Aleppo: „Vergesst uns nicht“
Ein Appell von Pater Firas Lutfi, Franziskaner der Kustodie des Heiligen Landes, nach der Besetzung der Stadt durch dschihadistische Milizen„Bitte, sprecht über uns. Erzählt von den Menschen in Aleppo, die nach 14 Jahren Krieg und nach dem Drama des Erdbebens nun erneut in Angst versinken. Für die Welt existieren wir nicht mehr - Syrien ist vergessen. Doch die Wunden unseres Volkes bluten weiter. Wir stehen am Golgota. Sprecht über uns.“ Mit diesen eindringlichen Worten wendet sich Pater Firas Lutfi, Pfarrer der lateinischen Gemeinde und Guardian der Kustodie des Heiligen Landes in Damaskus, an die Welt.
„Die Seele der Menschen in Aleppo – die so viele Jahre des Konflikts überstanden haben – ist nun von neuer Unsicherheit erschüttert. Innerhalb weniger Stunden haben über 20.000 islamistische Milizionäre, viele von ihnen aus dem Ausland, Aleppo eingenommen, ohne dass die Armee der syrischen Regierung Gegenwehr geleistet hätte.“ Die Dschihadisten haben den Flughafen, Polizeistationen und alle neuralgischen Punkte der Stadt besetzt. In Panik geraten, begannen die Menschen aus der Stadt zu fliehen. „Doch bald wurden die Zufahrtsstraßen in die Stadt (die Autobahn und die alte Straße, die wir auch in den schwierigsten Kriegszeiten genutzt haben) blockiert. Aleppo ist jetzt ein Gefängnis, aus dem man weder heraus- noch hineinkommen kann.“
Das Volk ist verwirrt, erklärt der Pater, denn zwei Versionen der Ereignisse sind im Umlauf: Die Regierung behauptet, sie habe aus Rücksicht auf die Zivilbevölkerung ein Blutvergießen verhindern wollen. Die Dschihadisten hingegen klopfen an die Türen der Leute und rufen, sie seien gekommen, um sie zu befreien. „Aber wovon? Jetzt fürchten wir, in einen neuen Horror zu geraten. Wie lange dürfen wir die Kirchenglocken noch läuten lassen? Wie lange dürfen wir das Kreuz noch zeigen? Oder Frauen unverschleiert herumlaufen? Werden diese islamistischen Kämpfer toleranter sein als die, die die Stadt vor ein paar Jahren besetzt hatten? Oder haben sie nur ihre Strategie geändert? Und welche Zukunft wird es für die Kinder geben, für die Alten und die Schwächsten, die nicht fliehen können?“
Auch diesmal ist die Kirche bei den Menschen geblieben, Bischöfe, Priester und Ordensleute. Die Franziskaner bilden da keine Ausnahme. „Ich denke an unseren Bischofsvikar Hanna Jallouf, an Pater Bahjat, Pater Samar oder Pater Bassam. Sie sind in Aleppo geblieben, bei ihrer Gemeinde. Ich bin in ständigem Telefonkontakt mit ihnen. Sie wissen, dass ihre Aufgabe jetzt darin besteht, den Menschen Mut zu machen und Trost zu spenden.“
Am Sonntag versammelten sich die Gläubigen in der Franziskanerkirche zur Messe. „Gestern haben wir den ersten Adventssonntag gefeiert, die Zeit der Hoffnung. Unsere Gedanken gingen gleich zu der Erwartung, die diese dunklen Stunden dominiert: das Warten auf Frieden. Dieses Jahr sind die Menschen in Aleppo wirklich dazu gerufen, die Erwartung des Heils am eigenen Leib zu erfahren. Ein Heil, das nicht von Menschen kommen kann oder aus der Geopolitik. Gott allein kann uns retten, der unser Fleisch angenommen hat, der Gott-mit-uns. Er hat versprochen, uns niemals zu verlassen. Und die Hoffnung kann nur aus diesem vertrauensvollen Glauben kommen.“
Die Situation, erklärt der Franziskaner, ist auch deshalb besonders kompliziert, weil die Lage in Aleppo sich in den letzten Jahren stabilisiert hatte und die Menschen begonnen hatten, ihr Leben wieder aufzubauen. „Jetzt gibt es wieder Ausgangssperren, es fehlt an Strom, Wasser und Brot. Gestern trafen zwei Raketen unser Terra Santa-Kolleg, genau in dem Moment, als Pater Bassam und Pater Samar Brot für die Familien und die Armen zubereiteten. Dieses Brot backen sie in einem Ofen, den wir nach dem Erdbeben angeschafft hatten … Aber die Raketen verursachten ein Feuer im Vorratslager für Mehl. Und auch das Haus der beiden Brüder ist nun unbewohnbar. In einem Augenblick haben wir das einzige Instrument verloren, mit dem wir den Menschen helfen konnten.“
Uns was können wir von Europa aus tun?. „Betet für uns“, antwortet Pater Firas. „Das Gebet ist die einzige Waffe. Durch das Gebet können sich auch die härtesten Herzen auftun zu konkreten Akten der Nächstenliebe, zu Gesten der Großzügigkeit, und kreative Wege zum Frieden finden. Unser Appell richtet sich an alle Christen, aber auch an alle Menschen guten Willens: „Vergesst Syrien nicht.“