
Nur wer den Frieden im Herzen trägt, kann von ihm sprechen
Versöhnung zwischen Deutschen und Tschechen im Fokus des Meeting Brno. Wahrer Frieden ist mehr als das Schweigen der Waffen. Er setzt Versöhnung, Versöhnungsarbeit, voraus. Ein Bericht über das Meeeting Brno 2025Bewaffnete Konflikte nehmen weltweit zu. Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, Gaza, Iran, … In solchen Zeiten ist ein Akt der Versöhnung, Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, ein bemerkenswertes Zeichen für die Möglichkeit des Friedens.
Seit 2015 findet in Brünn in Tschechien das Meeting Brno statt. Im Zentrum steht ein von jungen Tschechen ins Leben gerufener „Versöhnungsmarsch“, mit dem der grausamen Vertreibung zigtausender Deutscher im Jahr 1945 aus Brünn, des sogenannten „Brünner Todesmarschs“, gedacht wird. Tausende kamen dabei zu Tode. Auch aus allen anderen Regionen Tschechiens wurden damals die deutschsprachigen Bürger, die sogenannten „Sudetendeutschen“, vertrieben.
Über Jahrhunderte hatten im heutigen Tschechien Deutsche und Tschechen unter der Herrschaft der habsburgischen Monarchie friedlich zusammengelebt. Der im 19. Jahrhundert aufkommende Nationalismus führte zu Entfremdung, dann zu Feindschaft. Als Hitler 1939 diese Gebiete annektierte, stellten sich große Teile der dortigen deutschsprachige Bevölkerung begeistert auf die Seite der Nazis und beteiligte sich an der grausamen Unterdrückung der tschechischen Bevölkerungsteile. Nach Ende des Krieges vertrieben die Tschechen als Rache Millionen deutschsprachiger Einwohner. Jahrzehnte konnte man in Tschechien über die Nachkriegsverbrechen an den Deutschen nicht reden, während umgekehrt der Verbrechen der Deutschen ständig gedacht wurde. Als Vaclav Havel sich vor etwa 35 Jahren als erster tschechischer Staatsmann für die Vertreibung der Sudetendeutschen entschuldigt hatte, wurde er dafür heftig kritisiert.
Vor ungefähr 20 Jahren initiierten junge Brünner den Gedenkmarsch in der ursprünglichen Richtung, d.h. von ihrer Stadt ausgehend nach Österreich. Einen wichtigen Anstoß für eine breite Wahrnehmung in der Öffentlichkeit gab der Roman Gerta. Das deutsche Mädchen von Kateřina Tučková, den sie 2009 nach intensiven geschichtlichen Nachforschungen über die Vertreibung der Deutschen aus Brünn geschrieben und für den sie den höchsten tschechischen Literaturpreis erhielt. Dazu stieß auch der junge Politiker David Macek. David erzählt: „Ich war 2014 zum ersten Mal beim Meeting in Riminii. ImMai 2015 wurde ich zum ersten Mal zum Sudetendeutschen Tag eingeladen, am folgenden Samstag fand die Versöhnungswallfahrt von Brünn statt. Ende August 2015, als ich zum zweiten Mal aus Rimini zurückkam, rief mich Kateřina Tučková an. Sie wollte den Versöhnungsmarsch verstetigen und in den Rahmen einer größeren Kulturveranstaltung einbetten. Es war sehr schön: Ich musste keine Spekulationen anstellen – es genügte, zu beschreiben, woher ich kam, was ich beim Meeting in Rimini erfahren hatte“. So entstand das „Meeting Brno“ in der heutigen Form.
Wir wurden eingeladen, dieses Jahr dort die Ausstellung „Was niemals stirbt“ über Takashi und Midori Nagai in der Kathedrale mit zu eröffnen. Am Vortag des Versöhnungsmarsches lernen wir ein Ehepaar aus unserem Wohnort Eichstätt kennen. Wir treffen uns bei „Brünn an einem Tisch“, einem gemeinsamen Picknick für die über 200 angereisten Heimatvertriebenen und deren Nachfahren sowie Bewohnern der Stadt Brünn. Es findet auf dem Mendelplatz statt, auf dem 1945 die Deutschen zusammengetrieben worden waren, um den Todesmarsch anzutreten. Die 85-jährige Ehefrau war damals als Vierjährige dabei. Eine Gruppe Jugendlicher beider Nationalitäten gesellt sich zu uns. Sie machen innerhalb eines Projektes des Literaturhauses Stuttgart Interviews mit den Anwesenden. Die Eichstätterin erzählt, wie schrecklich es für sie war, zu sehen, dass eines der beiden Kleinkinder aus ihrer Familie auf dem Weg verhungert ist und sie es tot im Straßengraben zurücklassen mussten. Zugleich ist es ihr wichtig, auch etwas Positives zu berichten: sie hat mit ihrem Ehemann, ebenfalls ein Vertriebener, ihr Heimatland bereits mehrfach besucht. Auch an ihrem Elternhaus, aus dem sie vertrieben worden waren, hat sie geklingelt. Sie wurden sehr freundlich von den aktuellen Bewohnern aufgenommen und waren überrascht, dass nach all den Jahrzehnten nichts an dem Haus verändert worden war. Die Familie berichtete, dass sie aus praktischen Gründen nun doch einen Umbau in Erwägung ziehen. Und sie baten die Deutsche ausdrücklich um ihre Erlaubnis. Ein Zeichen des Respekts vor der Frau, der dieses Haus weggenommen worden war. Die Erlaubnis gab sie bereitwillig.
Am nächsten Tag ist der Ausgangspunkt des Marsches nicht Brünn, sondern ein Feld südlich des Dorfes Pöhrlitz. Unter dem Feld liegen die verscharrten Leichen von fast 900 Opfern des Todesmarsches. Dort sprechen deutsche und tschechische Politiker und Repräsentanten von Vetriebenenverbänden. Sie alle sind verbunden in einem einzigen Ziel: Versöhnung und friedliches Miteinander. Der Marsch geht seit 10 Jahren in umgekehrter Richtung: von Pöhrlitz zurück nach Brünn als Zeichen der Rückkehr, der herzlichen Aufnahme der Deutschen in Brünn. Es sind 32 km in sengender Hitze. Die benediktinische Äbtissin Francesca Šimuniová erinnert uns nach dem gemeinsamen Gebet vor dem Aufbruch: „Denken Sie bei jedem Essen und Trinken auf dem Weg daran, dass die Menschen damals kein Wasser und keine Nahrung bekamen.“ So stehen uns die Dürstenden und Entkräfteten vor Augen. Der deutsche Botschafter läuft mit uns. Als wir ihm für seine Teilnahme danken wollen, antwortet er: „Das ist doch selbstverständlich!“
Bei unserer Rückkehr nach Brünn werden die Teilnehmer des Marsches im Garten des Augustinerklosters willkommen geheißen. Erneut sprechen tschechische und deutsche Politiker und es gibt viele Informationsstände von Versöhnungsinitiativen, die beim Meeting Brno mitmachen. Dort treffen wir Kateřina. Sie ist eine junge Mutter und Historikerin. Vor ihr liegen Ansichtsexemplare von zweisprachigen Büchern in tschechischer und deutscher Sprache. Darin geht es um die Zeitgeschichte der ehemals sudetendeutschen Siedlungsgebiete der tschechischen Republik. Sie selbst kommt aus dem Böhmerwald, der an Deutschland grenzt. Eltern, Großeltern und Lehrer hatten ihr immer gesagt, dass der Böhmerwald seit jeher ein Nationalpark gewesen sei, eine Wildnis. Dort sei nie etwas gewesen. Erst als sie spät in ihrer Gymnasialzeit von einem Lehrer in den Wald geführt wurden und er ihnen beibrachte, genauer hinzuschauen, erkannten sie, dass etwas nicht stimmte. Sie fanden die Grundmauern eines Hauses, dann noch eines Hauses, einer Kapelle, eines ganzen Dorfes. Mitten im Wald, der angeblich seit jeher nur eine Wildnis gewesen war. Der Lehrer brachte ihnen bei, im Wald die verborgenen Spuren einer vergangenen Besiedlung zu erkennen. Nach und nach lüftete sich für diese Schüler ein Geheimnis: In dieser „Wildnis“ waren bis 1945 Dörfer und Städte gewesen, die bis auf die Grundmauern niedergemacht und deren deutschsprachige Einwohner getötet oder vertrieben worden waren. Noch nie hatten sie davon gehört. Immer war vom Sieg über den Faschismus durch die Kommunisten die Rede gewesen. Nie hatten sie davon gehört, dass von den Tschechen Unrecht mit Unrecht gerächt worden war. Sie erzählt, dass sie sich von ihren Eltern, Großeltern und Lehrern hintergangen fühlt, die sie stets angelogen hatten. Nur dieser eine Lehrer hatte ihnen die Wahrheit gezeigt, die in Tschechien nur selten ausgesprochen wurde.
Auch heute ist die Versöhnung zwischen Tschechen und Deutschen ein sensibles Thema. Es ist jedoch eindrucksvoll, zu sehen, wie beim Meeting Brno Tschechen und vertriebene Deutsche sowie deren Nachfahren einander umarmen, in die Augen sehen und gemeinsam der Wahrheit nicht ausweichen. Die Wahrheit der deutschen Gräueltaten, die Wahrheit der tschechischen grausamen Rache. Beides kommt am folgenden Vormittag am Kaunitz-Kolleg noch einmal zum Ausdruck. Dieses Studentenwohnheim wurde von der Gestapo als Gefängnis sowie Folter- und Hinrichtungsstätte genutzt. Unmittelbar nach der „Befreiung“ Mährens durch die Sowjetarmee wurde es dann zur Folter und Hinrichtung Deutscher genutzt. Ein Mahnmal erinnert heute an die Untaten der Deutschen. Nichts erinnert an die Untaten der tschechischen Rächer. Das Meeting Brno fing damit an, gemeinsam mit den Deutschen Kränze für die Opfer beiderlei Unrechts niederzulegen und der Opfer mit einem gemeinsamen Vater-unser zu gedenken. Die Tränen der Rührung standen dabei vielen Tschechen und Deutschen in den Augen.
Wer mag ermessen, was es für die noch lebenden Opfer der Vertreibung bedeutet, vor ihrem nahen Tod noch zu erfahren, dass Tschechen dieses Unrecht zugeben und um Vergebung bitten, symbolisch die Deutschen durch Umkehrung der Marschrichtung wieder in Brünn aufnehmen? Diese gemeinsame Erinnerung und gegenseitige Vergebung ist wie eine Entgiftung. Der Versöhnungsmarsch findet in Deutschland ein beachtliches Echo. Er ist Gegenstand der Nachrichtensendung des Deutschen Fernsehens. In großen deutschen Tageszeitungen erscheinen ausführliche Berichte, die David uns nicht ohne Stolz schickt.
Eingebettet ist diese Versöhnungsarbeit in einen weiten Horizont kultureller Veranstaltungen mit dem Thema des Friedens und der Versöhnung. Das zeigte schon die Eröffnungsveranstaltung 2025, bei der Oleksandra Matwijtschuk, die Vorsitzende des ukrainischen „Center for Civil Liberties“ über den Kampf der ukrainischen Zivilgesellschaft für Frieden und Demokratie sprach. Ihre Organisation hatte den Friedensnobelpreis 2022 zusammen mit der russischen NGO Memorial und dem belarussischen Bürgerrechtler Ales Bjaljazki erhalten: laut Vatican News ein „Zeichen gegen Krieg und für Demokratie“.
Über die Absurdität des Krieges und das Wunder von Vergebung und Versöhnung berichteten auf dem Meeting Brno auch Rami Elhanan und Bassam Aramin. Rami ist Israeli, Bassam Palestinenser. Beide haben ihre kleinen Töchtern im Konflikt zwischen Palästinensern und Israel verloren. Jetzt sind sie Freunde und nennen sich „Brüder“. Sie wirken in der Vereinigung „Parents Circle“, in der sich palästinensische und israelische Eltern, deren Kinder im Konflikt der beiden Völker ums Leben gekommen sind, für Frieden und Versöhnung einsetzen. David hatte die beiden voriges Jahr beim Meeting für Freundschaft unter den Völkern in Rimini persönlich kennengelernt und dann eingeladen. Rami und Bassam betonen, dass man auch mit den Feinden über den Frieden sprechen müsse, denn der wahre Feind sei der Hass, der einen selbst innerlich zerfrisst.
Wir durften zwei Tage später in der Kathedrale von Brno die Ausstellung „Was niemals stirbt“ vorstellen. In der Ausstellung heißt es: „Der Frieden ist ein mühsames Ziel, und nur wer den Frieden im Herzen trägt, kann darüber sprechen". Das fordert „persönliche Opfer und die Bekehrung des Herzens. Denn ohne dies können wir uns nicht über den Egozentrismus erheben, der der wahre Feind des Friedens ist“.
Eine Woche später erhält das Meeting Brno den Menschenrechtspreis der Sudetendeutschen in Regensburg. Die Leiter des Meetings Brno laden die Sudetendeutschen ein, im kommenden Jahr erstmals ihr Jahrestreffen in Tschechien, nämlich in Brünn, abzuhalten. Eine Sensation: „Wind of Change zwischen Sudetendeutschen und Tschechien“ titelt die Frankfurter Allgemeine Zeitung.