UKRAINE:
EIN LAND IM UMBRUCH
Annexion der Krim und Sanktionen gegen Russland, man fühlt sich in den Kalten Krieg zurückversetzt. Aber einen Fixpunkt gibt es in all der Unsicherheit.In Kiew ist aaber der Same für eine neue Gesellschaft gelegt worden. Das bezeugen auch die veränderten Beziehungen zwischen den Christen verschiedener Konfessionen. „Das, was uns vereint, ist wichtiger als das, was uns trennt.“
„Als sie uns gesehen haben, sind sie zur Salzsäule erstarrt und haben sofort aufgehört. Das war ein Moment der Gnade und der Vernunft.“ So beschreibt der orthodoxe Mönch Melchisedek Gordienko den Augenblick, in dem er und seine Mitbrüder Efrem und Gavriil am 20. Januar die Kämpfe in Kiew in der Gruschewskistraße gestoppt haben. „In den Stunden, in denen wir auf dem Maidan waren, sind Menschen aller Konfessionen zu uns gekommen: griechisch-katholische Christen, Priester des Patriarchats von Kiew, römische Katholiken und sogar Buddhisten. Ein Junge, der sich als Seresha vorstellte, kam auf mich zu und fragte mich, ob wir auch Ketzer akzeptieren. ‚Inwiefern Ketzer?‘, habe ich ihn gefragt. ‚Ich bin Baptist‘, antwortete er lächelnd. ‚Klar nehmen wird dich.‘“ Pater Gavriil erzählt, dass sogar ein Jude mit Kippa neben ihm ein orthodoxes Gebet gesprochen habe.
Ein neuer Horizont. Die russische Annexion der Krim, die Sanktionen des Westens gegen Moskau, ein internationales Klima wie im Kalten Krieg. Die Revolution in der Ukraine ist ein weltweites Ereignis geworden, ein gordischer Knoten, der kaum noch lösbar scheint. Heute sind die Handelnden nicht mehr die Demonstranten auf dem Maidan, sondern Wladimir Putin, Barack Obama und Angela Merkel. Aber während der Tage des Protestes wurde auf dem Platz ein Same gesät, der weiterwächst. In den Beziehungen zwischen den verschiedenen Kirchen in der Ukraine und den Christen verschiedener Konfessionen, die auf den Barrikaden zu Freunden geworden sind. Der Keim einer neuen Gesellschaft, die die sowjetische und post-sowjetische Zeit hinter sich lassen will.
Katholische Priester haben die Särge Orthodoxer gesegnet, und orthodoxe Priester beteten für katholische Opfer. Christen aller Konfessionen stellten sich der Gewalt entgegen und konnten sie verhindern. Sicher, es gab auch politische Vereinnahmungen der Religion, und mancher hat zum „Heiligen Krieg“ gegen den russischen Feind und seine Verbündeten aufgerufen. Aber inmitten all des Chaos und der Gewalt war die Präsenz der Priester auf dem Platz auf jeden Fall ein wichtiger Faktor.
In den Monaten des Protestes nahm der Rat der Ukrainischen Kirchen eine Mittlerrolle zu Präsident Janukowytsch ein, was den Politikern der Opposition nicht gelungen war. Das Kapellenzelt auf dem Maidan, in dem auch ökumenische Gottesdienste stattfanden, wurde von verschiedenen Seiten als „die wichtigste Kirche der Ukraine“ bezeichnet. Tatsächlich haben die Christen, ganz besonders in einigen schwierigen Momenten, einen neuen Blickwinkel in die Auseinandersetzungen gebracht, dem es gelungen ist, die Mauern des Hasses und der Gewalt zu durchbrechen. Doch wenn die Kirchen tatsächlich die Revolution von Kiew beeinflusst haben, wie können nun die Beziehungen unter den Christen verschiedener Konfessionen die ukrainische Gesellschaft verändern?
Sprache, Nationalität und Religion sind in der Ukraine sehr eng verknüpft, und die Wunden der Vergangenheit sind noch nicht verheilt. Es gibt fünf Kirchen in der Ukraine. Zunächst die Griechisch-Katholische Kirche, die zwar die orthodoxe Liturgie feiert, aber mit Rom uniert ist. Sie ist vor allem in den westlichen Regionen des Landes verbreitet und lebte bis zur Unabhängigkeit des Landes im Untergrund. Stalin hatte sie mit stillem Einverständnis der Orthodoxie in einem Handstreich aufgelöst und 1946 mit der Russisch-Orthodoxen Kirche zwangsvereinigt. Nachdem sie wieder zugelassen worden war, haben sich ihr die meisten Gemeinden wieder angeschlossen, die über 40 Jahre lang formal dem Patriarchat von Moskau unterstanden hatten. Dass sie der Russisch-Orthodoxen Kirche Kumpanei mit der kommunistischen Diktatur vorwirft, ist verständlich. Aus ähnlichen Gründen hat sich auch die schon lange bestehende Autokephale Orthodoxe Kirche der Opposition auf dem Maidan angeschlossen.
Die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats entstand dagegen erst 1992 im Streit über Verwaltungsfragen. Der Metropolit Filaret brach mit der Orthodoxen Kirche in Moskau und ernannte sich zum Patriarchen. Nach der Russisch-Orthodoxen Kirche ist sie die zweitgrößte. Sie feiert die Liturgie in ukrainischer Sprache und ist vor allem in Kiew und im Westen des Landes vertreten. Und natürlich hat sie auch ihren Anteil an der Polemik gegen den pro-russischen Osten und gegen Putin. Die russisch-orthodoxen Christen, die die Mehrheit der Bevölkerung stellen, befinden sich auch daher in einer sehr heiklen Lage. Sie unterstehen formal dem Moskauer Patriarchen Kyrill, auch wenn sie seit den neunziger Jahren weitgehende Autonomie besitzen. In der Vergangenheit wurde diese Kirche oft von pro-russischen Politikern benutzt, um Druck auszuüben und die Reihen zu schließen. Jetzt muss die Beziehung zwischen dieser kirchlichen Gemeinschaft und der Mutterkirche in Moskau neu definiert werden. Man muss neue Formen finden, in denen die Einheit ohne Zweideutigkeiten zum Ausdruck kommt.
Der griechisch-katholische Erzbischof von Kiew, Swjatoslaw Schewtschuk, berichtet, dass es den Kirchen während der bewegten Wochen des Aufstands gelungen sei, „jede Art von konfessionellen Spaltungen“ zu überwinden. „Die Lage änderte sich ständig, von Stunde zu Stunde, so dass es nicht möglich war, gemeinsame Stellungnahmen zu formulieren. Hinterher merkten wir dann, dass wir dasselbe gesagt hatten. Ich erinnere mich, dass ich dem Metropoliten Antony vom Moskauer Patriarchat sagte, der Heilige Geist habe uns dabei inspiriert.“
Die gleiche Herausforderung. „Was uns vereint, war stärker als das, was uns trennt“, erklärt Pater Nicolai Danilevic, der in der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats für die Beziehungen mit den anderen Religionen zuständig ist. „Heute besteht die Gefahr eines Bürgerkrieges und angesichts dessen sind sich alle Konfessionen einig, dass jede Gewalt vermieden werden muss und wir alle für den Frieden beten sollten. Natürlich ist es leichter einig zu sein, da die Gefahr vom Ausland ausgeht, von Russland.“
Am 24. Februar, dem Tag nach der Flucht des Präsidenten Janukowytsch aus Kiew, hat die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats – angesichts der schwierigen Situation, in der sich das Land befand – den Metropoliten Onufri zum Statthalter für den erkrankten Metropoliten Wladimir gewählt. Am selben Tag richtete der Heilige Synod eine offizielle Kommission für den Dialog mit Vertretern der anderen orthodoxen Kirchen ein, die gangbare Wege zur Überwindung der Trennungen suchen soll. Das ist ein historischer Akt. Eine derartige Kommission war schon 2009 angekündigt worden. Das Projekt geriet aber sofort ins Stocken. „In die Kommission wurden junge und gut ausgebildete Bischöfe berufen, Priester und Laien, und ihre Aufgabe ist es, einen wirklichen Dialog zu führen“, erklärte Sergei Chapnin, der Direktor der Zeitschrift des Moskauer Patriarchats gegenüber AsiaNews. „Wenn die Verhandlungen, die sicher sehr kompliziert sein werden, Erfolg haben sollten, hätte das enormen Einfluss auf die religiöse und gesellschaftliche Situation in der Ukraine.“
Diese Schritte auf institutioneller Ebene sind vor allem aus den Begegnungen zwischen Priestern und Gläubigen der verschiedenen Konfessionen auf dem Maidan in den Monaten des Aufstandes erwachsen. Es sind kleine Zeichen, aber für etwas, das Bestand haben könnte, unabhängig vom politischen Ausgang der Krise. „Es geht nicht um eine Ökumene im Bereich der Lehre, man hat sich nicht über theologische Fragen geeinigt“, erklärt der orthodoxe Philosoph Alexandr Filonenko. „Während des Aufstandes stand der Glaube aller vor der gleichen Herausforderung, und jeder ist für jeden zum Glaubenszeugen geworden. Diese Logik des Zeugnisses war stärker als das Trennende. Das ist etwas ganz Neues in den interkonfessionellen Beziehungen in unserem Land.“
„Es geht nicht um eine Ökumene im Bereich der Lehre. Während des Aufstandes ist jeder für jeden zum Glaubenszeugen geworden.“
In einem Land, in dem die Religionszugehörigkeit vom Nationalgefühl nicht zu trennen scheint, hat es während der Monate auf dem Maidan viele Anzeichen dafür gegeben, dass sich in Kiew im Verhältnis der Menschen untereinander etwas geändert hat. Das gilt für Theologen und Philosophen, aber auch für ganz normale Leute. Pater Andriy Dudchenko, ein russischer Theologe des Moskauer Patriarchats, hat um sich herum eine Bewegung von Intellektuellen aller Konfessionen gebildet. Im Januar verfasste er ein Manifest gegen die diktatorischen Tendenzen des Regimes in Kiew. Darin wiederholte er den Appel von Alexander Solschenizyn aus dem Gulag von 1973 und bat das russische Volk, „nicht nach der Lüge zu leben“.
Das Auto im Schnee. Unterdessen war die Zeltstadt im Herzen Kiews zum Epizentrum einer neuen Weise geworden, sich als Christen und Bürger zu verstehen, Solidarität und Vertrauen zu leben, unabhängig von allen politischen Richtungen und nationalistischen Tendenzen. Die offizielle Website der Griechisch-Katholischen Kirche beispielsweise enthielt ein Zeugnis von Alexei Sigow, einem russisch-orthodoxen Ukrainer, der einer der Protagonisten des Maidan-Aufstandes war. „Bis heute habe ich mich als Bürger von Kiew betrachtet, aber nach der Revolution empfinde ich mich vor allem als Ukrainer. Jetzt kann ich mir die Straßen von Kiew nur schwer ohne die Menschen aus Ternopil vorstellen, die immer in Bewegung waren, ohne die Leute aus Odessa, die nachts auf Streife gingen, ohne die höflichen Menschen aus Lemberg und ohne die Fotos, die die Fans von Dynamo Kiew mit denen von Dnipropetrowsk gemacht haben. Auch nicht ohne die jungen Leute aus Charkiw, die mir zum Glück eines Abends geholfen haben, mein Auto aus dem Schnee zu ziehen.“ Es scheint keine große Sache zu sein, ein Auto anzuschieben. Aber sie entsteht aus dem neuen Impuls, „nicht nach der Lüge zu leben“. Wenn etwas von diesen Monaten im Gedächtnis der jungen Leute haften bleiben wird, dann das. Auch in einem diktatorischen Regime ist eine Geste der Freiheit möglich, sei sie auch noch so klein.