Berlin, der Bundestag (Foto von Gerrit Wilcke pexels.com)

Entscheidend ist das Menschenbild

Die christliche Soziallehre mahnt zum Realismus bei den Bundestagswahlen und gibt wertvolle Hinweise für ein verantwortungsbewusstes Votum

Die Bundestagswahlen finden innen- und außenpolitisch in einem dramatischen Umfeld statt. Wir stehen vor epochalen Herausforderungen wie Wirtschaftskrise, Krieg, Migration, Klimawandel oder Bevölkerungsrückgang. Zugleich verschärfen sich gesellschaftspolitische Fragen und der Ton der Auseinandersetzung wird schärfer. Papst Franziskus beschreibt unsere Welt als „unterdrückte und verwüstete Erde“ (Laudato si‘, 2), die krank ist, seufzt und in Geburtswehen liegt (vgl. Röm 8,22).


Die Grundsätze der katholischen Soziallehre

Angesichts der großen Verunsicherung im öffentlichen Diskurs lohnt es sich, an einige Grundsätze der katholischen Soziallehre zu erinnern. Dabei ist zunächst Nüchternheit und Realismus gefragt. Politik beginnt bekanntermaßen mit dem Betrachten der Wirklichkeit und nicht mit theoretischen Ideen oder ideologischen Projekten.

Dazu gehört eine grundsätzliche Wertschätzung der Politik als Dienst am Gemeinwesen. Leider ist hier ein wachsender Vertrauens- und Ansehensverlust zu beklagen. Zugleich finden extremistische Überzeugungen mit vermeintlich einfachen Lösungen immer mehr Zuspruch. Das zeigt sich in einer Kompromisslosigkeit bis hin zu Einschüchterung und roher Gewalt vor allem in sozialen Netzwerken.

Politik ist kein Mittel, um das Heil des Menschen durch den Staat zu verwirklichen, gleich ob im Namen einer Klasse, Gruppe, Nation oder Religion. Sie ist die Kunst des guten Kompromisses im Interesse des Gemeinwohls. Deshalb sieht die Soziallehre den Staat subsidiär, das heißt, er sollte nur das regeln, was der Einzelne oder die zivilgesellschaftlichen Gruppen nicht alleine regeln können. Politik soll demnach Schutz und Entfaltung der Person und das Gemeinwohl achten und fördern.

Entscheidend für ein Parteiprogramm ist das Menschenbild. Daraus leiten sich alle weiteren Forderungen ab. Das zeigt sich besonders bei der Haltung zum Lebensschutz, aber auch in anderen Bereichen. Aus christlicher Sicht ist der Mensch ein soziales Wesen, das aus und in Beziehungen lebt und sich entfaltet. Er ist kein sich selbst entwerfender Einzelgänger. Die Kehrseite der fortschreitenden Ausweitung individueller Rechte ist der Verlust an Solidarität und die wachsende Einsamkeit. Demgegenüber gilt es all jene Parteien und politischen Konstellationen zu unterstützten, die im Sinne der Subsidiarität zivilgesellschaftliche und soziale Orte stärken – allen voran die Familie.

Besonders in der heutigen Situation brauchen wir Politiker, die ihre Arbeit als Dienst am Gemeinwohl verstehen und eine „geschwisterliche Gemeinschaft und soziale Freundschaft“ fördern (Fratelli tutti, 4). Persönlichkeiten, die für die „Ehrfurcht vor dem Leben“ einstehen und anerkennen, dass jeder bedingungslos und ohne Vorleistung geliebt ist (Dilexit nos, 1). Das wird nicht alle Probleme lösen, ist aber unverzichtbarer Bestandteil einer menschenwürdigen Zukunft.

Wir sind aber vor allem selbst aufgerufen, Verantwortung zu übernehmen – analog und digital. Das gelingt, wenn wir gemeinsam am Aufbau einer menschenwürdigen Gesellschaft arbeiten, die angemessene Kritik zulässt, Freiheit ermöglicht und Vergebung gewährt. Dazu gehört auch, dass man sich gut informiert und sich nicht von jeder Erregungswelle mitreißen lässt.

Ein gerechter Interessenausgleich zum Wohle aller geht nicht ohne, auch schwierige, Abwägungen und Prioritätensetzungen. Das gilt nicht zuletzt bei der Frage der notwendigen Steuerung von Migration und Asyl. Bundespräsident Joachim Gauck brachte dies seinerzeit auf die Formel „Unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkeiten sind endlich“.


Die Verfassungsväter und Europa

Mit dem Grundgesetz, das vergangenes Jahr 75 Jahre alt wurde, hat unser Gemeinwesen eine solide Grundlage, um die Zukunft zu gestalten. Schon bei der Erarbeitung zeigte sich, wie es Vertretern verschiedener Parteien, Täter und Opfer (!) innerhalb kurzer Zeit gemeinsam gelang, ein Grundgesetz auszuarbeiten, das am Gemeinwohl, Europa und an der Würde des Menschen orientiert ist. Dieser Geist und diese Herzenshaltung sind angesichts der anstehenden Probleme notwendiger denn je. Die Einsicht, dass „der andere ein Gut für mich ist“, öffnet Raum für kreative Lösungen im Blick auf geordnete Migration, Sicherheit und ein Leben in Freiheit.
Vor allem durfte Deutschland erleben, dass ihm – trotz des Naziterrors – die anderen europäischen Nationen die Hand zur Versöhnung reichten und so einen Neuanfang ermöglichten. Das sollte nie vergessen werden.

Die Gründungsväter und ihre Nachfolger haben die heutige Europäische Union als Friedensraum geschaffen nach zwei verheerenden Weltkriegen. Bei aller Reformbedürftigkeit hat sie sich bislang als Bollwerk gegen gewaltsame Konflikte unter den Mitgliedstaaten bewährt. Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ist aber in Europa die brutale Gewalt im Namen eines übersteigerten Nationalismus zurückgekehrt.
Umso mehr gilt es auf die Mahnung der katholischen Bischöfe zu hören, die betonen, dass ein völkischer Nationalismus mit den Grundwerten des Christentums nicht vereinbar ist. Anders gesagt, den Menschen nach seiner Volkszugehörigkeit zu definieren, widerspricht der unantastbaren Würde der Person.


Unsere Verantwortung

Deshalb sind Parteien, die dies vertreten, nach Aussage der Bischöfe für Christen nicht wählbar. An dieser Feststellung ändert auch ein mögliches Eintreten für ein konservatives Familienbild oder gegen die Abtreibung nichts. Denn hier geht es um sogenannte „nicht verhandelbare Prinzipien“, bei denen „der Kern der moralischen Ordnung auf dem Spiel steht, der das Gesamtwohl der Person betrifft“, wie es in der Note der Glaubenskongregation zum Einsatz der Katholiken in der Politik heißt. Ausgehend von der unantastbaren Würde des Menschen als Geschöpf Gottes zählt sie dazu den Lebensschutz in Fragen von Abtreibung und Euthanasie, die Rechte menschlicher Embryonen, und „analog“ die Förderung der Familie als fruchtbarem Ort der Offenheit für das Leben, die Erziehungsfreiheit, den Schutz Minderjähriger, das Recht auf Religionsfreiheit und eine Wirtschaftsordnung im Dienst der Person und des Gemeinwohls.

Alle Parteien drängen auf ein rasches Ende des Krieges in der Ukraine. Dem wird sich niemand verschließen. Entscheidend ist aber der Grundsatz der Soziallehre, dass „Friede immer ein Werk der Gerechtigkeit und die Wirkung der Liebe“ ist. Ansonsten setzt sich schlicht die Macht des Stärkeren durch. Das wäre nicht nur dramatisch für die Menschen in der Ukraine, sondern das Ende einer auf Verträgen beruhenden Friedensordnung in Europa.

Schließlich sei noch an einen letzten Wahlprüfstein erinnert: Das christliche Menschenbild hat über Jahrhunderte die Grundlage für eine menschlichere Gesellschaft gebildet. Gerade in Zeiten einer wachsenden Säkularisierung ist es deshalb wesentlich, ob eine Partei das freie Handeln der Kirchen in der Gesellschaft anerkennt.

Es liegt an uns allen, Verantwortung in diesem Sinne zu übernehmen. Und es liegt in unserer Verantwortung, diese Faktoren bei den bevorstehenden Bundestagswahlen und bei unserer Art, in der Welt präsent zu sein, im Auge zu behalten.

CL Deutschland


Siehe auch: Wen kann man denn heute noch wählen? Und was ist mit dem Lebensschutz? - Stefan Oster SDB