„Jeden Augenblick sind wir gerufen“
Zeugnis von Monica Scholz-Zappa, einer der ersten Mitglieder von CL in Deutschland, beim Eröffnungstag in Bruchsal und Bonn 28./29. September 2024Wie hast du die Bewegung von CL kennengelernt, und was hast du in diesen Menschen gesehen, das dich dazu gebracht hat, Zeit mit ihnen zu verbringen? Was war für dich besonders überzeugend?
Der Titel dieses Eröffnungstags lautet „Gerufen, das heißt gesandt“. Diese unausweichliche Korrelation, diese grundlegende und ursprüngliche Verbindung ist nicht automatisch. Sie ist durchdrungen vom Respekt Gottes für unsere Zeiten und besonders für unsere Freiheit, die jeden Tag aufgerufen ist, sich zu entscheiden.
Dieses „das heißt“ ist ein Weg, dessen Anfang auch in meinem Leben die Form einer Begegnung hatte, wie alle Anfänge, von denen die Bibel erzählt, die letztlich alle Begegnungen waren – von der Samariterin bis zu Zachäus, von Nikodemus bis zu dem Blindgeborenen. Besser gesagt waren es bei mir mehrere Begegnungen, die einen unauslöschlichen Eindruck in meiner persönlichen Geschichte hinterlassen haben und weiterhin hinterlassen.
Es sind Begegnungen, in denen ich etwas Anderes, bis dahin Unvorstellbares erblickt habe. Etwas, das mich überraschte, weil es unerklärlicherweise das Richtige war für mich. So richtig, dass ich darin eine Verheißung ahnen konnte. Dank dieser Verheißung konnte ich diesen Begegnungen den Namen eines Rufes, einer Berufung geben – und nicht eines Zufalls. Diese Begegnungen trugen ein Versprechen in sich, das erfüllt werden konnte und musste … für mich!
Ich habe die Bedeutung dieser Begegnungen nicht sofort in ihrer Tiefe wirklich wahrgenommen, doch ich habe etwas Wahres erkannt, dem ich gefolgt bin. Mit der Zeit ist es so, als sähe man immer mehr einen roten Faden, der all diese Begegnungen verbindet und das eigene Leben durchzieht.
Es gab bei mir eine Verfügbarkeit, die, wie ich glaube, alles begünstigt hat, und die mich auch heute noch prägt: der Wunsch, nie etwas zu zensieren, das Bedürfnis nach Authentizität und Aufrichtigkeit, das Akzeptieren des Risikos, auch verletzt zu werden. Ich habe gelernt, dass ich ohne das Inkaufnehmen einer möglichen Verwundung, eines möglichen Schmerzes, der hätte entstehen können, auch viele Dinge nicht hätte erleben und verstehen können.
In diesem Sinne möchte ich versuchen, einige dieser Begegnungen zu beschreiben, die mein Leben geprägt haben, und noch prägen, und aus denen, so Gott will, auch eine missionarische Haltung entstanden ist.
Ich möchte drei davon nennen, die ich auch nach vielen Jahren noch ständig vor Augen habe.
Die erste geschah, als ich vier Jahre alt war. Ich komme aus einer eher säkularen Familie: Nach meiner Taufe hatte ich keinen großen Kontakt mehr zur Kirche. Meine Eltern gingen nur an offiziellen Feiertagen oder bei besonderen Festen zur Messe. Aber damit ich eine gute Bildung erhielt, schickten sie mich in einen katholischen Kindergarten und dann in eine katholische Grundschule.
Am ersten Tag im Kindergarten, an dem es keine besondere Einführung gab, machte ich, wie viele Kinder, die Erfahrung von Einsamkeit und Verlassenheit. Doch von Anfang an, von diesem ersten, scheinbar traurigen Tag an offenbarte sich mir auch etwas anderes – durch meine Lehrerin, eine Don Bosco-Schwester. Die Art, wie sie mit mir über Gott sprach, die Wärme, die sie vermittelte, gab meinem kleinen Menschsein eine andere Statur, ein neues Selbstbewusstsein. Ihre Initiative und Fürsorge waren ein Zeichen von jemandem, von dem ich spürte, dass er mich lieben wollte. Und das erkannte ich nicht nur aufgrund ihres Ordensgewandes, auch wenn das Ordensgewand mir dabei half, die wahre Quelle ihrer Güte zu verstehen. Ich erkannte eine Liebe, die umfassender war als die Liebe meiner Eltern. Diese Lehrerin war die Stimme, dank derer ich wahrgenommen habe, dass ich nicht nur von meinen historischen oder biologischen Vorfahren abhängig war, sondern von einer anderen Liebe, die mich zu einem größeren und anderen Horizont führte, zu einer anderen Ebene des Lebens, die mich wahrhaftig bestimmen konnte. Eine Liebe, in der ich vor allem die freie Initiative Gottes erkannte, die mich erfüllte und es mir ermöglichte, meine eigene Freiheit zu erfahren.
Ich möchte diese Bewunderung mit einem Beispiel besser erklären. Wir kennen die Metapher der Blumen: Wenn wir eine Vase mit Blumen auf dem Tisch sehen, fragen wir uns, wer uns dieses Geschenk gemacht haben könnte. In jenem Moment war meine Frage nicht nur „Wer?“, sondern eher „Warum?“ Ich ahnte, dass Gott sich in seiner Freiheit entschieden hatte, mir ein Geschenk zu machen. Meine größte Erfüllung lag und liegt auch heute in dieser selbstlosen Entscheidung, in dieser selbstlosen Hingabe Gottes an mich, an uns, fast mehr als in der Sache selbst – den Blumen.
Paradoxerweise betrachtete ich schon damals, aus dieser Haltung der Freiheit heraus, meine Eltern auf neue Weise. Ich übernahm mehr Verantwortung für meine Familie: Ich hatte einen Standpunkt, der über die Tatsache hinausging, Tochter zu sein.
Ich bin mit Madre Anna bis zu ihren Tod, vor acht Jahren, im Briefwechsel verbunden geblieben, als Zeichen meiner Dankbarkeit.
Mit 14 Jahren kam Gott mir, mitten in den verschiedensten Bereichen, in denen ich meinen Alltag verbrachte – wie der Sport oder die Freunde –, wieder auf eine unerwartete Art entgegen. Eines Tages, während einer Mathestunde, als wir über Gleichungen sprachen, war ich wie getroffen von einer Formel an der Tafel: Xn. Dieses „n“ hat mich sofort fasziniert. Wie konnte ich dieses Unendliche „n“ lösen und finden? Ich sprach darüber mit Elena, meiner Mathematik- und Physiklehrerin, einer Memor Domini. Nach diesem Gespräch über Mathematik lud sie mich zu einer Gruppe von GS ein. Ich wusste natürlich nicht, auf was ich mich einlassen würde, aber die Xn-Frage war unterschwellig verbunden mit der Frage: „Wer bin ich?“ Wer bin ich, in einer Zeit (jener der 70er Jahre, von denen auch Giussanis Buch Una rivoluzione di sè spricht), in der die Gefahr einer sozialen, ethischen und politischen Nivellierung sehr stark war? Ich wollte mich auf keinen Fall dieser Nivellierung unterwerfen. Doch wie und mit welcher Freiheit? Ich erkannte wieder die Initiative Christi: Er ermöglichte es mir, mich wiederzufinden, und zwar durch einen Ort, dank dem ich in diesen historisch und politisch schwierigen Jahren den Herausforderungen ins Auge sehen konnte, ohne mich anzupassen, und wo ich ich selbst sein konnte. Dieser Ruf, diese Verheißung hatte nun einen bestimmten Namen und ein Gesicht. Ein Gesicht „durch“ die Gesichter dieser Freunde. Denn was mich am meisten faszinierte, war das, was unter ihnen war, was sie zusammenhielt. Wiederum wurde ich durch eine Erfahrung von Freiheit und Identität in eine größere Liebe – wie Guardini sagt – geführt, die ich dann auch für meine Schwestern, für meine Freunde und Schulkamaraden zu wünschen begann. Und die für mich zur Kraft und zum Wunsch wurde, Zeugnis zu geben. Ein Bewusstsein, das sich dann im persönlichen Treffen mit Don Giussani auf unerwartete Weise weitete und vertiefte.
Damit komme ich zur dritten Begegnung, die eher eine Reifung innerhalb meines Weges bedeutete, und die nun Horizonte der gesamten Kirche berührte. Als ich mit 19 Jahren an die Katholische Universität in Mailand kam, hatte ich zunächst das Gefühl eines Verlustes. Ich hatte den Eindruck einer „Anpassung“ innerhalb der christlichen Gemeinschaft, innerhalb der Bewegung selbst. Es war, als ob das Bemühen um die Wahrheit und um die Freiheit fehlte. Einerseits gab es einen mechanischen, unreflektierten Aktivismus, oft als eine Reihe von abzuhakenden Terminen. Andererseits gab es eine bürgerliche Haltung, die sich in einem ebenso bürgerlichen Zusammensein widerspiegelte und von der Meinung geprägt war, alles gehe, wiederum automatisch, in die richtige Richtung, nur weil man Christ sei oder der Bewegung angehöre. So empfand ich das große Bedürfnis, wieder Gottes Freiheit in Aktion zusehen.
Die damalige Leiterin von CL an der Katholischen Universität, Laura, teilte meine Meinung. Am 8. Dezember 1976, nach den CLU-Exerzitien, stellte sie mich Don Giussani vor mit den Worten: „Sie ist eine von uns.“ Ich verstand diesen Satz nicht, doch Don Giussani sagte: „Ich erwarte dich morgen bei mir.“ Seitdem stand er mir mit Treue und Entschlossenheit zur Seite. Es war eine Freundschaft, die mich bis kurz vor seinem Tod nie wieder verlassen hat, mit einer Intensität, die es mir ermöglichte, in meinem Selbstbewusstsein zu reifen, das heißt in dem Bewusstsein, Christus und seiner Kirche, letztlich der Bewegung von CL, anzugehören. Eine wahrhaftige Freundschaft, eine überzeugende Erfahrung der Suche nach der Wahrheit, die mich dann dazu veranlasste, mit vernünftigen Gründen ja zu sagen, als Don Giussani mich bat, nach Deutschland zu gehen.
Was hat dich dazu bewogen, dem zuzustimmen und zum Studium nach Deutschland zu gehen? „Es ist paradox: Unsere Freiheit ist Abhängigkeit von Gott“, lautete der Satz aus dem Religiösen Sinn, den wir diesen Sommer als Titel für die Ferien unserer Gemeinschaft gewählt hatten. Wie frei war dein Ja auch im Gehorsam?
Die Beziehung zu Don Giussani war sehr anspruchsvoll: anspruchsvoll im Hinblick auf die Wahrheit meiner Selbst, meines Glaubens. Es war eine Erziehung meines Selbstbewusstseins. Er lud mich zum Beispiel ein, täglich in der Kapelle unserer Universität in Anbetung vor dem Allerheiligsten zu verweilen. Obwohl ich jedes Mal sehr zerstreut war, sagte er mir, dass sei nicht das Problem, sondern ich sollte lernen, in meinem Leben immer vor einer „Präsenz“ zu stehen.
Eines Tages rief er mich zu sich und fragte, ob meine Eltern und mein damaliger Freund etwas dagegen hätten, wenn ich nach Deutschland gehen würde. Dann fragte er schließlich, ob ich selbst etwas dagegen hätte, nach Deutschland zu gehen. Ich wusste nicht ganz, was mich erwartete, aber ich hatte keinen wirklichen Grund, nein zu sagen. Mehr noch: Ich hatte nicht nur viele Gründe, diesem Menschen zu vertrauen, sondern vor allem sah ich darin wiederum eine Verheißung, das heißt einen neuen Ruf Gottes.
In meinem Fall handelte es sich nicht um eine Studien- oder Arbeitsmöglichkeit im üblichen Sinne. Im Gegenteil, der Umzug nach Deutschland bedeutete für mich, einige Pläne und Projekte aufzugeben; ich hatte schon den Plan gehabt, nach Fribourg in der Schweiz zu gehen, um in Philosophie zu promovieren. Es bedeutete auch später für mich, einen Weg nicht in der Philosophie, sondern in der Linguistik einzuschlagen, um in Freiburg bleiben zu können, wie Don Giussani uns gebeten hatte. Dieser Ruf hatte daher auch den Aspekt eines Opfers, eines Verzichtes.
Doch was ich darin sah, war eine andere Art von Möglichkeit. Und die erkannte ich tatsächlich, sonst wäre es unvernünftig gewesen, diese Einladung anzunehmen. Es war die Möglichkeit, mein Leben für Christus hinzugeben und damit das Vernünftigste und Wahrhaftigste für mich zu leben. Ich sah die Gelegenheit, die Erfahrung des Hundertfachen zu leben, die Gott mir mit vier Jahren verheißen hatte und die ich bis heute erlebe und die mich mit Dankbarkeit erfüllt.
Gehorsam bedeutet, die wahre Vernunft zu unterstützen, die offene Vernunft, die es einem ermöglicht, offen für die Verheißung zu sein, um den Sinn der Blumen, um auf die Metapher zurückzukommen, die Gott dir schenken möchte, zu erkennen. Man muss „nur“ verfügbar sein, fast wie in einer Art Schwebezustand bleiben, man muss bereit sein, von einem anderen, unvorstellbaren Leben überrascht zu werden.
Was hat eure Freundschaft in Deutschland, aber auch mit Bernhard und den anderen deutschen Freunden, hervorgebracht? Was hat sie euch gelehrt oder gezeigt? Wie hat sie dein Leben verändert?
Es gibt einen interessanten Aspekt in dieser Geschichte: Wir folgten einer Einladung des Erzbischofs von Freiburg, Oskar Saier, der CL für seine Studentenpastoral haben wollte. Daher war der Beginn unserer Mission zunächst der Wunsch von Don Giussani selbst, auf diesen Ruf zu antworten, der Wunsch, zum Aufbau der Kirche beizutragen.
Nach meinem „Ja“ bei ihm in seinem Büro hörte ich monatelang nichts mehr, sodass ich es fast vergessen hatte. Doch eines Tages wurde ich eingeladen, zu ihm nach Hause zu kommen. Dort traf ich drei andere „Gäste“: Lorenza, Guido und Massimo. Zusammen sollten wir nach Deutschland gehen. Wir kannten uns nicht und konnten auch gleich feststellen, dass wir ganz verschiedene Menschen waren. Don Giussani sagte uns nur wenige Worte: „Macht eure Arbeit gut, und bleibt eins untereinander.“ Sonst nichts.
Es ging ihm nicht um Proselytismus, sondern um das Wirken Christi gerade durch unsere Einheit. Die Einheit war der Kern der Mission, aus deren Bewusstsein dann auch Gesten entstanden: Laudes, Flugblätter, verschiedene Treffen, und viele, viele Abendessen. Es war eine beständige Ausweitung dieser Einheit, Ausdruck desjenigen, der unter uns gegenwärtig war und ist.
Als wir nach etwa einem Jahr Bernhard Scholz kennenlernten, stellten wir ihn Don Giussani in Mailand vor. Bernhard konnte kaum Italienisch und kannte die Bewegung auch nur anfänglich. Giussani sah ihn an und sagte plötzlich zu uns: „Und jetzt folgt ihr ihm nach.“ Don Giussani war selbst so sehr verfügbar für das Charisma, dass er sehen wollte, wie sich dieses Charisma in einem anderen Temperament und in einer anderen Kultur verkörperte, um es selbst neu zu entdecken. Mission war kein Export, sondern ein Aufbauen, das der Initiative des Heiligen Geistes folgte.
Das ist heute wieder sehr aktuell: Der Papst fordert uns auf, das Charisma in seiner Bedeutung für den Aufbau der Kirche neu zu entdecken. So wollte auch Don Giussani mit dieser Geste das Charisma neu entdecken und es der gesamten Kirche als Beitrag anbieten.
Diese Verfügbarkeit für den Heiligen Geist, für das Wirken Gottes ermöglichte die Erfahrung der Einheit unter uns und damit die Wiederentdeckung unseres Ichs. Ich bin abhängig von dem, was für mich notwendig ist, und nichts ist für mich notwendiger als Christus. Das ist nicht die Abhängigkeit von Sklaven, sondern die von geliebten Kindern.
Jeden Augenblick sind wir gerufen. Jeden Augenblick können wir verfügbar sein oder nicht. Jeden Augenblick können wir, dank der Freunde, wie Eli bei Samuel die Stimme des Herrn erkennen. Jeden Augenblick des Lebens können wir ihm ja sagen. Unsere Freiheit ist immer im Spiel, nicht nur am Anfang. Das ist es, was Don Giussani uns gelehrt hat: eine menschliche Haltung, die am besten zum Ausdruck kommt in dem von ihm so geliebten und oft zitierten Satz von Johann Adam Möhler: „Ich meine, leben möchte ich nicht mehr, wenn ich ihn nicht mehr reden hörte.“