
Ein realistischer Weg zum Frieden
Kriege und neues Wettrüsten drohen unseren Alten Kontinent zu zerreißen. „Europa muss sich entscheiden, ob es seiner Berufung treu bleiben will, oder ob es zu der konfliktreichen Atmosphäre beiträgt, die momentan alles zu beherrschen scheint.“Sehr geehrter Herr Chefredakteur,
die Dramatik des historischen Moments, in dem wir uns aktuell befinden, veranlasst mich, Ihnen zu schreiben. In vielen Teilen der Welt, ja sogar in Europa, nehmen bewaffnete Konflikte zu, wodurch der Eindruck entsteht, dass die Pfeiler wegbrechen, auf die sich unser Zusammenleben, die wirtschaftliche und soziale Entwicklung, und damit auch die Möglichkeit eines positiven Blicks auf unsere Zukunft, stützen. Institutionen, Regierungen, soziale und kulturelle Akteure aller Art (und leider auch einige Vertreter der Kirche) scheinen teilweise etwas verloren und widersprüchlich in ihren Urteilen (und in der Art, wie sie diese zum Ausdruck bringen). Die Situation wirft einige Fragen auf. Ich bin kein Experte für Geopolitik, aber als Europäer und Christ fühle ich mich verpflichtet, einen Beitrag zur Reflektion zu leisten. Er ist das Ergebnis eines Nachdenkens innerhalb der Bewegung, der ich angehöre, über die aktuelle Diskussion bezüglich einer gemeinsamen europäischen Verteidigung.
Abgesehen von den Beträgen, die die Staaten der EU heute bereits ausgeben, würde eine wirklich „gemeinsame“ Verteidigung (wie viele wesentlich kompetentere Kommentatoren als ich bereits angemerkt haben) eine gemeinsame Außenpolitik und damit ein einheitliches politisches Subjekt voraussetzen, das die EU nicht ist. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass ein Europa, wie De Gasperi und andere Protagonisten jener Zeit es sich vorgestellt hatten, mit der gemeinsamen Verteidigung als erstem Baustein einer echten föderalen Union, nie verwirklicht wurde. Die EU ist eher das Ergebnis eines Kompromisses, welcher in vielerlei Hinsicht durchaus gelungen ist, objektiv betrachtet jedoch zu einem fragilen politischen Konstrukt geführt hat. Die Union beruht auf den Grundsätzen des liberalen Individualismus und hat sich so im Laufe der Zeit immer weiter von den Werten entfernt, die die Väter der ursprünglichen Idee teilten. Schließlich ist Europa im Laufe der Geschichte entstanden aus einer Ansammlung verschiedener Völker, die zwar oft miteinander in Konflikt standen, aber gemeinsame kulturelle Wurzeln hatten, nämlich die griechisch-römische und die jüdisch-christliche Tradition. In der Moderne gab man sich dann zunehmend der Illusion hin, man könne von dem transzendenten Fundament dieser Tradition absehen, wodurch diese jedoch ihre einende Kraft verlor. In diesem Sinne glaube ich, dass wir bei der Suche nach angemessenen Lösungen, auch für das drängende Problem der Sicherheit, die Europäische Union als das betrachten müssen, als was sie gedacht war: ein Ort der Begegnung, ein Raum für den Dialog innerhalb und unter den Nationen, der alle beteiligten Akteure einschließt, durch das geduldige und weitsichtige Bemühen der Diplomatie. Politische und wirtschaftliche Probleme müssen zunächst angegangen werden mit dem Mut, auch neue Formen zu finden, ohne gleich zu militärischen Lösungen zu greifen, die die Probleme nicht lösen, sondern eher noch verschärfen.
Die Frage, mit der sich Europa heute auseinandersetzen muss, ist grundsätzlich eine kulturelle: Die Union muss sich entscheiden, ob sie ihrer Berufung treu bleiben will als Ort der Begegnung, der Vermittlung, und somit des Aufbaus des Friedens, indem sie die Person in den Mittelpunkt stellt und eine Kultur der Subsidiarität innerhalb der einzelnen Länder fördert. Oder ob sie zu der konfliktreichen Atmosphäre beiträgt, die momentan alles zu beherrschen scheint. Daher scheint mir die Aussicht, unsere gemeinsame Sicherheit durch enorme Investitionen in die Rüstung zu gewährleisten, umso mehr, wenn diese dann einzelnen Staaten anvertraut wird, wirklich ungenügend zu sein (wie im Übrigen auch der Erzbischof von Moskau, Paolo Pezzi, betont hat). Da das politische Projekt Europa für alle ersichtliche Schwächen aufweist, halte ich es für einen Fehler zu glauben, Aufrüstung sei ein geeigneter Weg, um einem gefährlichen Aggressor entgegenzutreten. So kann man nicht den Mangel an Identität ausgleichen, den wir alle spüren.
Die Verurteilung des Ersten Weltkriegs als „sinnloses Gemetzel“ durch Papst Benedikt XV. erhält angesichts des zerstörerischen Potenzials heutiger Waffen eine neue Bedeutung. Papst Franziskus wird nicht müde zu erklären, sich zu bewaffnen könne nur bedeuten, sich auf einen Krieg vorzubereiten. Ich hoffe, dass alle Politiker in Europa diese Warnung ernstnehmen. Vor Jahren schon hat Don Giussani gesagt: „Der Friede hängt davon ab, dass der Mensch anerkennt, dass er sich nicht aus eigener Kraft vervollkommnen kann, sondern unumstößlich anerkennt, dass er sich dem Sein selbst verdankt“ (La Repubblica, 24. Dezember 2000). Ich glaube, es gibt auch heute noch viele Menschen, die Giussani da zustimmen, und nicht nur Katholiken. Nur wenn wir uns bewusst sind, dass nicht wir die Herren der Geschichte sind, kann es eine realistische und tiefe Hoffnung auf wahren Frieden geben.
Aus la Repubblica, 16. März 2025