Tutsi fliehen nach den Massakern 1994 aus Ruanda nach Zaire.

Versöhnung ist möglich

Dreißig Jahre nach dem Völkermord in Ruanda spricht ein Tutsi, der überlebt hat, über die Wiederannäherung an die Hutu: „Wir haben neu begonnen, indem wir uns in den Schmerz des anderen hineinversetzten.“
Maria Acqua Simi

Acht Jahre lang, von 1981 bis 1989, ist die Gottesmutter in Kibeho erschienen, einem abgelegenen Dorf im Süden Ruandas. Sie sprach dort zu drei jungen Mädchen, Alphonsine, Marie Claire und Nathalie, und zeigte ihnen unter anderem das Gemetzel und Haufen verstümmelter Leichen in den Straßen Ruandas. Monatelang forderte sie die ganze Bevölkerung auf, sich zu bekehren und zu beten, um das Böse abzuwenden. Aber leider hörte man nicht auf sie. Diese Erscheinungen, die die katholische Kirche 2001 anerkannt hat, waren dramatische Prophezeiungen des Genozids im Jahr 1994. Darüber haben wir mit Jean Paul Habimana gesprochen, der heute an der Europäischen Schule in Mailand Religion unterrichtet. Er hat das Massaker überlebt, bei dem vor dreißig Jahren etwa eine Million Tutsi durch die Hand von Hutus ums Leben kamen. Habimana ist verheiratet mit Marie Louise, einer Hutu. Die beiden wissen sehr gut, was es bedeutet, zu vergeben zu versuchen, aber die Wunden der Vergangenheit nicht zu verdrängen. Eine sehr schmerzvolle Vergangenheit, wie ihrer beider Geschichte bezeugt.

Am 6. April 1994 spielt Jean Paul, 10 Jahre alt, vor dem Haus. Es sind Osterferien und die Schulen sind geschlossen. Seine Familie, der Vater Kaufmann, die Mutter Hausfrau, sieben Geschwister, gehört zur Volksgruppe der Tutsi und ist katholisch, wie knapp die Hälfte der acht Millionen Menschen, die zu dieser Zeit in Ruanda leben. Das Radio bringt die Nachricht vom Absturz des Präsidentenflugzeugs, mit ziemlicher Sicherheit ein Attentat. Dann bricht das Chaos aus. „Am nächsten Tag kamen Gerüchte auf über Massaker durch Hutus an Tutsi.
Wir ließen das warme Essen auf dem Tisch stehen und flohen. Aber wir wurden überrollt von der Flut fliehender Menschen in Panik. Es war das letzte Mal, dass ich meinen Vater gesehen habe.“

In dem Durcheinander wird die Familie getrennt. Jean Paul flieht in Richtung des einzigen Ortes, den er kennt: der Pfarrei von Shangi, die ein paar Stunden Fußweg von seinem Dorf entfernt liegt. Und er ist nicht der einzige. Als er am Abend völlig erschöpft bei der Kirche ankommt, ist sie schon überfüllt. Aber er kann seinen kleinen Bruder Vincent und einige Cousins in die Arme schließen. Verwundete erzählen, dass sie den wütenden Interahamwe entkommen sind, einer paramilitärischen Hutu-Miliz. Tagelang verbarrikadieren sie sich in der Kirche, ohne Essen und Wasser. „Die Hutu hatten die Pfarrei umzingelt und die Wasserleitungen gekappt. Um zu überleben, kauten wir Bananenblätter. Hin und wieder schlichen wir uns heraus, verkleidet als kleine Mädchen, um zu betteln. Und wir beteten den Rosenkranz.“ Nach etlichen Tagen gelingt es Hutu-Nonnen, einige der Kinder herauszuschmuggeln. Unter ihnen ist Jean Paul. „Sie haben ihr Leben riskiert, um uns in ihrem Kloster in Sicherheit zu bringen. Dort gab es Wasser, auch wenn das Essen karg und rationiert war. Doch die Ruhe währte nicht lange.“ Am 29. April stürmt wieder eine Gruppe von Milizionären das Dorf. „Ich rannte wieder weg und lag irgendwann auf dem Boden zwischen Toten, Verwundeten, die um Hilfe schrien, und den Interahamwe, die auf uns schossen. Auch das habe ich überlebt und danke Gott noch heute dafür.“ Die Chronik dieser Monate ist schrecklich, aber sie hilft, vieles zu verstehen.

Jean Paul Habimana, Jahrgang 1984, unterrichtet inzwischen in Mailand.

„Wiederum fand ich Zuflucht, und zwar im Haus von Maria und Silas, Hutu, die das, was da geschah, nicht mitmachen wollten. Dort hörte ich, dass meine Mutter und meine Brüder noch am Leben seien, und das gab mir Hoffnung. Ich versteckte mich bei ihnen mehrere Tage lang, bis es zu gefährlich wurde, weil im Dorf Gerüchte umliefen, dass sie Tutsi auf der Flucht Unterschlupf gewährten. In den hundert Tagen des Massakers haben sie mehr als fünfzig Menschen geholfen. Und das war ganz wichtig für meinen Prozess der Vergebung in den folgenden Jahren. Diese beiden Hutu, wie auch die Nonnen, riskierten ihr Leben, um uns zu helfen. Sie rieten mir dann, mich in das Flüchtlingslager Nyarushishi durchzuschlagen.“

Dort trifft Jean Paul wie durch ein Wunder seine Mutter und seine Geschwister wieder. Die wiedervereinigte Familie betet unaufhörlich den Rosenkranz. „Ich flehte zu Gott: ‚Lass mich heute nicht sterben, lass mich bis morgen leben.‘ Nicht aus Verzweiflung klammerten wir uns an den Glauben, er war wirklich Leben für uns. Wie hätte meine Mutter überleben und sieben Kinder alleine großziehen können, wenn sie sich nicht einer guten Bestimmung gewiss gewesen wäre? Sie hat ihren Ehemann verloren, ihre Geschwister, Freunde und Verwandte, und doch sagt sie immer, es habe uns an nichts gefehlt.“

Im Juli kommt die Nachricht, dass die Ruandische Patriotische Front gesiegt hat. Die Massaker hören auf und bald wird das Lager geräumt. „Man sagte uns, wir sollten nach Hause gehen. Aber da gab es nichts mehr. Doch wir erlebten die Solidarität so vieler Menschen. Man half einander, Waisenkinder wurden in Familien aufgenommen, die immer größer wurden, und langsam begann der Wiederaufbau.“ Dieser Wiederaufbau, so berichtet Jean Paul, bestand nicht nur im Bau neuer Häuser, sondern auch und vor allem in der unermüdlichen Arbeit der ruandischen Kirche, die Beziehungen unter den Menschen wiederherzustellen.

„Die Priester, Bischöfe und Ordensleute riefen zur Vergebung auf. Für uns bedeutete das, unseren ehemaligen Nachbarn zu vergeben, die uns angegriffen hatten. Aber es geschah, wir vergaben. So konnten wir nach und nach ins Leben zurückkehren.“ In den späten 1990er Jahren, erläutert Habimana, stand das Land vor der Notwendigkeit, wieder aufzubauen, was zerstört worden war. Die traditionelle Form der Rechtsprechung (Gacaca), die sich sehr von der westlichen Justiz unterscheidet, brachte die angeklagten Hutu in die Dörfer und fragte die Überlebenden, ob sie sie begnadigen würden.

„Es passierte fast immer, dass alle freikamen, auch weil sie oft im Gegenzug Informationen darüber lieferten, wo unsere Verwandten getötet wurden und wo sie begraben waren. Die Mitwirkung der Kirche, auf Anregung von Papst Johannes Paul II., war von entscheidender Bedeutung. Sie tat ihr Möglichstes, um den Waisenkindern und Witwen der beiden Volksgruppen zu helfen, versuchte die Wahrheit ans Licht zu bringen über die getöteten Priester und Ordensleute, aber auch über diejenigen, die sich in irgendeiner Weise an dem Völkermord beteiligt hatten. Die Bischöfe initiierten Dialogveranstaltungen zwischen den Angehörigen der Opfer und den Tätern, die so genannten Gacaca nkirisitu. Dies geschah in „kirchlichen Basisgemeinschaften“ (Imiryangoremezo), in denen noch heute Mörder und Opfer einmal in der Woche zusammenkommen, mal im Haus des einen, mal in dem des anderen, um miteinander zu beten, das Evangelium zu lesen und Akte der Nächstenliebe zu vollbringen.“

„Die Priester, Bischöfe und Ordensleute riefen zur Vergebung auf. Für uns bedeutete das, unseren ehemaligen Nachbarn zu vergeben, die uns angegriffen hatten. Aber es geschah, wir vergaben. So konnten wir nach und nach ins Leben zurückkehren.“

Doch Vergebung, sagt Jean Paul, ist nichts Theoretisches. Sie muss erfahren werden. Nach 1994 besuchte der junge Tutsi die Oberschule in einem nahegelegenen Seminar, während er in seinem Herzen ein Versprechen wog, das er Gott während des Genozids gegeben hatte: „Wenn du mich rettest, werde ich Priester.“ „Doch der liebe Gott“, so sagt er gleich, „hatte andere Pläne. In der Schule lernte ich Pino und seine Cousine Marie Louise kennen, die mich sehr beeindruckten. Sie waren Hutu. Diese jungen Menschen trugen das gleiche Leid wie ich. Ich war Waise, mein Vater war gestorben, Pinos Vater war im Gefängnis. Und seine Mutter, die Tutsi war genau wie meine, musste kämpfen, um etwas zu essen auf den Tisch zu bringen. Sie war gezwungen, die mühsamsten Arbeiten zu verrichten, da sie allein die Familie ernähren musste. Auch ihr Leid hatte Gewicht, nicht nur meins.“

„Eines Tages“, so berichtet Habimana weiter, „kamen Häftlinge ins Seminar, um dort Arbeiten zu verrichten. Unter ihnen waren auch viele, die für Massaker verübt hatten, darunter auch Pinos Vater. Er schämte sich sehr, aber ich versuchte, das nicht ihm anzulasten, und unsere Freundschaft hielt an. Am Ende des Schuljahres besuchte ich ihn zu Hause. Da erfuhr ich, dass seine Mutter eine Tutsi war, deren Familie ausgerottet worden war. Sie selbst hatte überlebt, weil sie mit einem Hutu verheiratet war. Ich konnte mir das Leid, das Pino im Herzen trug, kaum vorstellen. Er war sicher zerrissen wie das ganze Volk. Die Priester im Seminar haben uns dann geholfen zu erkennen, dass aus diesem gemeinsamen Schmerz ein Neuanfang entstehen kann, wenn wir uns in den jeweils anderen hineinversetzen.“

Die folgenden Jahre verbrachte Jean Paul in Italien, wo er Theologie studierte. Mit der Zeit jedoch wurde der Wunsch nach einer Familie immer stärker. Daraus reifte über Monate, begleitet von den Oberen im Seminar und von seinem Bischof, die Entscheidung, das Priesterseminar zu verlassen. Nach seiner Rückkehr nach Ruanda traf er wieder auf Marie Louise, die mittlerweile eine Ausbildung zur Krankenschwester machte. Auch für sie waren die Jahre nach dem Genozid eine schwierige Zeit gewesen, in der sie eine Entwicklung durchgemacht hatte. Die beiden verlobten sich und beschlossen zu heiraten. „Es war nicht leicht, meiner Familie zu sagen, dass ich eine Hutu heiraten würde. Der Vater von Marie Louise war in den Kongo geflohen und dort gestorben, was die Sache noch schwieriger machte. Einige Verwandte grüßten mich nicht mehr, beschuldigten mich, ich hätte die Verbrechen vergessen, die die Hutu begangen hätten. Doch unsere Liebe, geführt durch Gott und in Treue zu Gebet und Kirche, war größer. Sie war ein Geschenk des Himmels. Kein Völkermord hätte sie auslöschen können. 2013 haben wir geheiratet, heute haben wir zwei Söhne namens Samuel und David. Und wir können bekräftigen, dass Hutu und Tutsi viel mehr verbindet als trennt. Doch wir mussten jeder in die Schuhe des anderen schlüpfen, um das zu verstehen.“

Und Marie Louise erzählt: „Eines Tages hörte ich mit vielen anderen das Zeugnis eines Beteiligten am Völkermord, der Menschen in Shangi getötet hatte. Jean Paul, den ich erst seit kurzem kannte, war auch dabei und sagte mir, dass sein Vater vielleicht unter den Opfern in dieser Pfarrei gewesen sei. Seine Leiche sei nie gefunden worden. Ich hatte den Eindruck, als spräche er über mich. Aber er hatte sehr großes Vertrauen in Gott und in die Zukunft. Dort wurde mir bewusst, dass uns das gleiche Schicksal verbindet. Beide sind wir ohne Vater aufgewachsen, ohne ein Grab, an dem wir trauern können, aber mit Glauben und Hoffnung. Das haben wir in unsere Ehe eingebracht. Wie wir uns gegenseitig kleinere Dinge vergeben, so lernen wir, auch das größere Unrecht zu vergeben.“
„Die Regierung hat in Ruanda sehr viel für die Versöhnung getan“, erklärt Jean Paul. „Schon unmittelbar nach dem Völkermord wurde die Einteilung in ethnische Gruppen abgeschafft. Jetzt steht in den Dokumenten ‚ruandisch‘ und sonst nichts. Aber viele Wunden sind noch offen. Daher müssen wir weiter beten, damit die Botschaft der Muttergottes von Kibeho nicht auf taube Ohren stößt. Der Völkermord war ein Aufruf zur Bekehrung. Wie viele Werke, wie viele Charismen, wie viel Gutes ist auch aus diesem Leid hervorgegangen. Ich habe die Folgen des Hasses am eigenen Leib erfahren, aber genauso, wie viel stärker Vergebung und Liebe sind. Auch deswegen“, so schließt Jean Paul, „bringe ich jeden Sommer meine italienischen Schüler nach Ruanda: Damit sie mit eigenen Augen sehen können, dass es möglich ist, Frieden zu schließen.“