Ein Frau schläft in der Kirche Guiglo (Elfenbeinküste) auf der Flucht vom Krieg. ©REUTERS/Thierry Gouegnon

EIN VERBORGENER SCHATZ

Die Wirtschaftskrise in Europa ist noch lange nicht zu Ende. Die Armut nimmt zu. Wieso entdeckt man dabei die Freude des Evangeliums? Was passiert in dem, der gibt, und in dem, der empfängt?
Alessandra Stoppa

In seinem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium wie in dem, was der Papst uns Tag für Tag sagt, ist ein solcher Reichtum enthalten, dass es buchstäblich Jahre dauern wird, das wirklich zu verstehen und dem Weg, den er uns weist, auf den Grund zu gehen. Wir können auf diesen Seiten nur versuchen, ein paar winzig kleine Schritte in diese Richtung zu tun.

In der letzten Ausgabe haben wir uns mit Papst Franziskus’ Verständnis von der Erfahrung beschäftigt, mit der Art und Weise, wie wir die Wirklichkeit kennen lernen und uns den substanziellen Unterschied bewusst machen können, den der Glaube in jeden Aspekt unseres Lebens bringt. Dieses Mal wollen wir uns mit einem Bereich beschäftigen, der der Verifizierung der Glaubenserfahrung dient. Es geht darum, wie der Papst die menschlichen Beziehungen und das soziale Leben versteht. Besonderes Augenmerk richten wir dabei auf einen Faktor, auf den er seit Beginn seines Pontifikates immer wieder zurückkommt und der auch in Evangelii Gaudium eine tragende Rolle spielt: die Armut. Die Präferenz der Kirche für die Armen.

Die Armut ist ein drängendes Problem. Selbst in Deutschland ist inzwischen fast jeder sechste von Armut  bedroht, in Italien jeder Dritte. Und im Rest Europas und der Welt sieht es nicht besser aus. Die Wirklichkeit bedrängt uns. Und bewirkt, dass wir auf Phänomene wie die Caritas oder die „Tafeln“ noch genauer schauen. In Italien hat Ende November wieder die große „Lebensmittelkollekte“ für die Armen stattgefunden, bei der jedes Jahr mehr als hunderttausend Freiwillige in Supermärkten im ganzen Land die Kunden um eine Lebensmittelspende bitten. Fast 10.000 Tonnen sind 2013 zusammengekommen, die die „Tafeln der Solidarität“ dann das ganze Jahr über Bedürftigen ins Haus bringen. Welche Erfahrungen machen sie dabei? Sind das nur Gesten des Altruismus? Wollen die Leute einfach anderen Gutes tun? Oder verändert sich dadurch auch die Wahrnehmung der Wirklichkeit und das Bewusstsein seiner selbst? Was passiert in dem, der gibt, und in dem, der empfängt? Wenn man den Text des Papstes aus diesem Blickwinkel liest, hilft einem das, den verborgenen Schatz zu finden, als den der Papst die Armen bezeichnet. Also uns alle.

Allerdings besteht eine Gefahr: dass man die „Randgebiete“, von denen Papst Franziskus immer wieder spricht, auch in Evangelii Gaudium, mit materieller Not gleichsetzt, mit der Armut in den Favelas dieser Welt. Doch sein Begriff von Not ist viel umfassender und subtiler. „Randgebiete“ gibt es in jedem Umfeld, in jedem Aspekt des Lebens, in jedem Herzen, das fern ist vom Zentrum, Christus. Franziskus’ Begriff von Not ist viel komplexer und faszinierender als der soziologische, auf den viele ihn reduzieren, die den Pontifex als „Vertreter der Dritten Welt“ oder als „Linken“ sehen wollen.

Lebensmittelsammlung in Italien

 Wir möchten hier dagegen einen anderen Aspekt in den Blick nehmen. Nämlich, warum die Armut, wie der Papst sagt, etwas mit dem Glauben zu tun hat und einem hilft, die christliche Botschaft in ihrer Gänze zu verstehen. Wenn man die Wirklichkeit, die einen umgibt, und die Erfahrung, die man macht, wenn man etwas gibt oder etwas empfängt, bis auf den Grund ernst nimmt, dann kann man den Weg gehen, der zu Christus führt. Und die Freude des Evangeliums finden.

Amerigo überwindet seine übliche Verschlossenheit und klopft an die Tür des Hauses gegenüber, in einem Wohngebiet in Udine. Es ist ein Abend im Winter. Paolo, der ihn sonst nur vom Sehen kennt, öffnet und erwartet alles andere als eine solche Vertraulichkeit: „Ich habe auch den Schmuck und die Möbel verkauft. Ich habe nichts mehr zu essen.“ Am Tag darauf steht Paolo bei Amerigo vor der Tür, mit Essen und Geld, um die Miete zu bezahlen. Einen Tag später kommt er wieder, bringt einen Ofen und Holz zum Heizen. Dann sammelt er Geld, um Amerigo einen Lieferwagen zu kaufen, damit er wieder arbeiten kann. Und hilft, Arbeit für seine Frau zu finden. Die Liste ist so lang wie die Freundschaft, die an jenem Abend vor zwei Jahren begonnen hat.

„Ich habe das getan, weil ein Mensch an meine Tür geklopft hat.“ Paolo, der heute die Lebensmitteltafeln der Region Friaul-Julisch Venetien im Norden Italiens leitet, ist durch Jahre karitativer Arbeit zu einer Offenheit erzogen worden, zu der viele von uns nicht fähig sind. Wie Amerigo: „Wer weiß schon, was es heißt, wenn man seine Strom- und Gasrechnung nicht bezahlen kann? Ich war nie reich, aber mir hat es auch nie an etwas gefehlt.“ Nach 30 Jahren im Transportgewerbe war seine Firma in Schwierigkeiten geraten. Er hatte es riskiert und eine Bar eröffnet. Aber die ging nach sechs Monaten pleite. Er verkaufte alles, was er konnte. Aurora, seine 16-jährige Tochter, machte den Damen aus der Nachbarschaft die Haare. „Aber das hat nicht gereicht. Wir sind immer tiefer gefallen. Wenn ich an jenem Abend nicht zu Paolo gegangen wäre, wäre ich tot gewesen. Wie die Unternehmer, von denen im Fernsehen berichtet wird.“ Der „Schlag“, so nennt er das, was ihm geschehen ist, „hat mich viel gelehrt. Auch ich habe gerne anderen geholfen, Verwandten zum Beispiel, und meinen Arbeitern. Aber immer nur bis zu einem gewissen Punkt. Doch dann habe ich Leute getroffen wie Paolo und seine Freunde, von denen ich nicht glaubte, dass es sie gibt. Sie leben in einer anderen Welt, sie leben eine andere Art von Leben. Jetzt komme ich langsam wieder auf die Beine und beginne die Welt mit anderen Augen zu sehen. Auch meine Frau sagt das.“

Dem Apostel Paulus genügte ein einziges Kriterium, um zu beurteilen, ob er sich vergeblich bemüht hatte oder nicht: ob er an die Armen gedacht hatte. Daran erinnert der Papst in Evangelii Gaudium. Die Armen sind unser „Schlüssel zum Himmel“. Ihr Leben hat eine „heilbringende Kraft“, durch sie vermittelt Gott uns eine „geheimnisvolle Weisheit“. Er erklärt auch, dass Jesus nicht nur arm geworden ist in allem, sondern dass er sich mit den Geringsten identifiziert hat und seinen Jüngern gesagt hat: „Gebt ihr ihnen zu essen“. „Jesus hat uns mit seinen Worten und seinen Taten diesen Weg der Anerkennung des anderen gewiesen.“ „Das ist eine so klare, so direkte [...] Botschaft“, dass wir sie nicht verdunkeln dürfen, sagt der Papst. Wir sollen die Wirklichkeit nicht mit „begrifflichen Werkzeugen“ und Interpretationen wegschieben, sondern auf sie zugehen. Zum Beispiel, indem wir darauf schauen, was zwischen dem geschieht, der um etwas bittet, und dem, der etwas empfängt, indem er gibt.

„Wer weiß schon, was es heißt, wenn man seine Strom- und Gasrechnung nicht bezahlen kann? Früher hat es mir nie an etwas gefehlt.“

Unter der Armutsgrenze. Eines ist Tatiana klar: „Ich fühle mich nicht mehr nutzlos.“ Mit Anfang 30 fand sie sich mit Mann und vier Kindern in einem Asylantenheim in der Gegend von Bergamo, für das eine Räumungsverfügung vorlag.  „Doch genau zu jener Zeit hat Marco begonnen, mir einmal im Monat Lebensmittel vorbeizubringen. Dadurch verlor auch der Alptraum meiner Vergangenheit sein Gewicht.“ Das scheinen zwei Dinge zu sein, die nichts miteinander zu tun haben, aber für Tatiana gehören sie zusammen. „Meine Geschichte ist nicht schön und viele haben mich deswegen links liegen lassen. Aber Marco hat daran keinen Anstoß genommen. Er ist zu mir ins Haus gekommen.“ Oder Rosa, aus der Toskana, die sich schämte und ihren betrunkenen Freund im Schlafzimmer versteckte, wenn man ihr das Paket brachte. Bis sie bei einer Versammlung der „Tafeln“ einen Priester sagen hörte: „Gott hat Zeit für uns und interessiert sich für uns.“ Am Abend kam ihr Freund wieder betrunken nach Hause. „Ich war so sauer dass ich ihn wegschicken wollte. Aber dann habe ich ihm in die Augen geschaut. Weil ich wusste, dass ich geliebt bin.“ Die Armen sind besonders offen für den Glauben, sagt der Papst. „Es ist nötig, dass wir alle uns von ihnen evangelisieren lassen.“



Lorenza hat es immer gehasst, arm zu sein. Nach den Kriterien des italienischen Statistikamtes liegt sie unter der Armutsgrenze. Sie ist 44, lebt mit ihrem Bruder bei den Eltern und von deren Rente. Seit 2011 ist sie arbeitslos, vorher hatte sie einen befristeten Job. „Jetzt hasse ich aber die Umstände nicht mehr. Mir sind die Augen aufgegangen.“ Sie hat viel verloren, auf vieles verzichtet, etwa auf ein Auto und damit die Möglichkeit, aus dem einsamen Haus in den umbrischen Bergen wegzukommen. Sie hat Arbeit gesucht, sich beworben und dabei mitbekommen, wie demotiviert alle sind. „Sie wussten nicht, was sie mir sagen sollten.“ Weihnachten vor einem Jahr hat sie weinend verbracht. Sie fühlte sich wie diese Krippe in der Höhle. „Dann dachte ich: Nein, ich bin weniger als die Krippe, ich bin das Stroh.“ Doch als sie „auf dem Grund des Brunnens angekommen war“, wie sie das nennt, ist ihr klar geworden: „Jesus hat das Stroh angenommen. Er hat beschlossen, darauf zur Welt zu kommen.“ Sie hat ihren eigenen Wert und den Wert der Dinge wieder entdeckt. „Mich hat nicht nur frei gemacht, dass ich alles verloren habe, an dem normalerweise das Leben hängt, sondern auch dass ich mich an der einzig wahren Verheißung festgemacht habe: meiner Beziehung zu Christus. Selbst wenn es wieder dunkel wird, fühle ich mich nicht mehr vom Leben abgeschnitten.“ Ihre Lebensumstände und Aussichten haben sich allerdings nicht verbessert. Zum Zeitpunkt der „Lebensmittelkollekte“ hatte sie 80 Euro auf dem Konto. Sie hat trotzdem etwas gespendet und als Freiwillige mitgearbeitet. „Aus Dankbarkeit. Denn alles, was ich habe, ist mir geschenkt worden. Ich möchte geliebt werden, einfach weil ich bin. Nicht aufgrund einer Vorstellung, die man sich von mir macht, sondern genauso wie ich bin.“

Sie hatte 80 Euro auf dem Konto. Aber sie hat trotzdem etwas gespendet. „Denn alles, was ich habe, ist mir geschenkt worden.“

Das wollen auch die Leute bei den „Tafeln“ in Rom. Wir treffen sie abends in einem großen Saal in der Nähe des Rebibbia-Gefängnisses. Anwälte und arme Leute packen gemeinsam die Pakete für mehr als 170 Familien. „Wir sind immer wieder erstaunt, wie andere von dem Blick berührt werden, der durch uns hindurchgeht, aber nicht der unsere ist. Er umarmt die Menschen, wie niemand von uns das tun kann“, sagt Fiero, der 2009 diese „Tafel“ initiiert hat. Bianca ist Anwältin. Sie ist mit ihrer achtjährigen Tochter hier. „Das ist das Größte, was ich ihr zeigen kann“. Über die Familie, der sie das Paket bringen wird, sagt sie: „Ich stehe in deren Schuld. Ich würde mich sonst in der Hektik des Alltags verlieren. Meine Arbeit ist sehr stressig gerade, ich habe kaum Zeit, Atem zu holen. Aber auf das hier will ich nicht verzichten, denn es ist sehr wichtig für mein Leben.“ Inwiefern? „Es gibt mir ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit, das ist ganz wichtig … Ich weiß nicht recht, wie ich das erklären soll. Man muss es selbst erfahren.“ Hier, in diesem ganz normalen Umfeld, haben die Menschen das gleiche Bedürfnis wie überall, nämlich immer wieder aufleben zu können. Da ist zum Beispiel Jenica, die auch Pakete von der „Tafel“ erhält. Nachts steht sie auf und trocknet die Betten ihrer Kinder mit dem Fön, weil es im Haus so feucht ist. Trotzdem wollte sie unbedingt bei der Lebensmittelsammlung mitmachen. Oder Giovanna, die schon seit Jahren mithilft, aber diesmal wenig Lust hatte und zu ihrer Freundin Lina sagte: „Ich packe das Paket, aber du bringst es hin.“ Und dann: „Nein, warte, ich begleite dich. Aber ich komme nicht mit hoch.“ Schließlich: „Ich komme mit hoch, aber ich gehe nicht rein.“ Ein einziges Zögern und Begrenzen der eigenen Großzügigkeit. „Doch dann komme ich dort an und die Frau, die uns erwartet, erkennt mich. Wir hätten uns einmal gesehen und sie erinnere sich an mich. Das Geheimnis kommt, um mich zu retten, und verlangt nichts weiter, als dass meine Seele bereit ist.“ Auch durch ganz kleine Umstände, so klein und unbedeutend, das man sie leicht übersehen könnte.

Caracas, Venezuela

Warum tun wir das? „Die Geschichte Gottes mit uns vollzieht sich nicht in großen Dingen“, sagt Gabriele, als er die Pakete für „seine“ Familien packt. Er spricht von ihnen, als seien sie die wichtigsten Menschen auf der Welt. Für ihn begann alles mit Mara, „eine wunderschöne junge Roma-Frau, die auf der Via Nomentana bettelte“. Heute ist er mit ihrem ganzen Clan befreundet. „Du solltest ihre Freude sehen“, sagt er immer wieder, während er von ihrem Neffen erzählt, der jetzt in die Schule geht, von einer Tochter, die an den Beinen operiert wurde, vom Cousin, der in einem besetzten Haus lebt … Und was hat Gabriele von all dem? „Wir Menschen sind schlecht und würden normalerweise etwas anderes tun. Ich würde etwas anderes tun. Die Überraschung über das, was geschieht, hält mich davon ab. Die Begegnung mit einer Menschlichkeit, die aus einer Myriade von kleinen Dingen besteht. Wenn ich auch nur einem nachgehe, öffnet das einen Raum in mir, den es sonst nicht gäbe. Es führt mich dahin, wohin ich sonst nicht gehen würde, wo ich aber glücklich bin. Ich sehe in diesen Leuten das Antlitz des Herrn. Das ist es.“ Deshalb betet er jeden Morgen um „die Freundschaft der Armen“.

Bianca ist mit ihrer achtjährigen Tochter hier, weil „das das Größte ist, was ich ihr zeigen kann“.

Auch Marisa hätte lieber etwas anderes getan an jenem Tag. Sie war schwer beschäftigt, als Nuccia zum x-ten Mal anrief, die Frau aus einem Dorf in der Umgebung von Mailand, der sie die Essenspakete bringt. Sie rief aus der Psychiatrie an. „Erst dachte ich, sie will sicher nur Zigaretten oder Pfefferminzbonbons. Und ich habe viel zu tun!“ Doch dann ließ sie alles stehen und liegen und ging hin. Sie hatte sich immer gefragt, warum sie das eigentlich tat und ihre Zeit opferte. „Es macht mich nicht glücklich, wenn ich durch die Bedürfnisse eines anderen bestimmt werde. Ich weiß nicht, weswegen sie mich anruft. Aber sie ruft mich an …“ Nuccia wartet schon an der Tür der Station, halb nackt. Sie umarmt sie und küsst sie immer wieder auf die Wangen. „In diesem Moment hat sich alles verändert. Sie suchte die Umarmung Christi in einem armen Christen wie mir. Sie suchte den Sinn, genau wie ich.“