Die Eröffnungssitzung mit Kardinal Pizzaballa (Photo Meeting Rimini)

„Nichts ist so real wie die Begegnung mit Christus“

Berufung und Hl. Franz, Krieg und Vergebung, die christliche Präsenz im Heiligen Land und der wahre Dialog. Der Beitrag des lateinischen Patriarchen von Jerusalem, Pierbattista Pizzaballa, zur Eröffnungssitzung des Rimini-Meetings (Rimini, 20. August 24)

Der Text der Eröffnungssitzung des Meetings in Rimini mit dem Titel: „Für den Frieden da sein““, bei der der Präsident des Meetings, Bernhard Scholz, mit Kardinal Pierbattista Pizzaballa, lateinischer Patriarch von Jerusalem, über die dramatische Situation im Heiligen Land sprach. Vor dem Dialog verlas der Bischof von Rimini, Nicolò Anselmi, die Botschaft von Papst Franziskus, während Scholz die Grüße des italienischen Präsidenten, Sergio Mattarella, überbrachte.

Bernhard Scholz. Wir sind zutiefst dankbar, dieses Meeting mit einer Person eröffnen zu können, die sich Tag für Tag auf dramatische Weise der Herausforderung des Wesentlichen stellt. Und zwar dort, wo die Gegenwart voller Schmerz ist und die Zukunft aussichtslos erscheint, wo der Glaube immer radikaler neu ergriffen werden will und wo die Hoffnung sich als wahrhaft heroische Tugend erweist. Zusammen mit Ihnen allen begrüße ich den Patriarchen von Jerusalem, Pierbattista Pizzaballa. Danke für Ihr Kommen. Wir sind uns der Situation im Heiligen Land sehr wohl bewusst, die selbst die Reise hierher schwierig gestaltet hat. Eminenz, ich möchte diesen Dialog mit Ihrer Berufung beginnen. Vor genau 40 Jahren sind Sie in den Franziskanerorden eingetreten. In der Vorbereitung auf dieses Meeting haben Sie sich mehrmals auf den heiligen Franziskus bezogen, weil er vielleicht einer der wichtigsten Heiligen in Ihrem Leben war; er, der die Schöpfung in einer wirklich erstaunlichen Weise zu schätzen wusste, in jeder ihrer Äußerungen, auch im Detail. Gleichzeitig lebte er eine grenzenlose Bruderschaft, die sogar so weit ging, dass er inmitten der Kreuzzüge einem Sultan begegnete. Was bedeutet es für Sie, heute Franziskaner zu sein?

Pierbattista Pizzaballa. Ich werde versuchen, mich kurz zu fassen. Zunächst einmal ist jede christliche Berufung auf die Person Jesu Christi ausgerichtet. Alles dreht sich um diese Erfahrung, die einen aufbaut und die grundlegend ist. Franziskaner zu sein bedeutet, Christus zu begegnen, Christus auf eine Art und Weise zu erfahren, die Franziskus vorgelebt hat. Der heilige Franziskus, der Vater Franziskus. Und was, so würde ich sagen, für die Identität des heiligen Franziskus von essenzieller Bedeutung war, ist die Fleischwerdung, die Menschlichkeit Jesu. Diese Erfahrung ist auf reale, konkrete Weise in sein Leben eingetreten. Sie hat seine Sichtweise der Menschheit, der Welt, der Schöpfung, aller Dinge erlöst. Ich habe mich schon als Junge damit beschäftigt – übrigens unter anderem genau hier in Rimini... Mich hat diese Konkretheit, mit der Franziskus seine Berufung zur Begegnung mit Christus gelebt hat, angezogen. Die Gefahr besteht nämlich immer darin, Jesus als eine abstrakte Realität zu betrachten. Es ist aber nicht so. Es gibt nichts Wirklicheres als die Begegnung mit Christus. Und heute befinde ich mich, wie man auch an meiner Kleidung erkennen kann, in einer anderen Wirklichkeit. Als ich bei den Brüdern war, war das alles viel selbstverständlicher, auch das Äußere, das Sichtbare, hat dich mehr oder weniger unterstützt. Jetzt muss ich diese Erfahrung des Menschseins Christi, der Begegnung mit Christus, in die Realität einbringen, die ich heute lebe, nämlich die des Pfarrers einer Kirche, der Kirche von Jerusalem, die in einer Situation lebt, die immer schon sehr speziell, sehr schwierig und konfliktreich war. Die Frage, die sich mir heute stellt, lautet also: Was bedeutet es, Franziskaner zu sein? Für mich persönlich bedeutet es vor allem, mich immer wieder zu fragen, was Jesus mir in diesem Augenblick sagt. Das muss das Kriterium werden, mit dem die Situationen, der Schmerz, die Trennung, die Müdigkeit aller Sinne zu lesen sind, sodass das, was ich lebe, diese Erfahrung durchläuft, welche weiterhin die Grundlage meines Lebens sein muss. Und dann versuche ich, auf persönlicher Ebene, diese Erfahrung an die Gemeinschaft, an meine kirchliche Gemeinschaft weiterzugeben. Um – besonders in dieser so zerrissenen und polarisierten Situation – dabei zu helfen, sagen zu können: Lasst uns einen Moment von Christus ausgehen. Jede Bewertung, jede Entscheidung, jede Wahl, jedes Wort, das gesagt wird, muss mit dieser Erfahrung, mit dieser Beziehung, mit dieser Freundschaft vereinbar sein. Das bedeutet es für mich heute, Franziskaner zu sein.

Scholz. Ihr Orden schickte sie 1990 an das Studium Biblicum Francescanum in Jerusalem. Neben dem Studium der Heiligen Schrift traten Sie sofort in einen Dialog mit anderen Religionen, mit Juden, mit Muslimen. Welchen Einfluss hatte dieser Dialog, den sie nicht nur auf akademischer und theologischer Ebene, sondern auch ganz persönlich erlebt haben?

Pizzaballa. Ich glaube, ich habe das schon vor einigen Jahren hier beim Meeting erwähnt. Es war eine wichtige Zeit, auch persönlich. Ich stamme aus der Bassa Bergamasca [Region südlich von Bergamo. A.d.Ü.], wo man – heute nicht, damals schon – bereits vor der Geburt katholisch war. Und wo der Pfarrer Papst, König und Kaiser war! Von dort bin ich dann im Alter von elf Jahren ins Knabenseminar der Brüder, hier in Rimini, gegangen. Ich wuchs also in einem, sagen wir mal, ‚hyperkatholischen‘ Umfeld auf, wo der Katechismus, die Ausbildung, wo alles katholisch war. Man könnte es so ausdrücken: Ich war wie in „katholische Watte gepackt“. Als ich dann nach Jerusalem ging – ich studierte damals die Schrift –, war das der erste Moment, in dem ich erkannte, dass die große Mehrheit der Menschen nicht nur nicht katholisch, sondern nicht einmal christlich ist. Ich wurde von meinem damaligen Oberer zum Studium an die Hebräische Universität geschickt, wo ich der einzige Christ in meiner Klasse war. Alle meine Kommilitonen waren Juden, religiöse Juden, die die Heilige Schrift studieren wollten. Natürlich tauchten dort die ersten Fragen auf: „Was bedeutet es, Christ zu sein?“, „Wer ist Jesus?“. Wir begannen, das Evangelium gemeinsam zu lesen, aus Freundschaft. Und das war für mich ein wichtiger Moment. Das ist meiner Meinung nach der wahre interreligiöse Dialog. Ich, der ich schon vor meiner Geburt katholisch war und deshalb alles kannte, das Leben, den Tod und die Wunder Jesu, der ich alle Fragen aus dem Katechismus etc. beantworten konnte, ich merkte, dass ich nicht wusste, was ich auf ihre Fragen über Jesus sagen sollte. Ich habe geantwortet, aber sie haben es nicht verstanden. Meine Antworten waren durchdacht, aber nur für den, der bereits katholisch war. Diejenigen, die nicht katholisch oder christlich waren, verstanden nichts. Lassen Sie mich ein Beispiel geben. Ich werde mich immer an einen für mich persönlich sehr wichtigen Moment erinnern, der meinen Glauben und auch meine Berufung erneuert hat. Shulamit – mit der ich immer noch von Zeit zu Zeit spreche –, Jüdin, religiös, verheiratet mit einem Rabbiner, sagte einmal zu mir: „Schau, ich muss abends arbeiten, ich schaffe es nicht jede Woche, das Evangelium zu lesen, also muss ich abbrechen. Aber ich habe eine Frage an dich, jetzt, wo das Eis zwischen uns gebrochen ist. Jesus ist faszinierend, das Evangelium ist ein wunderschönes Buch, ich finde nichts problematisch, außer einer Sache, die du mir also erklären musst: die Auferstehung. Auch ohne die Auferstehung wäre Jesus eine faszinierende Figur und das Evangelium bliebe ein äußerst wichtiges Buch. Warum müsst ihr ihn auferstehen lassen?“ Sie hatte alles verstanden. Und ich geriet in eine Krise, denn sie verstand meine Antwort nicht. Ich sah an ihrem Blick, dass sie nichts verstanden hatte, und so trennten wir uns. Das nagte an mir. Ich war nicht in der Lage, die Auferstehung zu erklären. Aber dieses jüdische Mädchen, das nicht an Christus glaubt, hat mir einen Aspekt meines Glaubens neu aufgezeigt, dem ich mich nicht mit voller Kraft zugewendet hatte: die Auferstehung. Und da versteht man, dass man die Auferstehung nicht erklären kann, man muss ihr begegnen. In den Evangelien steht keine Beschreibung der Auferstehung selbst geschrieben, sondern die Begegnung mit dem Auferstandenen. Das ist für mich der interreligiöse Dialog. Es ist die Begegnung zwischen Menschen, die eine Glaubenserfahrung haben, auch wenn sie unterschiedlich ist, die aber, wenn sie geteilt wird, hilft, das eigene Selbst besser zu verstehen und den anderen besser kennenzulernen. Und das ist eine Erfahrung, die wir dringend brauchen.



Scholz. Wir werden auf diesen interreligiösen Dialog zurückkommen. Zunächst eine aktuelle Frage: Sie leben seit fast 35 Jahren in Jerusalem. Wie vielleicht nur wenige andere kennen Sie die Konflikte, die Gegensätze, auch in ihren Tiefen. Doch nach dem neuesten Kriegsbeginn vom 7. Oktober sprachen Sie von einer „noch nie dagewesenen Tragödie“. Und damit haben Sie nicht nur den bewaffneten Konflikt gemeint. Was meinten Sie, als Sie von „noch nie dagewesen“ sprachen?

Pizzaballa. Auch der bewaffnete Konflikt ist beispiellos: Es ist ein so langer Krieg... aber ich werde jetzt nicht auf die militärische Chronik eingehen, ich denke, dass Sie das ständig sehen. Auch wenn wir uns in einem entscheidenden Moment befinden, würde ich sagen, dass wir uns auf die laufenden Dialoge konzentrieren sollten. Ich muss sagen, dass die Auswirkungen dieses Krieges auf beide Bevölkerungsgruppen, die israelische und die palästinensische, einzigartig und – eben beispiellos sind. Bezüglich Israel kann man das unterschiedlich interpretieren, ich werde jetzt nicht darauf eingehen. Aber ganz allgemein war das, was am 7. Oktober geschah, ein unglaublicher Schock für Israel, was nämlich als das Land geboren wurde, in dem die Juden zu Hause sind und sich sicher fühlen können, und der 7. Oktober hat gezeigt, dass sie das nicht mehr sind. Für die Palästinenser ist das, was nicht nur in Gaza, sondern auf der ganzen Welt geschieht, etwas noch nie Dagewesenes und zeigt daher eine enorme Auswirkung. Bereits bestehende Gefühle haben sich verschärft und sind nun, sagen wir, zu einer gemeinsamen Sprache geworden: Hass, Groll, Rache, Gerechtigkeit (als Rache verstanden), tiefes Misstrauen und Unfähigkeit, die Existenz des anderen anzuerkennen. Es gibt eine Stelle im Buch Jesaja, Kapitel 47, Verse 8 und 10, auf die ich in den letzten Monaten oft zurückgekommen bin. Jesaja prangert das damalige Babylon an, das sagte – und das war der Grund, warum es angeklagt wurde –: „Ich und sonst niemand“. „Ich und kein anderer“ ist auch der Name Gottes: „Du sollst keinen anderen Gott haben als mich“. „Ich und kein anderer“, sagte Babylon. Ich habe den Eindruck, dass das, was jetzt geschieht „Ich und kein anderer“ ist: die Ablehnung der Existenz des anderen und eine Sprache der Ablehnung des anderen, die alltagsfähig geworden ist, die man in den sozialen Medien geradezu einatmen kann, und das ist etwas wirklich Dramatisches. Der Krieg wird enden. Ich hoffe, dass es bei den laufenden Verhandlungen zu etwas kommt, aber ich habe da so meine Zweifel... Jedenfalls ist das die letzte Chance. Wenn es jetzt nicht zu einem Waffenstillstand kommt, wird es wirklich dramatisch werden. Es ist aktuell eine entscheidende Situation. Sie kann sich in Richtung Waffenstillstand entwickeln, oder auch in die komplett andere Richtung… Alles hängt von den nächsten Tagen ab, weshalb ich zum Gebet aufgerufen habe, denn das ist das Einzige, was wir noch tun können, und es ist wichtig. Also, der Krieg wird, sei es in dieser oder einer anderen Welt, enden. Aber der Abbau von Misstrauen, Hass und tiefer Verachtung wird eine gewaltige Anstrengung sein, die uns alle beschäftigen muss.

Scholz. Welche Rolle spielen dabei die Verantwortlichen der verschiedenen Religionen?

Pizzaballa. Sie haben eine wichtige Rolle. Sagen wir, der interreligiöse Dialog befindet sich im Moment in einer Krise. Diese Situation stellt auch einen Wendepunkt für den interreligiösen Dialog dar. Es ist eine Tatsache, dass sich Christen, Juden und Muslime im Moment nicht wirklich treffen können, zumindest nicht öffentlich. Und selbst auf institutioneller Ebene tun wir uns schwer, miteinander zu reden. Das ist ein großer Schmerz, auch für mich persönlich. Es gibt einige schöne Dokumente, die den religiösen Dialog in diesen Generationen bezeugen, wie jüngst in Abu Dhabi über die Brüderlichkeit. Aber es ist eine Tatsache, dass wir uns im Moment nicht treffen und miteinander reden können. Alles, was bisher getan wurde, ist wichtig, es darf nicht verworfen werden, aber wir müssen dann mit einer neuen Phase beginnen. Der interreligiöse Dialog muss, wenn ich so sagen darf, weniger elitär und mehr gemeinschaftsbezogen sein, er muss das betroffene Gebiet erreichen. Wenn es uns jetzt nicht gelingt, einander zu verstehen, liegt es vielleicht auch daran. Außerdem, um Ihre Frage zu beantworten, haben religiöse Führer eine große Verantwortung. Sie müssen nicht nur zuhören – ich denke dabei auch an meinen eigenen Orden –, nicht nur die Stimme ihrer eigenen Gemeinschaft sein, sondern ihr auch helfen, sich nicht in der eigenen Geschichte zu verschließen, sondern nach oben zu schauen, den anderen zu sehen, ihn anzuerkennen. Ein Rabbiner in den 1960er Jahren, Heschel, sagte, dass keine Religion eine Insel ist, und heute, mehr denn je, auch kein einziger eine Insel ist: Wir müssen mit allen in Beziehung treten, und das hat Konsequenzen. Sich selbst anzuerkennen, sich selbst anzunehmen, bedeutet auch, den anderen so zu akzeptieren, wie er oder sie ist, und nicht, sich dem anderen aufzudrängen. Das ist nicht einfach, das ist nicht selbstverständlich, aber es ist notwendig. Im Moment habe ich den Eindruck, dass wir wieder ein bisschen zu Inseln geworden sind, dass wir uns nur noch um uns selbst kümmern. Stattdessen müssen wir nach oben schauen und anerkennen, dass wir keine Inseln sind.

Scholz. Zuerst als Kustos des Heiligen Landes und jetzt als Patriarch von Jerusalem waren Sie immer verantwortlich für die Gemeinschaften, die dazu gehören...

Pizzaballa. Ja, leider. Es ist bequemer, keine Verantwortung zu haben.

Scholz. Ja, das verstehe ich. Das Problem ist, dass Sie eine noch schwierigere Aufgabe als vielleicht ohnehin schon hatten, denn Sie mussten Gemeinschaften mit Menschen sehr unterschiedlicher Völker leiten: Israelis, Palästinenser und dann noch viele andere. Was bedeutet es, christliche Gemeinschaft zu leben, wenn die Menschen zu politisch gespaltenen Völkern gehören?

Pizzaballa. Das stimmt, und in den Monaten nach Oktober gab es auch schwierige Momente für unsere Diözese. Sie erstreckt sich über vier verschiedene Nationen: Jordanien, Israel, Palästina und Zypern. Das arabische Israel, aber auch das jüdische Israel. Wir hatten Menschen in Gaza unter israelischen Bomben, aber wir hatten auch christliche Katholiken, die im Militär dienten. Also Leute an ganz unterschiedlichen Fronten. Das heißt zuallererst, dass es kein abstraktes Christentum gibt. Christentum ist immer fleischgeworden. Und deshalb muss man sich auch mit seiner eigenen Zugehörigkeit auseinandersetzen. Ein israelischer Christ ist Israeli, ein palästinensischer Christ ist Palästinenser, in jeder Hinsicht. Und die Einheit zu pflegen ist nicht einfach gewesen. Ich will sagen, es ist klar, dass man zu seinem Volk gehört, aber es gibt auch eine Zugehörigkeit zu Christus, die einem helfen muss, eine andere Sichtweise zu haben. Das ist nicht immer so unmittelbar. In den letzten Monaten habe ich über einen Abschnitt aus dem Evangelium nachgedacht: Jesus in Gethsemane, mit den Jüngern. Was taten die Jünger? Einige schliefen, andere flohen, wieder andere griffen zum Schwert. Und das sind die Versuchungen, denen wir ausgesetzt sind: zu schlafen, nicht sehen zu wollen, was geschieht, uns in einer Art ausgeklügelter Frömmigkeit zu verschließen, wo Gebet, Liturgie und Sakramente nicht sehen wollen, was um uns herum geschieht – und das ist eine durchaus mögliche Reaktion. Oder wir können weglaufen. Das heißt, eigentlich möchte man sehen, was geschieht, aber man will sich nicht wirklich damit auseinandersetzen. Und schließlich können wir das Schwert ergreifen und benutzen, d.h. zum Kampf übergehen. Das ist dann die aktive politische Phase. Die Antwort Jesu hingegen war, sich auszuliefern, was nicht bedeutet, dass wir uns selbst aufgeben, kapitulieren sollen. Es heißt, sein Leben hinzugeben, auf Gott zu vertrauen. „Vater, wenn es möglich ist, lass diesen Kelch an mir vorübergehen, doch nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ Ich vertraue mich dir an. Was ich meiner Gemeinde damit sagen will, ist, dass wir keine Antworten auf diese Situationen haben, aber wir haben eine Adresse, und zwar Gott. Und gemeinsam, jeder aus seiner eigenen Perspektive, mit seinem eigenen Schmerz, richten wir diese Frage an den, der allem, was wir tun, einen Sinn gibt.

Scholz. Der Anteil der Christen an der Bevölkerung im Heiligen Land liegt bei etwa 3% und ist damit im Vergleich zu früher deutlich gesunken. Wie wird die Kirche vor Ort wahrgenommen und welche Möglichkeiten gibt es, zur Versöhnung beizutragen?

Pizzaballa. Seien wir ehrlich: Niemand rechnet damit, dass die christliche Gemeinschaft die Probleme löst. Politisch betrachtet sind wir mehr oder weniger irrelevant, wenn ich das so sagen darf. Vielleicht wird das einige Leute wütend machen, aber so ist es nun einmal. Das Wichtigste ist, dass wir dableiben, dass wir da sind. Und dass wir nicht der Versuchung erliegen, in diesen Situationen unbedingt eine Rolle spielen zu wollen. Stattdessen wollen wir etwas sagen können. Wir wollen vor allem die eigene Gemeinschaft unterstützen, sie ermutigen, da sein. Wir können nicht alle Probleme lösen, aber wir müssen präsent sein. Wenn es eine Krise oder eine Schwierigkeit gibt, lautet die erste Frage, die einem gestellt wird, oft: „Wo warst du?“. Die Antwort muss lauten: „Ich war da, ich musste da sein.“ Das ist das Wichtigste. Dann: Unterstützung, Hilfe, auch materiell, nicht nur für die eigenen Leute, sondern auch für die anderen. Einer der Gründe, warum zum Beispiel unsere kleine Pfarrei in Gaza, die nur noch etwas mehr als 600 Menschen zählt, ihre Dynamik beibehält, ist der, dass sie sich nicht in sich selbst zurückzieht und auf das Ende des Krieges wartet, sondern versucht zu helfen, indem sie (natürlich mit unserer Unterstützung) Hilfsgüter, Lebensmittel und so weiter verteilt. Das andere Wort, das Papst Franziskus oft benutzt, ist ‚Parrhesia‘, Redefreiheit. Wir können das Problem nicht lösen, aber wir können ein Wort der Wahrheit über das Geschehen sprechen, in dem sich die Menschen wiederfinden können, ohne Teil der Konfrontation zu werden. Ich glaube, das ist die Rolle, die die Kirche spielen kann.

Scholz. Sie haben mehrfach davon gesprochen, dass es keine Versöhnung ohne Vergebung gibt, gleichzeitig haben Sie immer betont, dass Vergebung nicht erzwungen werden kann. Aber ist es möglich, in irgendeiner Art und Weise zur Vergebung aufzufordern, vor allem in objektiven und sehr dringlichen Situationen von Ungerechtigkeit?

Pizzaballa. Wie soll ich antworten... Es ist nicht leicht, diese Fragen zu beantworten, denn sie sind nicht abstrakt. Für uns im Heiligen Land sind Vergebung und Gerechtigkeit wichtige und schwierige Worte, die das Leben der Menschen ganz konkret und direkt betreffen. Deshalb muss man vorsichtig sein, wenn man über sie spricht. Der christliche Glaube lässt sich nicht von der Idee der Vergebung trennen. Der christliche Glaube ist die Begegnung mit Christus, und diese Begegnung ist eine, die dich rettet und dir vergibt. Wenn man Christus begegnet, Gott begegnet, macht man zunächst die Erfahrung, dass man Sünder ist. Aber dieses Bewusstsein ist keine Verurteilung, sondern eine Verkündigung des Heils. Diese Sünde ist errettet, erlöst, sie hat vor Gott keinen Wert mehr. Auf einer persönlichen Ebene sind Vergebung und Gerechtigkeit also fast Synonyme. Jesus am Kreuz wartete nicht darauf, dass Gerechtigkeit geübt wurde, um zu vergeben. Er vergab. Und es hat in der Geschichte Menschen gegeben, die sogar angesichts ihrer Hinrichtung, obwohl sie unschuldig waren, vergeben haben. Das sind sehr starke, schöne Erfahrungen. Auf persönlicher Ebene können Gerechtigkeit und Vergebung also nicht völlig voneinander getrennt werden, sie sind fast Synonyme, wenn sie vom Glauben erleuchtet sind. Bezüglich der Gemeinschaft ist die Dynamik eine andere. Auf der öffentlichen und gemeinschaftlichen Ebene steht der Begriff „Gemeinschaft“ auch für andere Worte: Würde und Gleichheit – das ist für das Leben einer Gemeinschaft grundlegend. Dementsprechend ist Vergebung ohne Würde und Gleichheit keine Geste, die Würde und Gleichheit bringt. Im Gegenteil, es bedeutet, ein Übel, das begangen wird, zu rechtfertigen. Es braucht also definitiv die Vergebung, aber die Dynamik ist eine ganz andere, sie braucht Zeit. Es ist ein Heilungsprozess, der zunächst die Akzeptanz und die Anerkennung des Bösen, des begangenen Unrechts erfordert, und der dann auch ein Wort der Wahrheit über das Geschehen benötigt. Denn wenn man nicht die Wahrheit sagt, wenn man die Dinge nicht klar benennt, was vergibt man dann? Aber das muss auf der Ebene der Gemeinschaft geschehen, mit einer ganz anderen Dynamik. In Südafrika gab es nach der Apartheid eine Kommission, die jahrelang daran gearbeitet hat, das Geschehene aufzuarbeiten, zu erkennen, zu verstehen, zu bewerten, zu heilen etc. Es ist also nicht einfach. Und als Priester befinde ich mich immer in dieser schwierigen Situation. Für einen Palästinenser bedeutet vergeben heute, das Geschehene zu rechtfertigen, er kann es nicht tun, er muss warten. Als Seelsorger kann ich jedoch nicht sagen: „Seht, es stimmt, dass ihr Gerechtigkeit üben müsst, aber denkt daran, dass Gerechtigkeit ohne Vergebung nur zu Schuldzuweisungen führt und die Person in die Ecke drängt.“ Sie kann zur Rache werden, die Gerechtigkeit. Es geht nicht darum, sich zu verschließen, dem anderen eine Wahrheit zu geben und ihn in die Enge zu treiben, sondern darum, die Situation zu überwinden. Und das kann nur durch Vergebung geschehen. Die christliche Gemeinschaft, der christliche Glaube, muss diesen Beitrag, muss diese Möglichkeit in die öffentliche Debatte einbringen. Vielleicht geht das nicht zu diesem Zeitpunkt. Wir müssen warten, auf persönlicher Ebene arbeiten, in kleinen Gruppen und so weiter, aber wir müssen auf eine Zeit hinarbeiten, in der wir es tun können, weil es der einzige Weg ist, diese Sackgasse zu überwinden.

Scholz. Um dieses sehr schwierige, existenziell schwierige Thema weiter zu vertiefen, würde ich gerne eine Frage stellen. So mancher Groll, so mancher Hass hat sehr tiefe, fast unausrottbare Wurzeln. Papst Franziskus hat in diesem Zusammenhang auch zu einem bußfertigen Gedächtnis aufgerufen, und Sie selbst haben den Ausdruck „Läuterung des Gedächtnisses“ verwendet. Was meinen Sie damit?

Pizzaballa. Auch hier in aller Kürze. Als ich ein Kind war, hat man mich gelehrt, das Gewissen zu prüfen. Das wird heute leider nicht mehr gemacht, aber damals hat man es mir gezeigt. Ich wusste nicht, was Sünde ist, aber die Nonnen sagten mir: „Aber was soll ich sagen?“ Es waren die Sünden, die ich begangen hatte. Es war eine Ausbildung, eine Erziehung dahingehend, sich bewusst zu werden, dass nicht alles im (eigenen) Leben klar, schön, sauber und gesund ist. Das Gedächtnis zu läutern, bedeutet vor allem, sich bewusst zu werden. Heute, mit fast sechzig Jahren, bin ich mir bewusst, dass ich bestimmte Dinge, die ich vor zwanzig, dreißig, vierzig Jahren getan habe, nicht hätte tun sollen, sie waren falsch, aber damals habe ich das nicht erkannt. Das Gedächtnis zu läutern, heißt also, sich bewusst zu machen, dass wir uns immer wieder neu lesen müssen, genauso wie unsere Beziehungen. Und zwar im Lichte der neuen Beziehungen, des neuen Bewusstseins, das wir erlangt haben. Man muss erkennen können, dass man vielleicht falsch gehandelt hat. Es kann sein, dass ich in der Vergangenheit eine Lesart hatte, die bestimmte Vorschläge rechtfertigte, welche aber heute überholt sind. Bewusstsein zu haben, das Gedächtnis zu reinigen, meint nicht, alles auszulöschen. Man muss nicht alles aufgeben oder sich selbst für nichtig erklären. Das ist es nicht. Aber ich muss verstehen, dass ich meine Geschichte immer wieder im Lichte des aktuellen Bewusstseins neu lesen muss. Und das kann in den Beziehungen zum anderen helfen, vor allem, wenn es um Fragen der Beziehung zum anderen in der Geschichte geht. Ich meine zum Beispiel unsere Beziehung zum Judentum in der Vergangenheit. Heute wissen wir, wie viel Böses wir getan haben. Das heißt nicht, dass wir uns selbst auslöschen müssen. Aber dieses Bewusstsein zu haben hilft mir heute, die Beziehungen neu zu lesen und nach einem anderen Modell, das nicht das der Vergangenheit ist, wiederaufzubauen. So müssen wir die ganze Zeit handeln. Wenn wir in unseren Narrativen verschlossen bleiben – was im Heiligen Land heute häufig geschieht –, wenn wir uns in geschlossenen, sogar ausschließenden Narrativen abriegeln, werden wir nie herauskommen. Heute sind die Narrative im Heiligen Land exklusiv, eines gegen das andere, nicht nebeneinander, sondern gegeneinander. Hier gilt es also, dieses Gedächtnis zu reinigen, was nicht bedeutet, die eigene Geschichte auszulöschen, sondern sie so neu zu lesen, dass sie mir hilft, heute anders zu leben als früher.

Scholz. Was diese „Läuterung des Gedächtnisses“ betrifft, so dachten wir alle, oder vielleicht nicht alle, aber zumindest die große Mehrheit, dass es sie, bezüglich eines dramatischen, tragischen historischen Phänomens wie des Antisemitismus, auch auf einer säkularen Ebene, tatsächlich gegeben hätte. Stattdessen stellen wir fest, dass er wieder auftaucht. Es ist nicht nur die Kritik an der israelischen Regierung, es ist wirklich Antisemitismus, sogar unter vielen jungen Menschen, der wieder auflebt. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?

Pizzaballa. Der Antisemitismus ist ein Drama. Es ist eine, an sich legitime, Sache, die Politik einer Regierung zu kritisieren. Eine andere Sache ist es, zu sagen, dass man nicht jüdisch sein kann. Das ist inakzeptabel und muss verurteilt werden. Auch hier gibt es, wie ich bereits sagte, ausgrenzende Narrative. Pro-Palästina, pro-Israel, das eine schließt das andere aus… Die religiösen Führer haben – auch wenn der aktuelle Antisemitismus eher politisch als religiös geprägt ist – eine wichtige Verantwortung, um zu vermeiden, dass sie instrumentalisiert werden. Wir müssen eine Kultur der Beziehungen, der gegenseitigen Akzeptanz schaffen, in der niemand ausgeschlossen wird. Der Antisemitismus ist eine Art Prüfstein, um zu verstehen, auf welchen Modellen sich die Gesellschaft bildet. Zivilisation wird mit der Gesellschaft und nicht gegen sie aufgebaut.

Scholz. In so vielen Bildern, die uns aus diesem Krieg erreichen, vor allem aus dem Gazastreifen, gibt es etwas, das jedes Mal, wenn wir es sehen, eine Frage aufwirft. Sie haben vielleicht eine Antwort darauf: Es ist das Leiden der Kinder. Warum sehen wir Kinder ohne Wasser, ohne Nahrung, verwaist, traumatisiert... gibt es auf dieses Leiden der Unschuldigen eine Antwort?

Pizzaballa. Nein. Mir scheint, dass wir in den letzten Jahren den Glauben manchmal auf eine Art Allheilmittel reduziert haben, auf einen Glauben, der alle Probleme löst, auf die Zugehörigkeit zur Kirche als einer vollkommenen Gemeinschaft etc. Das ist nicht der Fall. Auch im christlichen Glauben bleibt ein tragisches Element, es existiert. Unsere Fragen sind die Fragen von allen: Warum? Weil wir es wissen. Es ist die Bösartigkeit des Menschen, die diese Dinge anrichtet. Es macht keinen Sinn, dass Gott für das, was wir tun, Rechenschaft ablegen muss. Doch damit ist das Problem, das Drama, das tragische Element des Glaubens nicht gelöst. Im Glauben können wir diese Frage nur an Gott richten. In dieser Frage zu verbleiben, die uns jedoch auch stärkt und uns hilft, alles Mögliche zu tun, damit dies nicht geschieht, oder damit wir mit Gesten der Liebe diesen Schmerz und diese Tragödie, die wir in den Bildern aus Gaza und aus so vielen anderen Teilen der Welt sehen, so weit wie möglich ausgleichen können. Aber hier ist der Glaube eben nicht die Antwort auf alle Fragen. Der Glaube ist eine Beziehung, in der alle Fragen einen Platz finden.

Scholz. Danke, Danke. Ich möchte diese letzten Worte von Ihnen auch als Einladung zu unserer Umkehr verstanden wissen, denn zwischen Gefühlen der Ohnmacht und der Allmacht haben Sie uns dazu ermutigt, diese dramatischen Konflikte in einem anderen Licht zu sehen. Nicht weil es eine Lösung gibt, sondern weil es eine Hoffnung entgegen aller Hoffnung gibt. Das haben sie uns heute gezeigt und dafür danke ich Ihnen sehr.

Pizzaballa. Ich danke Ihnen.

aus: www.meetingrimini.org