Eine „Waffenstillstands“-Demonstration in Tel Aviv (© Ansa/Matan Golan/SOPA Images via ZUMA Press Wire)

Israel-Hamas. „Nur Liebe kann Hass überwinden“

Für den Gazastreifen wurde nun endlich ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet. Seit 500 Tagen wird er vom Krieg heimgesucht. Kard. Pizzaballa äußerte sich in einem Interview zu den Bedingungen der Vereinbarung und den nun notwendigen Schritten
Maria Acqua Simi

Die Nachricht von der Einigung zwischen Israel und der Hamas ging in kürzester Zeit um die Welt. Nach fast 500 Kriegstagen wurde der „Waffenstillstand“ im Gazastreifen ab Sonntag, 19. Januar, Realität.

Der Waffenstillstand soll in drei Phasen ablaufen. Die erste sieht einen Zeitraum von 42 Tagen ohne Kämpfe vor. In dieser Zeit soll die Hamas 33 lebende Geiseln freilassen, während die Israelis Hunderte von palästinensischen Gefangenen freilassen und ihre Truppen zurückziehen, damit die humanitären Zugänge wieder geöffnet werden und die Zivilbevölkerung in den Norden des Streifens zurückkehren kann. Die beiden anderen Schritte werden in den ersten Wochen des Waffenstillstands erörtert und sollen zur Beendigung des Krieges in Gaza und zum Wiederaufbau des Streifens führen.

Der Kustos des Heiligen Landes, Kardinal Pierbattista Pizzaballa, sagte in einem Interview mit TV2000: „Es wird nach dem Ende der militärischen Feindseligkeiten viel Arbeit geben, um die Beziehungen wieder aufzubauen, darüber nachzudenken, wie wir gelebt haben, über die Spaltungen, die entstanden sind, und um auch die Beziehungen innerhalb der israelischen und palästinensischen Gesellschaft einer allgemeinen Überprüfung zu unterziehen“. In Bezug auf die Kinder im Gazastreifen überlebt haben, aber verwaist, behindert oder traumatisiert sind, sagte er: „Das ist eine große Herausforderung für uns alle. Hass kann nur mit Liebe überwunden werden. Diese Kinder werden viel Liebe brauchen, Menschen, Institutionen, Organisationen, die in der Lage sind, ihnen gleichermaßen diese Liebe zu geben, die sie in ihrem Leben noch nicht kennengelernt haben, denn sie wissen, dass auch sie, wie die Erwachsenen, Hilfe brauchen, um sich von so viel Hass zu reinigen, von dem Gift, das dieser Krieg in allen Menschen ohne Unterschied verbreitet hat.“

Aber wie erleben die israelische und die palästinensische Bevölkerung diesen historischen Moment? Welche Hoffnungen und welche Ängste durchleben sie? Wir sprachen darüber mit Alessandra Buzzetti, einer Journalistin von TV2000 mit Sitz in Jerusalem.

„Die israelische Gesellschaft erlebt im Kern einen sehr starken emotionalen Moment, mit gegensätzlichen Gefühlen“, erklärt Buzzetti: „Auf der einen Seite gibt es Erleichterung und Hoffnung, auf der anderen Seite gibt es immer noch Wut. So wurde in den letzten Tagen ein von 800 Eltern unterzeichneter Brief in Umlauf gebracht, in dem die Regierung aufgefordert wird, eine Einigung zu erzielen und das Leben ihrer Kinder nicht länger im Kampf zu opfern. Das Forum der Familien der Geiseln - das einen Teil der Geiseln vertritt, der der Kriegsführung kritisch gegenübersteht – rief zur Zurückhaltung auf, auch gegenüber den Medien. Ein anderes Forum von Geiselfamilien, das Tawkaa-Forum, in dem sich Familien entführter Soldaten (die vermutlich als letzte freigelassen werden) zusammengeschlossen haben und das sich in den letzten Monaten stets auf die Seite von Benjamin Netanjahu gestellt hat, äußerte sich dagegen in einer Erklärung enttäuscht, weil sie die Vereinbarung als Kapitulation vor den Terroristen betrachten. Dabei sind die Familien der Geiseln die einzigen, die ein moralisches Mandat haben, sich zu äußern. Und sie empfinden anders. Ich glaube, dass am Ende dieser ersten Phase eine Implosion der israelischen Gesellschaft folgen wird. Und wir werden uns damit abfinden müssen“.

In welchem Sinne?
Die Risse, die in der israelischen Gesellschaft bereits vorhanden waren, wurden durch diesen Krieg gleichsam eingedämmt - weil sie gemeinsame Ziele hatten: die Rückkehr der Geiseln und die Sicherheit des Staates. Sis werden nun wieder zum Vorschein kommen. Das Abkommen wird zustande kommen, aber die Entmenschlichung, die dieser Krieg hervorgebracht hat, die Unfähigkeit, den anderen als Menschen und nicht als Feind zu sehen, muss angegangen werden. Es gibt einen Ausweg. Ich denke an die Worte, die Rachel Goldberg-Polin, die Mutter von Hersh, einer jungen Geisel, die im September getötet wurde, vor einigen Stunden gesprochen hat. Sie sagte kurz und bündig, sie sei froh über den Waffenstillstand, erinnerte aber auch daran, dass ihr Sohn vielleicht noch am Leben wäre, wenn er früher zustande gekommen wäre, ebenso wie Tausende von palästinensischen Zivilisten, die stattdessen getötet wurden. Sie haben also den Krieg humanisiert, indem Sie der Opfer auf beiden Seiten gedacht haben.

Waffenstillstand im Gazastreifen Ansa Youssef Alzanoun_Middle East Images_ABACAPRESS.COM

Wie hat die palästinensische Bevölkerung auf die Nachricht von dem Abkommen reagiert?
Auch hier hat jeder auf seine Weise reagiert. Auf der einen Seite sahen wir Szenen des Jubels, der Freudentränen, aber auf der anderen Seite sahen wir auch das absolute Chaos im Gazastreifen. Diese Lawine unschuldigen Leids, die von der Hamas und Israel verursacht wurde, hat im Gazastreifen zu einer kompromittierten Situation geführt, in der bewaffnete kriminelle Banden humanitäre Konvois angreifen und Menschen erschießen, um Mehl zu stehlen und es weiterzuverkaufen. In den übrigen palästinensischen Gebieten ist die Angst weit verbreitet. Die Menschen befürchten, dass die USA das Westjordanland im Gegenzug für einen Waffenstillstand in Gaza „verkauft“ haben. Es stellt sich die Frage: Wird es nicht nur in Gaza einen politischen Plan für eine würdige und selbstbestimmte Zukunft der Palästinenser geben? Werden die 100.000 von Israel eingefrorenen Arbeitsgenehmigungen wieder erteilt? Wird der Tourismus wieder aufgenommen? Angesichts dieser Fragen mag das Misstrauen überwiegen. Aber selbst hier hat mich eine Mutter aus Bethlehem beeindruckt, die an „Communion and Liberation“ teilnimmt. Sie hat zwei kleine Töchter, die sie und ihr Mann in den Weihnachtsferien nach Jerusalem bringen wollten. Seit dem 7. Oktober 2023 durften sie nicht mehr nach Israel einreisen. Sie wollten nicht, dass nur ein Gefühl der Angst in ihnen bleibt, vor den Soldaten, vor den Kontrollpunkten, als ob es auf der anderen Seite nur Feinde gäbe und nicht auch eine Welt, die man betreten und entdecken kann. Wie viele Eltern machen das mit ihren Kindern? Wie viele lehren Vertrauen und zeigen, dass es immer einen möglichen Weg gibt? Ich glaube, dass die Herausforderung dieses Heiligen Landes darin besteht, dass diese Völker dazu „verdammt“ sind, zusammen zu sein, aber es ist unbestreitbar, dass diese Einzigartigkeit in eine Möglichkeit verwandelt werden kann. Man kann neu beginnen, aber nicht allein.

Wo sollen wir neu anfangen?
Patriarch Pizzaballa, der vor kurzem von einem Besuch in der katholischen Gemeinde in Gaza zurückgekehrt ist, sagte uns, dass die Menschen im Gazastreifen mehr nach Schulen für ihre Kinder fragen, als nach Brot. Dies ist das wahre Zeichen der Hoffnung. Menschen, denen die Zukunft ihrer Kinder wichtiger ist als alles andere. Von diesem Wunsch müssen wir wieder ausgehen.

Bei all dem wird die Rolle der Palästinensischen Autonomiebehörde kaum erwähnt....
Die PNA befindet sich in großen Schwierigkeiten. Abu Mazen ist fast 90 Jahre alt, seine Führung hat den von den Vereinigten Staaten geforderten Weg wirklicher Reformen nicht eingeschlagen, und er zahlt den Preis für seine Schwäche, seine internen Fehden und seine Korruption. Da es ihr nicht gelungen ist, eine glaubwürdige Führung aufzubauen, fällt es ihr schwer, sich als glaubwürdiger Gesprächspartner zu etablieren, aber es gibt im Moment keine Alternative, und sie wird sich neben anderen arabischen und internationalen Akteuren am Wiederaufbau des Gazastreifens beteiligen müssen. Es wird ein langer Heilungsprozess für das gesamte Heilige Land erforderlich sein. Und niemand kann daran denken, diesen Weg allein zu gehen. Wir müssen weiter beten und um die Gnade bitten, dass es immer Männer und Frauen gibt, die bereit sind, diesen Weg gemeinsam zu gehen.