Eine Gruppe der Bewegung in Subiaco, in den 60er Jahren.

DON GIUSSANI - DAS EINBRECHEN DES PROPHETISCHEN

GIORGIO BUCCELLATI* hat die neue Biographie Giussanis gelesen und spricht über dessen „kritischen Dialog“ mit den Kardinälen Montini und Colombo, die Bedeutung der Erfahrung für Giussani und sein Verständnis von Kultur.
Giorgio Buccellati

Er ist Don Giussani persönlich nie begegnet. Aber dessen Einfluss auf die bürgerliche Gesellschaft in Mailand und weit darüber hinaus hat er sehr wohl gespürt. Buccellati ist Experte für das Altertum im Nahen und Mittleren Osten und gehört zu den renommiertesten Archäologen weltweit.

Ein außergewöhnliches Buch über eine außergewöhnliche Persönlichkeit: die Vita di Don Giussani von Alberto Savorana. Und noch etwas ist außergewöhnlich: Es ist ein offenes Buch, weil es die Lesenden bewusst zu einer persönlichen Stellungnahme bewegen will, zu einer Antwort auf die Begegnung, die beim Lesen erfolgt. Als würde man dieser Persönlichkeit konkret begegnen, als spiele es gar keine Rolle, dass man sie nie kennengelernt hat. Sie springt einem gleichsam aus den Seiten dieses Buches entgegen, ganz unvermittelt.

Die Begegnung wird möglich, weil der Autor, Alberto Savorana, die Worte von Giussani in eine überzeugende und erstaunlich flüssige Erzählung einbindet, ohne Zäsur. Er wechselt von der Schilderung zum Zitat und umgekehrt, so wie es bei einem persönlichen Gespräch der Fall wäre. Auf diese Weise können wir die Erfahrung der Menschen nachvollziehen, die ihn kannten. Wir, die Leser, können uns mit der Erfahrung der zahllosen Zeugen identifizieren, die alle das Gefühl hatten, Giussani würde, um ein passendes Bild zu benutzen, in ihnen „lesen“.

Der Widerhall. So geschah es auch mir. In diesem Buch konnte ich meiner eigenen Jugend wieder begegnen. Als Don Giussani im Berchet-Gymnasium in Mailand zu unterrichten begann, schrieb ich mich gerade an der Katholischen Universität ein, ebenfalls in Mailand. Ich hatte das Istituto Gonzaga besucht, das ganz in der Nähe lag. Dessen spirituelle Tradition speiste sich vor allem aus den späten 30er Jahren, als Don Carlo Gnocchi in jener Schule Dienst tat. Später folgte er „seinen“ Jungs in den Krieg.

Giorgio Buccellati

Don Gnocchi war ebenfalls ein lebendiger Zeuge jener produktiven Unruhe vieler damaliger Geistlicher, die auch Don Giussani zu eigen war. Das Buch von Savorana hat mich dazu angeregt, Giussani auf seinem Weg zu nachzugehen. Sein Leben war ja eng mit dem der Gesellschaft verwoben, aus der ich auch stamme. So wurde seine Biographie für mich zu einem Nachklang der Zeit und Umstände, in denen ich selbst aufgewachsen bin.

Don Giussani brach in diese Welt ein wie ein Prophet. Auch ich spürte damals den Widerhall, obwohl ich ihn persönlich nie kennengelernt habe. Ich bewegte mich in genau dem Umfeld, das auch seine Erfahrung als Erzieher geprägt hat. Unter einem Propheten verstehen wir meistens jemanden, der etwas „vorhersagt“. Aber ein Prophet ist mehr. Er besitzt die Fähigkeit, im konkreten Leben von der Realität des Geistes zu künden.

„Seine“ Kardinäle. In diesem Zusammenhang ist es interessant, sich die Beziehung Giussanis zu den Kardinälen Montini und Colombo genauer anzuschauen. Sie bringt nämlich die ganze Tiefe seiner prophetischen Dimension zum Vorschein. Giussani führte mit beiden einen kritischen Dialog, eine Art Streitgespräch, bei dem die unterschiedlichen Ansichten nicht etwa in einen unüberwindlichen Gegensatz mündeten, sondern die Spiritualität der Beteiligten sich gegenseitig befruchtete. Es ist beeindruckend und wird in diesem Buch sehr schön deutlich, wie Don Giussani dank dieser Auseinandersetzung seinen Überzeugungen auf den Grund gehen, sie schließlich klären und festigen konnte. Seine prophetische Präsenz wurde dadurch, und auch durch das, was er leiden musste, nur umso stärker und leuchtender. Schauen wir uns die Jahre mit Montini (1954-63) und mit Colombo (1964-79) an.

Don Giussani hat das stabile soziale Gefüge der Mailänder Gesellschaft insofern erschüttert, als er darauf beharrte, dass man eine mystische Beziehung zu Christus aufbauen müsse. Er verwendete genau dieses Wort: „mystisch“. Die große Neuheit war jedoch, dass er so stark auf der Erfahrung beharrte. Ein religiöser Sinn, der durch die bewusst gelebte Erfahrung Fleisch annahm, und nicht nur „Religion“ war, keine platte Dimension des Lebens, die sich nur als Parallele zu den anderen Arten des gesellschaftlichen „Wohlverhaltens“ sah. Genau dies war die Herausforderung, vor der das gutkatholische Bürgertum instinktiv zurückwich. Man fühlte sich sicherer in seinem festgefügten sozialen Netz, in dem auch die Schublade „Religion“ ihren Platz hatte.

„Eine wahre ‚Kommunionalität‘ befreit aus der Anonymität. Jeder ist persönlich und einzeln beim Namen gerufen.“

Die Verkündigung eines Propheten balanciert gewissermaßen immer auf dem Kamm einer Welle und läuft Gefahr, auf die eine oder andere Seite zu kippen. In diesem Fall bestand die Gefahr darin, einen „Mystizismus“ als Selbstzweck zu propagieren, einen selbstgefälligen Narzismus (oder eine Gefühlsduselei, wie ich selbst sie einige Jahre später nach meiner Übersiedlung nach Kalifornien erlebt habe). Hier lag der Gegensatz im Dialog mit Montini. Gegensätzliche Ansichten, aber kein Streit. Aus Savoranas Buch geht hervor, dass Montini fast wie die Stimme des Gewissen für Giussani war. Er sagte ihm teilweise Dinge, zu denen er selbst bereits tendierte.

Und so wird ein grundlegender Zug in Giussanis Denken noch elementarer, nämlich die Bedeutung der Verifizierung. Ein mystischer Ansatz darf nicht in ein Kreisen um sich selbst ausarten. Die Erfahrung muss sich an der Realität außerhalb des Subjektes messen. Man muss diese Erfahrung in einen Rahmen stellen, in dem sich ihre Vernünftigkeit erweist. Hier scheint Giussani gegenüber Montini auf etwas zurückzugreifen, was er selbst als kleiner Junge von seinem Vater gelernt hat. Es ist rührend, wie sich Giussani an seinen Kardinal wendet wie an einen Vater, in einem Ton, der für seine frühen Jahre kennzeichnend war. Die Bedeutung des Verifizierens hatte Giussani von seinem Vater gelernt. Und genau diese Sensibilität muss er nun angesichts der scharfsinnigen Bemerkungen Montinis wiedergewinnen.

Es bestand also die Gefahr der Übertreibung; die Herausforderung lag in einer neuen Kultur. „Kultur“ ist ein zweideutiger Begriff. Negativ ausgedrückt ist sie das Gegenteil von Erfahrung. Positiv hingegen ist sie die Verifizierung der Erfahrung. Weit entfernt von einer Weltflucht schlägt Giussani eine „Mystik“ vor, die fest in der konkreten Verifizierung verankert ist, in der Vernünftigkeit. Die Streitgespräche mit Montini helfen ihm, diese Notwendigkeit deutlicher herauszuschälen. Und im Alltag hilft ihm der Dialog mit den Jugendlichen aus eben diesem Bürgertum, die Begriffe zu präzisieren, mit denen er seine neue Botschaft übermittelt: Es gibt keinen Widerspruch zwischen Kultur und Mystik.

Giussani mit Kardinal Montini, 1963.

Während der Dialog mit Montini gezeigt hatte, dass sich die Erfahrung auf die Kultur stützen muss, ergibt sich aus den Gesprächen mit Kardinal Colombo das Gegenteil: Die Kultur muss sich auf die Erfahrung stützen. Colombo betont, dass man die tragenden Pfeiler des christlichen Soziallebens stärken müsse, und befürchtet, dass eine zu individualistische Auffassung zum Auseinanderbrechen und letztlich zum Kollaps der kirchlichen Institutionen führen könne. Nach den Diskussionen um die kulturelle Dimension der Erfahrung war Giussani sensibilisiert für die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gemeinwesen. Er machte deutlich, dass eine Organisation sich als Organismus erweisen müsse und eine christliche Organisation nichts anderes sein könne als der sakramentale Organismus, der sich jederzeit und in allen Aspekten nicht nur auf die Gestalt, sondern auf die Gegenwart Christi beziehen müsse.

 Von Leopardi zu Pasolini. Die prophetische und mystische Dimension Giussanis infiltriert, indem sie die Herausforderung durch „seinen“ Kardinal aufnimmt, nach und nach die neuen gesellschaftlichen Wirklichkeiten, nicht nur in Mailand, sondern in vielen Teilen der Welt. Durch die Krise der 68er Jahre aber wird Giussani auch persönlich getroffen. Der Sturm erschüttert alle Institutionen, auch diejenigen, die durch seine Initiative entstanden sind. Auf den entsprechenden Seiten des Buches spürt man sein Entsetzen darüber und die Befürchtung, dass die „Bewegung“ sich nicht mehr himmelwärts, sondern nur noch seitwärts bewegen und um sich selbst kreisen könnte. Giussani will nicht in einen Sog des Aktivismus hineingerissen werden. Er will kein Frankenstein der prophetischen Mystik sein. Er erlebt eine Art dramatische Bestätigung dessen, was er schon immer als Gefahr betrachtet hatte: eine Vereins-Kultur als Selbstzweck.

Was dagegen immer nötiger wird, ist eine Kultur der Gemeinschaft.  Eine ganze Reihe von Ereignissen und Auseinandersetzungen trugen dazu bei, dass in ihm eine Überzeugung heranreifte, die er eigentlich immer schon gelebt hatte: Die Communio muss Grundlage kirchlicher Vereinigungen sein und insbesondere die Treue zur lebendigen und gleichzeitig geheimnisvollen Gegenwart Christi. All dies lebt Giussani in außergewöhnlicher Offenheit gegenüber den authentischen, wenn auch so anderen menschlichen Wirklichkeiten. Er bewies eine Einfühlsamkeit, die jenes „Wagnis der Erziehung“ einging, das sich auf die Vielfalt der Bedürfnisse und Antworten einließ.

Das unterstreicht ein überraschendes und hervorstechendes Merkmal von Giussani: sein Enthusiasmus für das Menschliche generell. Wenn dieses wahr und tief ist, muss es auch im Einklang stehen mit der christlichen Erfahrung. Daraus resultiert auch die Begeisterung für Leopardi, die er als Jugendlicher entwickelt hatte, oder später für Pasolini – was Savorana in seinem Buch so gut als ein Wiederaufleben der jugendlichen Begeisterung beschreibt. Und es wirft auch ein neues Licht auf Giussanis Beschäftigung mit der nordamerikanischen Kultur (was mir, der ich mittlerweile in der Welt der amerikanischen Universitäten beheimatet bin, beim Lesen des Buches besonders aufgefallen ist).

Don Luigi Giussani starb am 22. Februar 2005 im Alter von 82 Jahren.

Die zentrale Bedeutung der „Erfahrung“ erweist sich besonders in dem, was Giussani die „Dimensionen des christlichen Lebens“ nennt, nämlich Kultur, Nächstenliebe und Mission. Es ist beeindruckend, wie diese Prinzipien in seinem Leben immer wieder neu ins Spiel kommen: Sie klären und vertiefen sich in der Auseinandersetzung mit den Umständen. Die Umstände wiederum prägen ihn und stellen seine ursprüngliche Intuition auf die Probe. Der Akzent auf der Kultur führt zu einer ständigen Überprüfung des mystischen und prophetischen Ansatzes. Die Betonung der Nächstenliebe legt die wahre Wurzel des Zusammenseins frei, der „Kommunionalität“, wie Giussani sie ab einem bestimmten Zeitpunkt nannte. Die Bedeutung der Mission findet ihren Widerhall in dem Bedürfnis, die eigene Erfahrung zu teilen und die Communio über die Grenzen jeder Art von Gruppierung hinaus auszudehnen. Es ist ein Charakteristikum der christlichen Erfahrung, dass sie die Mystik verkünden will, statt sie in einer solipsistischen Schachtel einzusperren. Im Einklang mit dieser Auffassung entwickelt Giussani den Begriff der Mission. Darauf bezieht sich im Grunde auch der Begriff „Liberazione“ (Befreiung) in dem neuen Namen der Bewegung, denn eine wahre „Kommunionalität“ befreit aus der Anonymität. Egal wie groß die Gruppe zahlenmäßig ist, jeder ist persönlich und einzeln beim Namen gerufen.

Das Wort „Bewegung“ eignet sich gut, um ein Gesamt der genannten Faktoren zu beschreiben. Giussani benutzt dieses Wort immer häufiger, weil es auch den fortwährenden Antrieb zum Ausdruck bringt, außerhalb der Gemeinschaft die Freude mitzuteilen, die man in ihr erlebt. Es ist also sowohl eine Bewegung auf den Mittelpunkt zu, als auch zu den Rändern hin. Man bekennt sich zur eigenen Identität und öffnet sich gleichzeitig zur Welt. Eine Dynamik der Gemeinschaft, deren wesentliche Voraussetzung darin besteht, dass sie den Wert des jeweiligen Gesprächspartners anerkennt.

Das ist die großartige Botschaft der Freiheit. Den religiösen Sinn und den Sinn des Lebens überhaupt in der größtmöglichen Vielfalt seiner Ausdrucksformen zu erkennen, ist die Grundlage der Verkündigung. Das wird in Savoranas Buch sehr schön deutlich. Und ich habe das auch in meiner persönlichen Erfahrung wiedergefunden. Wenn ich auf meine Begegnung mit der islamischen Spiritualität schaue – ich meine hier nicht die Bücher, die ich gelesen habe, sondern den Austausch mit vielen Freunden, mit denen ich bei meinen archäologischen Ausgrabungen in Irak und Syrien eine lange Geschichte geteilt habe. Im Laufe dieser dreißig Jahre fühlte ich mich immer tiefer in eine Bewegung hineingezogen, in der man sich instinktiv einander zuwendet, um das miteinander zu teilen, was jedem das Teuerste ist.



Jesu Ironie. Das Thema der Kultur nimmt in dem Buch über Giussani sehr breiten Raum ein. 1979 gab er in einem Gespräch mit Johannes Paul II. diese schöne Definition: „Kultur ist das kritische und systematische Bewusstsein einer Lebenserfahrung“. Es geht also auch hier um die Verifizierung, auf der er immer so bestanden hat.

Kultur ist außerdem ein verbindender Faktor der Gesellschaft, jene Mentalität, die auf mehr oder weniger impliziten Begriffen basiert, die allgemeiner Konsens sind. Diese Mentalität beeinflusst unbewusst unsere spontanen Reaktionen. Manchmal überlagert sie sie sogar und stellt sich der Erfahrung entgegen. Einerseits gibt es diese „vorherrschende Kultur“, andererseits das „religiöse Bewusstsein des Volkes“, das im Laufe der Jahrhunderte quantitativ zurückgegangen ist und seine vorherrschende Stellung verloren hat.

Wir lesen in Savoranas Buch allerdings nichts über die Kultur der Intellektuellen. Nicht dass wir Intellektuelle uns ausgeschlossen fühlen müssten. Aber es gibt einem zu denken. Und lässt mich an die menschliche Geschichte Jesu denken. Der einzige Intellektuelle, mit dem er offenbar Umgang pflegte, war Nikodemus. Johannes berichtet, dass sie sich nachts trafen. Dieses Detail wiederholt er sogar zweimal, als wolle er die „Vorsicht“ dieses angesehenen „Bürgers“ besonders unterstreichen. Es ist ermutigend, wenn man dort liest, dass Jesus ihn weder ignoriert noch abweist, wie er es oft mit Pharisäern machte. Nikodemus nimmt er ernst. Ich weiß nicht, ob es Absicht war, aber an dieser Stelle überliefert Johannes den ersten längeren Diskurs Jesu. Fast als wolle er andeuten, dass der Austausch mit einem Intellektuellen Jesus zu einer vertieften Darlegung seiner Position animiert habe. Für einen Intellektuellen ist es jedenfalls erbaulich, diese Szene so zu deuten. Aber wir können in dieser Episode auch einen Hauch Ironie bei Jesus verspüren, eines der wenigen Beispiele, das uns überliefert ist: „Du bist der Lehrer Israels und verstehst das nicht?“, fragt er Nikodemus.

Beim Lesen der Biographie beschlich mich das Gefühl, als frage Giussani mich: „Du bist ein Intellektueller und verstehst das nicht?“

*Der Autor ist Professor Emeritus für Sprache und Kultur des Nahen Ostens an der University of California Los Angeles.