„Personal Journey“ mit Cicely Saunders
Cicely Saunders, eine Krankenschwester und Ärztin in England, war die Begründerin der modernen Palliativbehandlung. Was bedeutet ihre „Revolution“ in der Palliativpflege für die heutige Zeit?„Ärzte und Pflegepersonal müssen alles in die Waagschale werfen und innerhalb einer Begegnung die uns allen gemeinsame verletzliche Menschlichkeit derer teilen, die sie behandeln wollen. Sie müssen gemeinsam mit den Sterbenden nach dem Sinn des Lebens und der verbleibenden Lebenszeit suchen und auf die ‚Hoffnung jenseits aller Hoffnung‘ zugehen.“ Diesen Grundsatz formulierte Cicely Saunders, die englische Krankenschwester, die 1967 das erste moderne Hospiz gegründet hat. Damit setzte sie die Tradition der christlichen Hospize fort, in denen über die Jahrhunderte Pilger, Kranke und Sterbende Aufnahme fanden. Manchmal waren diese allerdings auch trostlose Orte, bar jeder Kreativität, ohne wissenschaftliche Fundierung, in denen wenig Leben stattfand.
Cicely Saunders hat das geändert und damit die Palliativmedizin und -pflege revolutioniert. Sie wählte einen umfassenden und multiprofessionellen Ansatz, bei dem Ärzte, Krankenschwestern, Sozialarbeiter, Psychologen, Physiotherapeuten, Seelsorger und Freiwillige im Team arbeiten. Ihr Hospiz beschrieb sie als einen „Ort des Lebens, der Begleitung, der Forschung und der Weiterbildung“. Fotos der Patienten, die zu Beginn und nach einigen Tagen des „Cicely-Treatment“ gemacht wurden, zeigten, wie sehr sich ihr Zustand verändert hatte; sie waren fast nicht wiederzuerkennen. Inspektoren der Regierung baten bei einem Besuch einmal, man möge sie nun zu den tatsächlichen Patienten des Hospizes bringen und ihnen nicht nur die Genesenden zeigen. Saunders war die erste, die Opiate zu festen Zeiten verabreichte, statt sie nur „nach Bedarf“ einzusetzen. Das machte eine kontinuierliche Schmerzkontrolle möglich, ohne abrupte Schwankungen der Symptomintensität und ohne daraus folgende ständige Änderungen der Dosierung.
Von Anfang an war ihr klar, dass ein solch ganzheitlicher Ansatz, innovativ und zugleich in einer Tradition stehend, nicht ausschließlich in Strukturen umgesetzt werden durfte, die Gefahr liefen, wie „Kathedralen in der Wüste“ zu stehen. Er musste zu einer verlässlichen Form der Versorgung werden und die gesamte Medizin „infizieren“. Der erste, der nach diesem Vorbild ein krankenhausinternes Team einrichtete, war 1975 der kanadische Urologe Balfour Mount. Seine Abteilung nannte er „Palliative Care Unit“. Damit benutzte er ein Adjektiv, das zugleich zu Freud und Leid der Palliativmediziner wurde. Während „palliativ“ im allgemeinen Sprachgebrauch ein Mittel bezeichnet, das eine Krankheit zwar lindern, aber nicht ursächlich bekämpfen kann, leitete er den Begriff vom „pallium“ ab, dstrong>dem „Mantel“, der Schutz und Wärme bietet.
In der modernen Palliativmedizin unterscheidet man zwischen „vorausschauender Palliativversorgung“ und „Begleitung am Lebensende“. Erstere umfasst stationäre Behandlungen im Krankenhaus und ambulante Versorgung durch Fachärzte. Dabei kann es um Symptomkontrolle, die Aufklärung des Patienten und seiner Angehörigen über die Erkrankung, Entscheidungen bezüglich der Therapie oder auch psychologische und existenzielle Bedürfnisse des Erkrankten gehen. Menschen, die am Ende ihres Lebens stehen, werden hingegen meistens zu Hause betreut oder in ein Hospiz aufgenommen. Das Ziel ist, die einzelnen Maßnahmen auf die Person abzustimmen und herauszufinden, welche im jeweiligen Fall am besten geeignet sind. Die klinische Bewertung muss dabei, was oft besonders komplex ist, mit der subjektiven Einschätzung des Patienten abgestimmt werden. Das betrifft insbesondere die so genannten „lebenserhaltenden Maßnahmen“. Denn jeder Patient kann sowohl eine Behandlung ablehnen, die medizinisch geboten scheint, als auch lebenserhaltende Maßnahmen, das heißt Behandlungen, durch die eine lebenswichtige Funktion ersetzt wird. Dazu gehören inzwischen auch künstliche Ernährung und Flüssigkeitszufuhr. So erklärt auch die Charta für die im Gesundheitsdienst Tätigen des Päpstlichen Rates für die Pastoral im Krankendienst von 2016: „Ernährung und Flüssigkeitszufuhr sind, auch wenn sie künstlich verabreicht werden, Teil der Grundversorgung, die den Sterbenden zusteht, es sei denn, sie belasten sie zu sehr oder bringen keinen Nutzen mehr.“
Der Zeitpunkt, an dem eine Person erklärt, welche Behandlung sie annehmen oder ablehnen möchte, kann gleichzeitig mit dem therapeutischen Vorschlag erfolgen, als Zustimmung aufgrund ausführlicher Information und Aufklärung, oder im Voraus, durch Instrumente wie die Patientenverfügung oder eine vorausschauende Planung der Behandlung (sog. „Advance Care Planning“), bei dem Arzt und Patient gemeinsam den Therapieplan konkret auf den Patienten zuschneiden. All dies ist teilweise auch durch Gesetze geregelt. Behandlungen können auch zu einem späteren Zeitpunkt akzeptiert oder auch abgelehnt und die Zustimmung widerrufen werden.
Keine dieser Entscheidungen am Lebensende stellt eine Beihilfe zum Suizid oder gar aktive Sterbehilfe dar, selbst wenn sie unter Umständen das Leben des Patienten verkürzen. Vielmehr handelt es sich hier immer um die ureigene Entscheidung des Patienten, medizinische Behandlungsvorschläge anzunehmen oder abzulehnen. Deren eventuelle Nichtdurchführung kann auch zu einem natürlicheren Verlauf der Erkrankung und des Sterbeprozesses führen. Aufgrund der Komplexität der einzelnen Fälle sind diese Entscheidungen oft besonders heikel und teilweise auch innerhalb der katholischen Theologie umstritten.
Völlig anders in Bezug auf ihre Zielsetzung und Vorgehensweise sind dagegen Handlungen, die unter die Begriffe assistierter Suizid und Euthanasie gefasst werden: Sie wollen direkt und absichtlich den Tod des Patienten herbeiführen. Jüngste Daten zeigen, dass in den Ländern, in denen dies legalisiert wurde, eine explosionsartige Zunahme von Anträgen zu verzeichnen ist, wobei die Gründe immer weiter gefasst werden und man geradezu von einer „ansteckenden Welle“ von Suiziden, mit oder ohne Assistenz, sprechen kann. Gleichzeitig kann man feststellen, dass mit einer Fortentwicklung und größeren Verfügbarkeit der Palliativversorgung ein Rückgang der Nachfrage nach Sterbehilfe einhergeht, ebenso auch umgekehrt.
Die Palliativversorgung bleibt dabei immer ein Mittel, nicht ein „Zweck an sich“. Cicely Saunders war der Ansicht, ein kranker Mensch könne nur eine wirklich freie Entscheidung treffen, wenn ihm auch wissenschaftlich fundierte und menschlich angemessene Palliativversorgung zur Verfügung stünde. „Die Antwort auf das Geheimnis von Tod und Leiden ist nicht eine Erklärung, sondern eine Gegenwart“, war ihr Credo. „Sollte irgendwann ein Gesetz verabschiedet werden, das eine aktive Beendigung des Lebens auf Wunsch des Patienten zulässt, würden sich viele der Menschen in einer Situation der Schwäche und Verletzbarkeit als Belastung für ihre Familien und die Gesellschaft empfinden und sich gezwungen sehen, um Euthanasie zu bitten. Die schwerwiegende Folge wäre ein erhöhter Druck auf geschwächte Patienten, diese Entscheidung zu treffen, was sie ihrer Freiheit berauben würde.“
Die uns allen gemeinsame „verletzliche Menschlichkeit“, wie Saunders es ausdrückt, kann für einen Patienten der Ausgangspunkt für einen Weg sein, bei dem seine anfängliche Reaktion auf eine unerwünschte oder inakzeptable Situation zu einer Frage nach deren Sinn wird. Dieser Schrei, welche Form auch immer er annehmen mag, richtet sich an eine Person oder an Gott. Die Frage nach dem Warum ist dann nicht mehr theoretisch und abstrakt, sondern wird zu einer Bitte um Begleitung, um Unterstützung beim Übergang von unerträglichem Leid und Ausgeliefertsein zu einem persönlichen Weg im Rahmen dieses abhängigen Lebens.
Auch alle an der Betreuung eines Kranken beteiligten Personen müssen einen solchen persönlichen Weg zurücklegen auf der Suche nach dem Sinn. Cicely Saunders bezeichnete das als Personal Journey. Jeden Tag müssen alle zusammenwirken – Patienten, Angehörige, Pflegende –, sodass die jeweilige Situation das Leben des Kranken zwar mit ihren Bedingungen prägt, aber nicht definiert. Ja, gerade wenn man auf Grenzen stößt, kann man oft unerwartet den Sinn der Dinge entdecken.
Vor einiger Zeit kam ein Unternehmer mittleren Alters in unser Hospiz. Er war es gewohnt, Entscheidungen zu treffen, in Bezug auf sich selbst und auf andere. Kurz nachdem er aufgenommen worden war, sagte er mir, er sei dort nur „in der Warteschleife“, während er seinen assistierten Suizid in der Schweiz organisiere. In den Gesprächen, die darauf folgten, baten wir ihn, auch eine andere Möglichkeit in Betracht zu ziehen: Indem er sich der Situation stelle, in der er sich befand, könne er vielleicht mehr von dem Zusammensein mit seiner Familie haben, die sich sehr liebevoll um ihn kümmerte, und diese Zeit des Lebens nutzen, um über sich und sein Leben zu reflektieren. In den folgenden Tagen war er oft sehr nachdenklich und verbrachte auch viel Zeit mit seinen Angehörigen. Einige Zeit später fragte er mich: „Herr Doktor, was sagen Sie, habe ich eine Antwort gegeben auf die Frage, die Sie mir gestellt haben?“ Ich antwortete: „Wir meinen, ja. Und was sagen Sie?“ Da zeigte er sein schönstes Lächeln.
Manchmal sind wir gezwungen, Patienten zu sedieren (also in künstlichen Schlaf zu versetzen), wenn bestimmte Symptome nicht mehr auszuhalten sind. Ein Mann erlebte seine Frau, die sediert war, zunächst als „abwesend“ und trauerte schon um sie. Er sprach nicht mehr mit ihr und meinte, sie könne keine Zuneigung mehr empfangen oder geben. Die Pflegekräfte dagegen waren sich bewusst, dass ein Mensch „da ist“ bis zum Schluss. Sie begrüßten die Frau, wenn sie in das Zimmer kamen, und sprachen mit ihr. Sie erklärten ihr, was sie vorhatten, entschuldigten sich für abrupte Bewegungen beim Drehen und scherzten sogar über ein etwas ungeschicktes Manöver. Der Ehemann schaute zunächst etwas skeptisch zu, dann fragend und stumm. Nach einigen Tagen sprach er wieder mit seiner Frau und bedankte sich schließlich sogar bei den Pflegenden, dass sie ihm dieses Bewusstsein für eine Beziehung vermittelt hatten, die sich nicht nur in verbalen oder mimischen Reaktionen ausdrückt, sondern in der objektiven Tatsache, dass jemand anwesend ist – und daher auch liebevoll gepflegt werden sollte.
Diese Veränderung der „Blickrichtung“ geschieht manchmal in einem einzigen Augenblick. Einmal habe ich einer Dame erklärt, dass wir sie sedieren müssten, wenn wir ein bestimmtes Symptom nicht anders in den Griff bekämen. Und sie fragte mich, völlig klar: „Würde ich dann aus dem Schlaf in den Tod gehen?“ Manchmal, wenn die Antworten, die ich geben müsste, zu schwierig sind, oder zu wahr, schaue ich auf das Kruzifix im Zimmer. In diesem Fall kam mir die Antwort von dort: „Sie würden aus dem Schlaf zu Jesus gehen.“ Sie war zunächst überrascht. Aber dann überzog ein großes Lächeln ihr Gesicht und sie bedankte sich, dass ich ihr diesen Weg gewiesen hätte. Bei unserer nächsten Team-Besprechung fragten die Kollegen mich, woher ich gewusst hätte, dass für diese Frau der Glaube wichtig sei. Ob das nicht zu aufdringlich gewesen sei. Ich wusste nicht, ob sie gläubig war, aber ich stand vor ihr als der, der ich bin. Ich hätte nie antworten können, sie würde aus dem Schlaf ins Nichts gehen.
In einer pluralistischen Gesellschaft kann die Art, wie man mit extrem schwierigen Situationen umgeht, sehr unterschiedlich sein. Aber in eine solch fürsorgliche Beziehung mit den leidenden Menschen zu treten, entspricht mir viel mehr und ist für mich viel attraktiver als jede andere Option.
*Onkologe und Hämatologe an der Universität Bologna