DON GIUSSANI: VERANTWORTUNG FÜR EINE GABE

Jahresgedenken des Todestages von Don Giussani: Das Staunen über die Begegnung muss zu einer „unablässigen Bitte“ werden. Fast 200 Messen wurden in aller Welt zum Gedenken an Don Luigi Giussani gefeiert, der am 22. Februar 2005 verstorben ist.

Wir dokumentieren die Predigt von Kardinal Angelo Scola bei der Messe im Mailänder Dom.

In der Lesung des heutigen Tages beschreibt der Prophet mit klaren und eindrücklichen Bildern die brennende Sehnsucht des menschlichen Herzens nach Erfüllung. Ein Verlangen, das kein Mensch aus sich heraus stillen kann. Er beginnt mit einer Einladung: „Auf ihr Durstigen, kommt alle zum Wasser! Auch wer kein Geld hat, soll kommen.“ Niemand kann seine eigene Erlösung kaufen, also die Lösung des Rätsels, das jeder von uns darstellt: Gestern gab es mich noch nicht, heute bin ich, morgen werde ich nicht mehr sein. [...] Jeder Versuch, das eigene Heil zu kaufen, ist Verschwendung. Nur Gott schenkt uns Erfüllung, nur Gott kann das Herz des Menschen erfüllen.

Genau das geschah als Maria an dem Tag, nachdem der Engel ihr die Botschaft gebracht hatte, bewegt und von tätiger Selbstlosigkeit angetrieben zum Haus der Elisabeth eilte. In ihrem Schoß trug sie Jesus, die Morgenröte des Heils. […] Ein Staunen, wie es Elisabeth erfasste über das Geschenk, dass Maria zu ihr kam […], erfüllte auch das Herz vieler Menschen, wenn sie Monsignore Luigi Giussani begegneten. Die Gabe, das Charisma, das diesem großen Priester und Erzieher zuteil wurde, hat die Gnade des Glaubens für viele menschlich überzeugend und damit bedeutsam gemacht. Daher gilt: „Wer dich, mein süßer Jesus, nicht mehr liebt als jede andere Liebe, der vergeudet seine Zeit“ [vgl. Jacopone da Todi, „Troppo perde il tempo“]. Wir vergeuden unsere Lebenszeit, wenn wir das Staunen, das durch diese Begegnung hervorgerufen wurde, nicht zu einer unablässigen Bitte werden lassen. […] Alles, wirklich alles Menschliche liegt dem Christen am Herzen. „Ihn interessiert“, wie Don Giussani es einmal genial ausgedrückt hat, „alles, was ist, und das ganze Leben.“ […]

 Aus dem Charisma Don Giussanis entspringt eine dankbare und verantwortliche Liebe für Christus und die Kirche. Deshalb hat der Diener Gottes in seinem mutigen Werk der Erneuerung, für das er oft genug leiden musste, auf jede nur erdenkliche Art die Einheit gesucht […], die auf dem Fels des Petrusamtes und der mit ihm in Gemeinschaft stehenden Bischöfe ruht. Dieser Fels allein gewährleistet, dass das Herz der Gläubigen sich ganz öffnet. Und die Einheit […] lebt Tag für Tag von der Nachfolge derjenigen, die dazu berufen sind, die Fraternität von Comunione e Liberazione zu leiten und als solche von unserer Mutter Kirche anerkannt sind. Wenn auf allen Kontinenten in diesen Tagen aus Anlass des neunten Todestages ihres Gründers die Eucharistie gefeiert wird, […] dann bedeutet das, dass wir Gott für die Gnade der Einheit loben, die das Kennzeichen jeder authentischen kirchlichen Erfahrung ist. Die Einheit garantiert, dass die Freiheit des Ichs in der Gemeinschaft aufblühen kann. Es entsteht keine vollkommene Freiheit, wenn sie sich nicht durch die spürbare Zugehörigkeit zu einer geführten kirchlichen Gemeinschaft ausdrückt. Doch gleichzeitig gibt es keine echte Gemeinschaft, die nicht die Freiheit eines jeden ganz aufblühen lässt.




Christus selbst, der uns sagt, „kommt“ […], stellt zu jedem von uns eine Beziehung her […], die durch die Kommunion eine dauerhafte Gemeinschaft entstehen lässt. Das ist in der Tat die geschichtliche Bedingung, die Er gewählt hat („Tut dies zu meinem Gedächtnis“), um sich den Menschen zu schenken. In Christus Jesus wollte Gott die Menschen für die Eucharistie und die Kirche „nötig haben“. Die Eucharistie, die wir jetzt feiern, hilft uns, dieses Geheimnis besser zu verstehen: Christus ist wirklich gegenwärtig. Wie schwer tun wir uns, diese Tatsache in ihrer ganzen affektiven Intensität anzunehmen! Er ist wirklich gegenwärtig! Er ist es, der uns heute Abend zusammenruft. Er schenkt sich uns im eucharistischen Opfer und macht uns dadurch zu einem Leib. [...] Ich empfehle euch von Herzen, diesen Gestus nicht aufzugeben, der von Beginn an in der Bewegung lebendig war, nämlich auch an Werktagen bewusst die Heilige Messe mitzufeiern, wo es möglich ist, selbst wenn man dafür ein Opfer bringen muss. Die Verantwortung für die Gabe, die wir empfangen haben, kommt im christlichen Kult zum Ausdruck. Doch […] der christliche Kult ist nichts anderes als die vollständige Hingabe des Lebens, auf dass die Herrlichkeit Christi in der Welt offenbar werde. Das Leben als solches ist Berufung […]. Papst Franziskus spricht von einer „Kirche ‚im Aufbruch‘“ (Evangelii Gaudium 24). Unermüdlich durchstreift der göttliche Sämann den gesamten Acker der Welt bis hin zu den zerbrechlichsten und armseligsten Ecken, bis zu ihren Schwächen und Widersprüchen, ja bis zu dem Ort, an dem man ihn verflucht. Der Sämann hört nicht auf, den guten Samen zu säen. Die Mission (um die geht es hier nämlich) ist keine Frage von Strategien oder besonderen Aktivitäten, die man dem Stoff unseres Alltags hinzufügen müsste. Die Mission ist vor allem eine Frage des verantwortlichen Bewusstseins, das sich täglich aus der Erfahrung der Brüderlichkeit speist, die jedem Einzelnen immer wieder neu die Frage stellt: „Was bin ich?“, und vor allem: „Für wen tue ich das?“

Das heutige Evangelium stellt uns den Weg unserer Antwort klar vor Augen […]. Es ist die Tugend, von der das Magnifikat spricht: „Auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut“ (Lk 1,48). Das sagt Maria von sich selbst und zeigt damit jedem von uns den Weg. [...] Sie zeigt uns auch deutlich den Unterschied zwischen dem Demütigen und dem Hochmütigen: „Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind.“ (Dieses kraftvolle Bild beschreibt die große Versuchung des postmodernen Menschen sehr gut, auch wenn wir die ungeheure Schwäche, den Strudel, der einen mitreißt, gut nachvollziehen können.) „Und erhöht die Niedrigen“ (Lk 1,52). [...] Die Demut sollte jede Faser unseres Seins durchdringen und durch tägliche, unaufhörliche Bitte erworben werden. Der Gegensatz zwischen Demut und Hochmut ist nicht so sehr ein Gegensatz zwischen Tugend und Laster, sondern viel eher ein Gegensatz zwischen Vernunft und Unvernunft. Schließlich ist der Hochmütige ein Narziss, der eine unvermeidliche Erfahrung der frühen Kindheit das ganze Leben über fortsetzt: sich selbst im Spiegel als einen anderen zu erkennen. Wer reif ist, bittet dagegen darum, dass es ihm gelingt, den Anderen anders sein zu lassen. Das bedeutet vollkommene Liebe. […] Der Hochmut macht uns unempfindlich für den Anderen und erzeugt schließlich eine grausame Einsamkeit, die man selbst dann empfindet, wenn man mit vielen Menschen zusammen ist. Dann wird das Leben so mühsam, wie es Dante genial dargestellt hat, der die Hochmütigen dazu verurteilt, mit gewaltigen Gewichten auf den Schultern gebückt einherzugehen. Durch die Demut hingegen wird man treu, froh und konstruktiv. Und sie macht uns, wie Péguy es formulierte, zu den „umgänglichsten Menschen“. Das hat uns der Diener Gottes Monsignore Luigi Giussani bis zu seinem letzten Atemzug vorgelebt. Amen.

Christus selbst sagt uns, „kommt“, stellt zu jedem von uns eine Beziehung her, die durch die Kommunion eine dauerhafte Gemeinschaft entstehen lässt

AUS DEM SCHLUSSWORT
Die Kraft des Charismas des Dieners Gottes Luigi Giussani erkennt man, meiner Meinung nach, jetzt besser als vor 60 Jahren. Am Anfang war er wie ein Prophet dessen, was die Kirche nötig hatte: die Leidenschaft des Erziehers. Wie kann man auf die faszinierende und zugleich verwirrende Sehnsucht des postmodernen Menschen antworten, wenn man nicht Männer und Frauen von ihrer frühesten Kindheit an zur Annahme des Geheimnisses erzieht, das uns umarmt, und zu vollkommener Selbsthingabe? Die Verwirrung über so grundlegende Fragens des Lebens wie: Was bedeutet der Unterschied der Geschlechter? Was ist Liebe? Was heißt es, zu zeugen und zu erziehen? Wozu muss man arbeiten? Weshalb kann eine plurale Gesellschaft uns mehr bieten als eine monolithische? Wie müssen wir uns gegenseitig begegnen, wenn wir eine echte Communio in allen christlichen Gemeinschaften und das Wohlergehen der ganzen Gesellschaft erreichen wollen? Wie können wir die Finanzwelt und die Wirtschaft erneuern? Wie mit Schwäche umgehen, von der Krankheit über den Tod bis hin zur moralischen Schuld? Wie die Gerechtigkeit suchen? Wie mit den Armen teilen und ihre Nöte immer besser verstehen lernen? All das muss in unserer Zeit neu durchdacht, neu bestimmt und neu gelebt werden. Das pädagogische Genie von Monsignore Giussani findet hier auch weiterhin ein fruchtbares Feld für sein Zeugnis und seinen Bericht. Man kann diese beiden Begriffe nicht mehr voneinander trennen. Man muss das leben, von dem man berichten will. Und was nicht mitgeteilt wird, wird auch nicht vollständig verstanden. Und wenn es nicht verstanden wird, dann weil es nicht entsprechend gelebt wird. Der Mensch von heute ist ständig auf der Suche. Auch wenn er sich gegen Gott erhebt, wenn er die Kirche Gottes und die Männer der Kirche ablehnt, so ist er doch unaufhörlich und unermüdlich auf der Suche. Wen findet er? Er muss Christen [...] finden, [...] er muss Menschen finden, die Gemeinschaft stiften, die ihn einladen, die ihm zuhören, und die bereit sind, ihr Leben einzusetzen für das höchste Gut im Leben, das Jesus Christus selbst ist. Das bedeutet also, Zeugnis zu geben und öffentlich davon zu berichten, was man lebt. […] Ich empfehle euch, so oft als möglich die Werktagsmesse mitzufeiern und den Rosenkranz zu beten. Das sind Grundvoraussetzungen, die kein noch so intensiver Lebensrhythmus vernachlässigen sollte. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, die grundlegenden Gesten zu übergehen, die unserem Herzen antworten. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, nicht täglich Gott Raum zu geben in der Eucharistie.