Wie Simon von Cyrene
Marta Scrignaro arbeitet als Pädagogin in einem Kinderhospiz und steht oft vor dem „nicht zu eliminierenden Geheimnis“ des unschuldigen Schmerzes von Kindern und ihren Familien.„Schmerz und Tod zu verdrängen, hilft nicht, um das Leben bewältigen zu können.“ Da hat Marta Scrignaro keinen Zweifel. Sie ist Leiterin des pädagogischen Dienstes in der „Casa Sollievo Bimbi“, dem ersten Kinderhospiz in der Lombardei. Es wurde 2019 in Mailand eröffnet durch den Verein Vidas, der seit mehr als vierzig Jahren in der Palliativpflege aktiv ist.
Die „Casa Sollievo Bimbi“ nimmt Kinder und Jugendliche auf, die lebensverkürzende oder lebensbedrohliche Erkrankungen haben und voraussichtlich bald sterben werden. „Hier finden die jungen Patienten und ihre Familien ein multidisziplinäres Team, dessen Aufgabe es ist, mit Schmerzen umzugehen, die in der Palliativmedizin als ‚total pain‘ bezeichnet werden, da sie die physische, psychische, soziale und spirituelle Dimension umfassen und den ganzen Familienkern betreffen.“
Eine der wichtigsten Facetten von Martas Arbeit ist dabei das Zuhören. Die kleinen Patienten und ihre Geschwister haben ganze einfache, aber wesentliche Bedürfnisse und Wünsche: „Ein Kind fragte zum Beispiel, ob es seinen Hund und sein Meerschweinchen mitbringen dürfte, und wir haben entsprechende Vorkehrungen dafür getroffen. Ein Mädchen bat mich, ihr zu zeigen, wie sie mit ihrem Bruder spielen könne, der sich aufgrund seines Zustandes weder bewegen noch sprechen konnte. Ein anderes Mädchen wollte so gerne mit beiden Eltern Skilaufen gehen, was bisher nicht möglich war, da Mama und Papa abwechselnd zuhause bleiben mussten bei dem kranken Brüderchen. Wir von Vidas bieten auch diese Art der Unterstützung an: Die Eltern können ihr krankes Kind für ein paar Tage hierlassen und sich Zeit nur für ihre anderen Kinder nehmen.“
Doch Marta ist täglich auch mit dramatischen, teilweise unausgesprochenen Fragen konfrontiert: „Wird mein Bruder sterben? Und was kommt danach?“ Damit umzugehen ist nicht einfach, vor allem für Erwachsene. „Ein französischer Anthropologe, David Le Breton, hat einen sehr treffenden Ausdruck geprägt, als er den Schmerz als ‚ein Ausbluten des Sinns‘ definierte.“ Er sagt: „Der Schmerz Unschuldiger verlangt nach einem Warum. Oft versuchen wir, sofort eine Antwort zu finden, die mit unserem Wertehorizont übereinstimmt (Pech, Zufall, der Wille Gottes …), so dass die tiefe Verwundung, die wir spüren, gelindert wird. Oder wir fliehen und verdrängen alles. Aber es gibt eine Dimension nicht zu eliminierenden Geheimnisses im Leid: und das ist das Schwindelerregende. Ich weiß nicht, warum ein Kind leiden muss, warum einigen Eltern ein so großes Opfer abverlangt wird. Aber ich denke an Jesus am Ölberg, auf dem Kalvarienberg, am Kreuz: Auch er hat geweint und fühlte sich verlassen. Auch er, der sicher wusste, dass er auferstehen werde, hat einen Moment der Gottverlassenheit erlebt.“
Gibt es eine Methode, wie man mit Menschen umgeht, die so sehr leiden müssen? „Ich lasse mich immer wieder erziehen von den Kindern, die mir begegnen“, antwortet Marta. „Angesichts der Krankheit und des Todes sieht man ihnen immer die Angst an, aber auch eine gewisse Neugierde. Sie erfassen diesen doppelten Sinn der Wirklichkeit: Sie jagt einem einerseits Angst ein und will andererseits entdeckt werden. Wir müssen zu diesem offenen Blick auf die Wirklichkeit ermutigen und ihn wieder lernen.“ Nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: „Ich denke oft an Simon von Cyrene, der in aller Stille für Jesus das Kreuz ein Stück Weges getragen hat. Oder an Veronika, die ihm fürsorglich das Gesicht abwischte. Oder an Maria und Johannes, die zu Füßen des geliebten Sohnes und Freundes unter dem Kreuz standen, ohne zu versuchen, ihn seinem ungerechten Schicksal zu entreißen. Drei konkrete, alltägliche Gesten, unsichtbar vor den Augen der Welt: unterstützen, lindern, behüten. Genau das möchten wir tun für die Familien, die hierherkommen. Und so geschieht dann oft das Wunder, dass die Hoffnung aufersteht. Nicht Worte oder einfache Antworten helfen einem, das Leid durchzustehen, sondern das Bewusstsein: Auch wenn es sinnlos erscheint, kann oft Unerwartetes geschehen, durch das man wieder ahnt, dass es auch etwas Gutes hat.“
Eine Mutter sagte ihr einmal: „Als wir euch kennengelernt haben, hatten wir keine Hoffnung mehr. Denn alle Behörden in unserer Region hatten uns gesagt, unser Sohn sei zu schwer krank und es hätte keinen Sinn, Geld in einen Hauslehrer zu investieren. Als wir dann aber sahen, dass er für euch einen Wert hat, dass man gemeinsam einen Weg gehen kann, dass ihr ihm den Platz freihaltet, auch wenn er nur selten kommen kann, weil es ihm oft zu schlecht geht, war das für uns wie ein neues Leben.“
Die ärztliche Direktorin von Vidas, so berichtet Marta, erinnert oft daran, dass das Leid anderer keine Gefahr darstellt, nicht ansteckend ist, sondern einem etwas zurückgibt und Kraft. „Der Begriff Palliativmedizin kommt nicht zufällig vom pallium des heiligen Martin von Tours, also von dem Mantel, mit dem er einen vor Kälte zitternden Armen bedeckte. Er zerteilte ihn mit seinem Schwert und behielt eine Hälfte für sich, was ein Zeichen dafür ist, dass Martin sich bewusst war, wie zerbrechlich, verwundbar und bedürftig er selbst ist. Nicht er ist es, der den anderen rettet. Als er am nächsten Morgen aufwachte, war der Mantel wieder ganz. Am Ursprung der Palliativmedizin steht auch die Dankbarkeit als ein konstitutives Element der Beziehung in der Pflege.“
Am Lebensende geht es immer auch um äußerst heikle Themen. „Viele Fallberichte haben die öffentliche Debatte stark polarisiert und dazu geführt, dass man sich positionieren musste in Bezug auf die Zulässigkeit bestimmter medizinischer Maßnahmen. Aber das sind sehr komplexe Entscheidungen. Ich glaube, wir brauchen hier die Demut, einen Schritt zurückzutreten. Wir müssen sehen, dass Sterben ein Prozess ist, der mit dem ganzen Leben eines Menschen zu tun hat. Deshalb wird in der Palliativmedizin immer ein multiprofessionelles Team tätig, das sich täglich austauscht, in dem Bewusstsein, dass nur die verschiedenen Blickwinkel gemeinsam zu einem Urteil kommen können. Keine Behandlung ist an sich gut oder schlecht, aber sie muss angepasst werden an das klinische Bild und die Lebensgeschichte der Person, des Kindes, der Familie.“ Wie Papst Franziskus sagt, ist „zusätzliche Weisheit notwendig, weil heute die heikle Versuchung stärker ist, mit Behandlungen fortzufahren, die zwar starke Wirkungen auf den Körper haben, aber zuweilen nicht dem ganzheitlichen Wohl des Menschen dienen“.
Angesichts dieser hochsensiblen Themen am Lebensende kommt Marta auf den Anfang zurück. Auf diese Suche nach einem Sinn, die einen immer wieder herausfordert und nie loslässt. „Man darf keine Angst vor offenen Fragen haben. Die Heiligkeit des Lebens zu ehren bedeutet, vor seinem Geheimnis stehenzubleiben und alle im Spiel befindlichen Faktoren anzunehmen, in dem Bewusstsein, dass heute der natürliche Tod teilweise durch einen „medizinischen Tod“ ersetzt wurde, der eine Fülle von Interventionen ermöglicht und das Ende des Lebens immer weiter hinausschiebt und so zahlreiche Probleme ethischer Natur aufwirft. Und die treten jeweils im Hier und Jetzt dieser einzigartigen und unwiederholbaren Begegnung auf, die jede menschliche Beziehung darstellt. Die Begegnung mit dem Tod macht einem deutlich, dass das nie verloren gehen kann, was man geliebt hat. Die wahre Herausforderung besteht darin, lieben zu lernen.“