Am 11. Februar 2013 kündigt Papst Benedikt XVI. den Kardinälen seinen Rücktritt an.

PAPST BENEDIKT XVI. EIN JAHR
NACH DEM RÜCKTRITT

Am 11. Februar 2013 verkündete Papst Benedikt XVI. seinen Rücktritt. Eine Entscheidung, die die Welt sprachlos machte. Warum hat sie auch Außenstehende beeindruckt? Welche Folgen hatte sie für die Kirche?
Ignacio Carbajosa Pérez

Auch ein Jahr später ist Ratzingers Entscheidung noch nicht richtig verstanden. Doch sie erweist sich als fruchtbar ...

Montag, der 11. Februar 2013. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Papst Benedikt gibt vor einer Gruppe von Kardinälen seinen Rücktritt bekannt: „Nachdem ich wiederholt mein Gewissen vor Gott geprüft habe, bin ich zur Gewissheit gelangt, dass meine Kräfte infolge des vorgerückten Alters nicht mehr geeignet sind, um in angemessener Weise den Petrusdienst auszuüben.“ Für einen Augenblick hält die Welt den Atem an. Dies ist eines jener Ereignisse, die einen so tief prägen, dass jeder von uns sich genau erinnert, wo er war und was er tat, als ihn die Nachricht erreichte.

Was ist jetzt, ein Jahr später, von diesem historischen Moment geblieben? Was haben wir aus dieser Geste Benedikts XVI. gelernt? Die erste Lehre ergibt sich aus der Aufrichtigkeit, mit der sich jeder der Erfahrung stellt, die den Augenblicken nach dieser Nachricht folgte. „In jener Minute der Stille lag alles“, schrieb Julián Carrón wenige Tage später in der italienischen Tageszeitung La Repubblica. „Keine Kommunikationsstrategie hätte eine solche Wirkung erzielen können. Wir standen vor einem ebenso unglaublichen wie realen Faktum, das uns durch seine Evidenz mitriss, so dass wir unsere Blicke von den alltäglichen Dingen erhoben. Was konnte die Welt so plötzlich mit Stille erfüllen?“ Wir standen vor dem unerwarteten Einbruch des Geheimnisses Gottes in unser Leben, dieses Mal vor den Augen der ganzen Welt. Gott „ereignete sich“ in der Person des Zeugen.

Zeichen der Freiheit. Die Geste des Papstes, die den Sitten und Gebräuchen der großen Staatsmänner (und auch vieler Kirchenmänner) zuwiderlief, stellte allen einen neuen Faktor vor Augen. Einen Faktor, den wir gewöhnlich übersehen, wenn wir uns in unseren verkopften und besorgten Analysen einschließen und kein Detail verpassen wollen. In Wirklichkeit bestätigte der Papst den Faktor schlechthin, ohne den das Leben kein Ziel hat: das Geheimnis Gottes, der uns erschaffen und sein gütiges Antlitz in Jesus Christus enthüllt hat. Dieser neue Faktor, der „Stein, den die Bauleute verwarfen und der zum Eckstein geworden ist“ (vgl. Ps 118), trat in die Welt durch eine Geste, die einer ungeheuren Freiheit entsprang. Sie zwang uns, innezuhalten und den Blick nach oben zu richten. „Denn es ruft uns ins Bewusstsein“, fährt Carrón in dem zitierten Artikel fort, „wie real die Person Jesu Christi im Leben des Papstes ist, wie machtvoll sie ihm gegenwärtig sein muss, um einen solchen Akt der Freiheit gegenüber allem und allen zu vollziehen, eine solche dem Menschen unmögliche, unerhörte Neuheit hervorzurufen. Wer bist Du, der Du einen Menschen so faszinierst, dass er frei wird und dadurch in uns den Wunsch weckt, genau so frei zu sein?“ Den Geist des auferstandenen Christus, der die Welt regiert, kann man nicht sehen. Aber man sieht die Freiheit, die er hervorbringt. Daran können wir ihn erkennen: „Wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit“, sagt der heilige Paulus. Diese Freiheit ist eines der unverwechselbaren Zeichen der Gegenwart des Herrn, darin erkennt das moralische Herz das Zeichen Seiner Gegenwart.

 Der Abschied von den Gläubigen am 28. Februar 2013.

Bewunderung. Pedro J. Ramírez, Chefredakteur von El Mundo, einer der bedeutendsten spanischen Journalisten, schrieb damals: „Seit einigen Tagen frage ich mich, warum der Amtsverzicht des Papstes in mir ein wachsendes Unbehagen auslöst, obwohl ich kein praktizierender Katholik bin und obwohl im Bereich des Glaubens mein kritischer Geist fast immer gegen das tröstende Vermächtnis meiner religiösen und pazifistischen Erziehung gewinnt. Ja, das war eine Sensation. Aber nachdem ich einige große Ereignisse aus der ersten Reihe miterleben durfte, frage ich mich, warum mich dieser Schritt des Kirchenführers viel mehr betroffen macht als die Wahl und Wiederwahl Obamas, politische Skandale […] und nicht zuletzt die wirtschaftliche Situation, die uns alle im Würgegriff hält. Nach und nach kam Bewunderung auf für diesen Akt, der voller Weitsicht und Bewusstsein der eigenen Grenzen daherkam und keinen Präzedenzfall hat in der Kirchengeschichte.“

Der Amtsverzicht Benedikts enthält eine weitere Lehre, die vielleicht etwas weniger offensichtlich, aber nicht minder bedeutsam ist. Auch wenn vor langer Zeit schon einmal ein Papst abgedankt hat, eröffnet diese Art der Ausübung des Primats neue Möglichkeiten in den ökumenischen Beziehungen. Die orthodoxen Kirchen blickten nämlich immer argwöhnisch auf den Bischof von Rom, den sie als eine Art Monarchen ansahen, der in der Hierarchie über allen anderen Bischöfen steht. Und die Art, wie das Amt ausgeübt wurde in den letzten Jahrhunderten (in denen die Angriffe auf die Kirche auch das Zusammenrücken um den Papst, seine Verehrung und die Notwendigkeit einer starken Führung verstärkt haben), konnte durchaus diesen Eindruck erwecken. Das stellt ein letztes Hindernis in der Einheit mit den Orthodoxen dar, die zwar bereit sind, einen gewissen Primat des Bischofs von Rom anzuerkennen, aber nur als primus inter pares. Papst Johannes Paul II. hatte in seiner Enzyklika Ut unum sint bereits dazu aufgerufen, neue Formen das Petrusamt auszuüben zu entwickeln. Er war sich dieses ökumenischen Problems bewusst.

Den Geist Christi kann man nicht sehen. Aber man sieht die Freiheit, die er hervorbringt.

Ersehnte Einheit. Die Geste des Amtsverzichts von Papst Benedikt XVI. enthielt also auch eine Botschaft für die Orthodoxie und die anderen christlichen Kirchen: Im Gegensatz zur geistlichen Gabe des Weihesakramentes, dessen Fülle im Bischofsamt verwirklicht ist, ist die Gabe des Primates nicht „Privatbesitz“ einer Person. Sie wird der konkreten Person nur in ihrer Funktion für die ganze Kirche verliehen. Der Primat ist kein Sakrament, das die Person des Papstes sakramental über das Bischofskollegium stellen würde, sondern ein Auftrag für die Weltkirche. In diesem Sinne hat Benedikts Geste deutlich gemacht, dass der Papst wie alle Bischöfe von seinem Dienst abdanken kann, wenn die Umstände dies erfordern.

Das Lehramt Papst Benedikts war erklärtermaßen ein Dienst am Wort Gottes – man erinnere sich nur daran, wie die Aussagen der Heiligen Schrift all seine Katechesen, Ansprachen und Dokumente durchzogen haben. Dadurch begegnete er den Vorbehalten der protestantischen Konfessionen, die dem Petrusamt immer vorwerfen, es stelle sich über das Evangelium. Durch seine letzte Amtshandlung ist er vor allem den Orthodoxen entgegengekommen, im Namen der Einheit, die er so sehr ersehnte.

Diese Intention Benedikts XVI. ist seinem Nachfolger nicht entgangen. Franziskus stellte sich nämlich auf dem Balkon des Petersdomes als „Bischof von Rom“ vor, als Bischof der Kirche, „die den Vorsitz in der Liebe führt gegenüber allen Kirchen“. In seinem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium erklärte er später: „Ich glaube auch nicht, dass man vom päpstlichen Lehramt eine endgültige oder vollständige Aussage zu allen Fragen erwarten muss, welche die Kirche und die Welt betreffen. Es ist nicht angebracht, dass der Papst die örtlichen Bischöfe in der Bewertung aller Problemkreise ersetzt, die in ihren Gebieten auftauchen. In diesem Sinn spüre ich die Notwendigkeit, in einer heilsamen ‚Dezentralisierung‘ voranzuschreiten“ (Nr. 16).

Am 23. März fand in Castel Gandolfo die historische Begegnung mit dem neugewählten Papst Franziskus statt. Am 12. Mai kehrte Benedikt XVI. in den Vatikan zurück

Das Geheimnis ruft uns.
Nun wird verständlicher, was Julián Carrón uns vor einem Jahr gesagt hat: „Nicht nur die Freiheit des Papstes, sondern auch seine Fähigkeit, die Wirklichkeit zu verstehen und die Zeichen der Zeit zu deuten, verweist machtvoll auf die Gegenwart Jesu.“ Die Vernunft des Papstes ist eine Vernunft, die durch das Zusammenleben mit dem Ereignis Christi weit geworden ist. Diesen Akt der Freiheit und diese Art, die Wirklichkeit zu lesen, können die Menschen deuten, wie ehemals die Handlungen der Propheten Israels. Das ist die Weise, wie das Geheimnis Gottes uns ruft, ohne unsere Freiheit auszuschalten. So geschah es auch Johannes, als er an jenem Morgen auf dem See angesichts des außergewöhnlichen Fischfangs über den Menschen am Ufer, den sie nur undeutlich erkennen konnten, sagte: „Es ist der Herr!“ In dem Maße, in dem jeder von uns die Größe der Geste Papst Benedikts anerkannt und den Namen des Herrn angerufen hat, auf welche Weise auch immer, ist seine Gewissheit gewachsen. Nur wer in jenen historischen Tagen diese Erfahrung gemacht hat, kann „die Gewissheit finden, die uns wirklich von den Ängsten befreit, die uns fesseln“, schrieb Carrón in dem zitierten Artikel.

Die Gewissheit in der Gegenwart des Geheimnisses Gottes regiert die Geschichte. Das hat uns die Geste des Papstes deutlich vor Augen geführt. Diese Gewissheit erlaubt es uns auch, die Neuheit, die Papst Franziskus gebracht hat, zu erkennen und uns von unseren eigenen Vorstellungen freizumachen. Der Evangelist Markus berichtet, dass die Jünger am Tag, nachdem Jesus die Fünftausend gespeist hatte, wieder Angst bekamen. „Denn sie waren nicht zur Einsicht gekommen, als das mit den Broten geschah; ihr Herz war verstockt“ (Mk 6,52). Die Geste Benedikts hat uns geholfen und wird uns weiter helfen, zur Einsicht zu kommen.