© Andrea Leon/Unsplash

Ein Plan im Gefängnis

Ein Häftling, der lange Zeit ein „Nichtleben“ geführt hat, erklärt: „Jetzt sehe ich einen Weg vor mir, dem ich folgen will.“
Alessandro Cozzi

Vor ein paar Jahren, kurz nach Beginn meiner Haft, erhielt ich einen Brief von einem Freund, der schwer krank war. Ich hatte großes Mitleid mit ihm und schrieb ihm, auch er lebe ein bisschen „eingesperrt“ wie ich: Er könne sich nicht frei bewegen, nichts tun. Auch er habe Zeitpläne, die ihm andere auferlegten, und müsse Regeln befolgen. Unsere Erfahrungen seien ähnlich. Er sagte, er vermisse alles, er spüre die Grenzen, die Mauer, die er nicht überschreiten könne ... Als ich hier angekommen war, litt ich genauso. Ich konnte nichts mehr von dem tun, was ich vorher getan hatte. Im Gefängnis, abgeschnitten von der Wirklichkeit, in einer Welt, die nicht meine eigene war. „Nichtleben“ nannte ich meinen Zustand. Und ich sagte mir, jetzt sei ich halt dort und könne nur warten, bis es vorbei sei. Mein Ziel war, in das wahre Leben zurückzukehren, meine Familie wiederzusehen, die mich – dank Gottes Gnade – nie im Stich gelassen hat, und meine vielen Freunde, von denen keiner schockiert war und sich abgewandt hat.

Doch die Tage, die Monate, die Jahre, die vergingen, brachten mich nach und nach dazu, meine Meinung zu ändern: Nur zu warten ist nicht der richtige Weg. Sich damit zu begnügen, die Zeit verstreichen zu lassen, ist die große Versuchung derer, die die Freiheit zum Handeln verloren haben. Das ist wirklich eine Versuchung, denn der Mensch kann ohne Freiheit nicht leben. Ich wusste das. Aber wenn man das erlebt und mit Händen greifen kann an einem Ort wie diesem, an dem alle normalen Freiheiten beschränkt sind, hat man nur zwei Möglichkeiten: Man findet sich mit dem Verlust ab oder man sucht nach einer anderen Dimension. Von „außen“ kann man sich nicht vorstellen (ich kann es selbst kaum glauben), wie viele Menschen ich getroffen habe, die die erste Option gewählt haben. Sie stopfen sich mit Beruhigungsmitteln voll, um schlafen zu können, und verbringen ihre Stunden in einer betäubten Lethargie. Sie malträtieren sich mit Liegestützen und Gewichtheben, sie liegen in ihrer Koje und saugen jeden Unsinn auf, der im Fernsehen läuft, sie spielen stundenlang Karten, rauchen und trinken Kaffee, und haben keinerlei anderen Horizont. Das sind die Resignierten. Sie lassen sich fallen und warten darauf, dass die Zeit des Nichtlebens früher oder später zu Ende geht. Das mag ein verführerischer Gedanke sein, vor dem man sich aber unbedingt hüten sollte, denn er ist einfach nicht wahr. Es gibt kein Nichtleben: Entweder man ist lebendig oder man ist tot.

Ich habe meine innere Freiheit zuerst in Büchern gesucht. Ich liebe das Lesen und habe schon immer viel gelesen. Also habe ich mich in Bücher vertieft. Ein Roman, ein Essay, eine Lektüre, die den Geist nährt, ist eine große Hilfe. Das gilt auch für Musik oder die Korrespondenz mit Freunden: Schätze, die meine Tage aufhellten. Als ich diesen Weg zur Freiheit wiederentdeckte, fand ich heraus, dass es auch im Gefängnis Realitäten gibt, die einem helfen können. Zunächst arbeitete ich in der Anstaltsbibliothek – ein ziemlich anspruchsvoller Name für einen Raum mit ein paar Bücherregalen. Aber das war halt, was es dort gab.
Dann stieß ich auf die Initiativen der vielen Freiwilligen, die in die Gefängnisse kommen. Sie organisieren Workshops, Treffen, Vorträge, Diskussionsgruppen, Lesegruppen, Schreibgruppen ... Einige Jahre lang war ich beim Chor der Alpini, die einmal pro Woche ins Gefängnis kamen, um mit uns zu singen. Das künstlerische Ergebnis war bescheiden, aber die Beziehungsatmosphäre war sehr gut. Nach und nach lernte ich einige meiner Mitgefangenen kennen und merkte, dass ich nicht der Einzige war, der sich auf den Weg gemacht hatte. Nicht wenige verweigerten das Nichtleben und „lebten“ auch dort, wenn auch mit all den Einschränkungen und Zwängen. Ich las also, schrieb, tauschte Ideen und Erfahrungen aus, versuchte mich erst im Chor und dann als Autor und Theaterregisseur (gemeinsam mit einem Freund organisierte ich ein Konzert mit Liedern und literarischen Stücken). Ich schrieb für verschiedene Zeitungen, immatrikulierte mich erneut an der Universität und entdeckte trotz meines fortgeschrittenen Alters die Freude am Studium wieder. Sehr gerne half ich dabei, die reichen Erfahrungen einer Freiwilligen, Anna, die als Missionarin in Tigray, Nordäthiopien, gewesen war, in ein Buch zu verwandeln ...

Ich habe mit den Alpini gesungen, Freiwillige getroffen, innere Freiheit in Büchern, im Schreiben, in der Musik gesucht... Alles wurde zu einem Instrument, um mir zu beweisen, dass man „innerlich frei“ sein kann.

Alles wurde zu einem Instrument, um mir zu beweisen, dass man „innerlich frei“ sein kann. Aber das ist leichter gesagt als getan. Die Freiheit, von der hier die Rede ist, bekommt man nicht geschenkt: Man muss sich befreien, um frei zu sein. Zuallererst von seinen Gedankenkonstrukten und Masken. Was mich betrifft, so habe ich nach den ersten unsicheren Schritten die Gründe analysiert, warum ich im Gefängnis saß, und erkannt, dass die Tat, die ich begangen habe, jenseits zufälliger Umstände – an die ich nie gedachte hätte – wahrscheinlich uralte Wurzeln hat. Wie wenig hellsichtig muss ich gewesen sein, um zu tun, was ich getan habe!

Die Dinge beim Namen zu nennen, die Tatsachen anzuerkennen, zu sagen, dass eine Sache so ist, wie sie ist, kurz gesagt, die Wahrheit auszusprechen, war ein unerlässlicher Schritt. Der brachte mich zu der Erkenntnis, dass es hinter diesen Dingen noch eine weitere Stufe zu erklimmen galt. Und das brachte mich dazu, meine Freiheit einzusetzen, um anderen zu helfen. Zu Beginn meiner Haft war ich lange Zeit sehr voreingenommen. Die anderen schienen mir so anders als ich. Meine Welt war so weit entfernt von der der meisten hier. Ich dachte, wir hätten sicher nichts gemein, und versuchte, mich zu distanzieren, mich von fremden Schicksalen abzugrenzen. Aber das war falsch. Und inzwischen glaube ich, einen Weg gefunden zu haben.

Ich helfe anderen, so gut ich kann und ohne Vorurteile. Kleine Dinge. Ich schreibe Briefe oder Anträge für Leute, die nicht wissen, wie das geht. Ich fülle die tausend Formulare aus, mit denen die Gefängnisbürokratie sich wichtigtut. Ich erkläre vielen die Bedeutung der Anschläge, die überall hängen ... Vor allem aber höre ich den Menschen zu und rege sie – und mich selbst – zum Nachdenken an. Ich versuche, mit allen auszukommen, was zugegebenermaßen oft schwierig ist. Und es ist auch schon vorgekommen, dass ich Spannungen entschärfen und Streitereien beilegen konnte. Das sind oft nur Kleinigkeiten, aber sie tun mir sehr gut. Und ich weiß mit absoluter Sicherheit, dass nichts davon Zufall ist. Obwohl der Weg, auf dem ich mich befinde, wie man sich denken kann, sehr schmerzhaft und anstrengend ist, erkenne ich einen Plan, der ihn vorzeichnet. Meine Hoffnung und mein Wille ist es, den anzuerkennen und diesen Weg weiterzugehen. Das ist für mich Freiheit.