer Suche nach Sinn zu begleiten. Das Kind, das mit Hilfe seiner Eltern sein Denken entwickelt, indem es von seinen eigenen Fragen ausgeht, wird Antworten finden, die wirklich seine eigenen sind. Man darf nicht vergessen, dass jedes Kind anders ist, einzigartig und unwiederholbar, mit eigenen Bedürfnissen und Wünschen. Und jedes Kind muss angenommen, geliebt werden aufgrund dessen, was es ist. Und wertgeschätzt werden, selbst wenn es Fehler macht. Wertschätzung basiert nicht darauf: „Du bist der Beste der Welt“, sondern: „Ich freue mich, dass du vorwärts gehst, dass du Schritte machst, dass du jeden Tag ein bisschen mehr tust.“

Das ist heute nicht mehr selbstverständlich.
Genau. Denn die Erziehung zur Liebe ist eine Arbeit. Die pädagogische Beziehung besteht aus dem, was man selber „ist“ und „weitergibt“. Wahres Wachstum entsteht durch Erfahrung und Reflexion über die Erfahrung. Wir dagegen trennen oft die Theorie vom Leben. Wir haben den Sinn der Dinge verloren. Alles, was passiert, ob gut oder schlecht, kann, wenn wir wollen, eine Gelegenheit zum Nachdenken, zur Beurteilung, zur Reflexion und zum Wachstum sein. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wenn es in der Familie einen Streit gibt, ist es sinnvoll, nicht nur darüber nachzudenken, „wie“ man die Dinge lösen kann, sondern auch zu versuchen, die Gründe dafür besser zu verstehen, warum man streitet. Es gibt eine Menge Erziehungsratgeber, die versuchen, das „Wie“ zu beantworten, aber wenig hilfreich sind beim Nachdenken über das „Warum“. Und noch etwas: Wir sollten unsere Kreativität nicht unterschätzen.

Unsere Kreativität?
Ja. Die Möglichkeit, in der Wirklichkeit etwas Gutes zu schaffen, das aus meinem Inneren entsteht. Und das kann jeder: von denen, die gut kochen können für andere, bis zu denen, die Romane schreiben, von denen, die sich um Menschen in Not kümmern, bis zu denen, die ihre ganze Energie darauf verwenden, eine schwierige Beziehung am Laufen zu halten. Diese Fähigkeit, etwas von sich selbst in der Welt zum Blühen zu bringen, und zu erleben, dass das, was wir tun, Gutes bewirkt in der Welt, macht uns glücklich.

Sie sehen so viel Leid, aber Sie sind trotzdem froh, das sieht man. Wie schaffen Sie das?
Das ist eine gute Frage. Da fällt mir der 1. Petrusbrief ein, in dem es heißt, dass wir Rechenschaft ablegen sollen über die Hoffnung, die uns erfüllt. Nun, als gläubiger Mensch kann ich sagen, dass meine Hoffnung auf Gott beruht, der uns viel mehr und viel besser liebt, als wir es können. Dieses Bewusstsein, geliebt und gewollt zu sein, ist bereits eine kleine Revolution. Wir haben in unseren Familien die Aufgabe, diese innere Gewissheit an unsere Kinder weiterzugeben und darauf zu vertrauen, dass das Gute weiter verbreitet ist als das Böse. Menschen, die Gutes erleben, sind glücklicher. Auch wenn die Welt um uns herum uns oft dazu verleitet, in Angst vor dem zu leben, was wir leisten müssen, und das macht uns traurig und hoffnungslos. Es werden keine Kinder mehr geboren, es wird nicht mehr auf die Familie gesetzt, weil es kein Vertrauen in das Leben und seinen Sinn mehr gibt. Doch auf Leute, die im Gegensatz dazu diese positive Einstellung zum Leben haben, schaut man mit Neugierde. Wer glücklich ist, wirft Fragen auf. Und Fragen sind immer gut.

Auch die schwierigen Fragen der Menschen, die bei Ihnen Hilfe suchen?
Ja. Wenn ich an all die jungen Menschen oder Paare denke, erkenne ich bei jedem von ihnen den gleichen Wunsch nach etwas Gutem und nach Erfüllung. Es ist nur so, dass wir manchmal das große Gute mit kleinen, vergänglichen Gütern verwechseln, die unserer Sehnsucht nicht wirklich entsprechen. Und die Fehler, die wir machen, entstehen oft aus dieser Verwechslung. Vielleicht müssen auch wir Christen uns erst wieder den großen Reichtum bewusst machen, den wir erhalten haben, damit wir über die Werte, die wir vermitteln wollen, nicht nur mit unserem Verstand, sondern auch mit unserem Herzen „Rechenschaft ablegen“ können.