Am 4. Oktober 1962, eine Woche vor Beginn des Konzils, begibt sich Johannes XXIII. auf Pilgerfahrt nach Loreto.

DIE HEILIGSPRECHUNG
VON JOHANNES XXIII.

Er war nicht nur der „Papa buono“, der „gütige Papst“, sondern vor allem der Papst der Güte. Ein Kirchenoberhaupt der Tradition, aber kein Traditionalist.
Paola Bergamini

Monsignore Gianni Carzaniga, der ehemalige Direktor der „Stiftung Papst Johannes XXIII.“ in Bergamo, erinnert sich an Leben und Pontifikat Roncallis: ein Hirte, „nah bei den Menschen“.

„Das ist der Sieg, der die Welt besiegt: unser Glaube. Meine lieben Freunde und Brüder, nehmen wir uns vor den eitlen Trugbildern in Acht, die heute die Welt erfüllen und erschrecken. Alle Zeiten ähneln einander.“ So schloss Monsignore Angelo Roncalli, Nuntius in Paris, am 26. August des Jahres 1950 in der Kirche Sant‘Alessandro in Colonna in Bergamo seine Predigt. Der spätere Papst Johannes XXIII., der am 27. April diesen Jahres gemeinsam mit Johannes Paul II. heiliggesprochen wird, hatte eine enge Bindung zu dieser Pfarrei. Im Jahr 1898 hörte er hier als junger Seminarist eine Predigt von Giuseppe Sarto, dem Patriarchen von Venedig und späteren Papst Pius X. 1906 hielt er selbst hier seine erste wichtige Predigt als Priester, und zwar über Franz von Sales. Und es gab noch weitere Gelegenheiten, die ihn in diese Kirche zurückführten. „Johannes XXIII. ist die schönste Blüte des Klerus der Region Bergamo, der nahe bei den Menschen war und sich besonders der Pfarrseelsorge widmete. Er fühlte sich zeitlebens als Pfarrer“, erklärt Monsignore Gianni Carzaniga, der Rektor des Priesterseminars in Bergamo und acht Jahre lang Direktor der „Stiftung Papst Johannes XXIII.“ war, die die Schriften des Pontifex sammelt und erforscht. Dieses Amt legte er nieder, als er Pfarrer von Sant’Alessandro wurde. „Die Aufgabe war mit der Pfarrseelsorge nicht vereinbar.“

Was bedeutet es, dass sich Johannes XXIII. als Pfarrer fühlte, obwohl er nie Pfarrer war?
Das erste Geschenk, dass ihm der Herr gemacht hat, war, dass er ihm begegnete. Angelo Roncalli ist Priester geworden, weil er als Priester arbeiten wollte, also Jesus Christus in jeder Situation verkünden. Das lernt man nicht aus Büchern. Er hatte diese Erfahrung gemacht, indem er seinen Pfarrer beobachtete. Der stand den Menschen nahe und war ein großer Seelsorger. In diesem Sinne wollte er immer Pfarrer sein. Ich denke dabei auch an die Jahre, die er an den Rändern Europas verbracht hat.

Inwiefern?
Zuerst war er in Bulgarien, bei den über 160.000 katholischen Mazedoniern, die während des Krieges dorthin geflohen waren. Dann war er zehn Jahre in der Türkei, wo er Apostolischer Delegat, also Vertreter des Papstes für die dortigen Katholiken war. Ein missionarischer Bischof, nah bei den Menschen. Seine Rolle als Diplomat bei den Regierungen dieser Länder war von untergeordneter Bedeutung. In der Türkei musste er sogar Zivilkleidung tragen. Dies hielt ihn jedoch nicht davon ab, Beziehungen aufzubauen und „Klinken zu putzen“. Er war ein Mann des aufmerksamen Dialogs. Eine kleine Geschichte zeigt vielleicht, wie schlau er sich verhielt, schlau im Sinne des Evangeliums.

Welche?
Im Jahr 1961 ließ Nikita Chruschtschow Johannes XXIII. seine Glückwünsche zum 80. Geburtstag übermitteln; wenige Monate später besuchte Chruschtschows Tochter gemeinsam mit ihrem Ehemann den Pontifex. Zu dieser Zeit forderten viele, der Heilige Stuhl solle seine Beziehungen mit der UdSSR wieder verbessern. Aber Papst Roncalli ließ sich nicht täuschen und sagte: „Die Welt wurde in sechs Tagen geschaffen. Dies ist der erste für Russland.“ Ihm war klar, dass man das Evangelium überall verkünden kann, aber mit Umsicht. Als er gegen Ende des Zweiten Weltkrieges als Nuntius nach Paris kam, was eine wichtige Aufgabe war, sah er dort die Entchristianisierung, die mit der französischen Revolution eingesetzt hatte. Das sind alles Erfahrungen, die er mit nach Rom nahm. Die Welt veränderte sich. Er spürte die Dringlichkeit und den Wunsch, zu den Menschen der Moderne zu sprechen. Deshalb berief er das Zweite Vatikanische Konzil ein.

Kann man sagen, dass das Konzil einer pastoralen Sorge entsprungen ist?
Ja. Johannes der XXIII. hat dies deutlich gesagt. Das Konzil entsprang nicht einer Frage der Lehre, sondern dem Wunsch, sich um die Familien zu kümmern, um die Bedürftigen, um die Menschen in einer sich wandelnden Gesellschaft. Nicht die Dogmen sollten revidiert werden, das ist nicht nötig, sondern die Art, wie sie dargestellt wurden. Hier zeigt sich wieder seine Sensibilität als Seelsorger, dass er ganz „Pfarrer“ war. Die Lehre muss Fleisch werden, aber in der Tradition verankert bleiben. Er war ein Mann der Tradition, kein Traditionalist.

Was heißt das?
Tradere bedeutet, das christliche Geheimnis wahren und weitergeben. Papst Roncalli spricht zu allen, obwohl er weiß, dass es Unterschiede gibt. Wie Papst Franziskus respektiert er jeden Menschen, will aber in keinster Weise das Dogma und die Lehre verändern. Johannes XXIII. sieht das Verbindende, nicht das Trennende. In diesem Sinne ist seine Tradition lebendig.

Können Sie uns ein Beispiel nennen?
Bei seinem Besuch im Gefängnis Regina Coeli schämt er sich nicht zu erzählen, dass sein Cousin im Gefängnis war. Das ist ein Hirte, der sich den Menschen „an die Seite stellt“. Er spricht offen über das, was ihm am Herzen liegt: die Beziehung mit dem Herrn, der sich allen zuneigt und ihnen begegnen möchte. Er lässt diese Beziehung durchscheinen, die es erlaubt, einander zu verzeihen und das Böse zu vergeben. Für ihn durchdringt die Botschaft des Evangeliums alle Fasern der Existenz, so dass man sieht, wie die Beziehung mit dem Vater, die der Sohn uns ermöglicht, allen Ärger und alle Wut auflöst, weil der Mensch sich geliebt fühlt und befähigt wird zu lieben.

 Johannes XXIII. besucht am Weihnachtstag 1958 das Kinderkrankenhaus Bambin Gesù. Roncalli war Papst von 1958 bis 1963.

Da gibt es viele Ähnlichkeiten mit Papst Franziskus …
Eine fundamentale ist: Beide gehen von der Begegnung mit Christus aus, die das Leben antreibt, weil es von einer größeren Liebe durchdrungen wird. Regeln sind nur eine Konsequenz daraus. Papst Franziskus verkündet wie Johannes XXIII. die Erfahrung, Christus begegnet zu sein. Und es gibt noch einen zweiten Aspekt, der sie verbindet: das Gebet. Johannes XXIII. bereitet sich mit einer Woche Exerzitien auf das Konzil vor. Er denkt seine Person innerhalb des Geheimnisses Christi und schreibt: „Das Gebet ist mein Atem.“ Und sein Gebet ist für die Welt. Wenn er den Rosenkranz betet und zum dritten freudenreichen Geheimnis kommt, der Geburt Christi, dann sagt er: „Dies ist für alle Kinder, die geboren werden.“ Am Abend nach seiner Wahl, als er mit seinem Sekretär Monsignore Loris Capovilla allein ist und dieser ihn fragt: „Was machen wir jetzt?“, antwortet er: „Wir beten die Vesper“.

Don Giussani hat in einem Interview einmal gesagt, der charakteristische Zug bei Johannes XXIII. sei „die barmherzige Langmut Gottes zum Heil der Menschen“ gewesen.
Darin spiegelt sich die Güte Johannes XXIII. Kardinal Capovilla unterstreicht immer wieder, dass er nicht nur der „gütige Papst“, sondern vor allem der Papst der Güte gewesen sei. Sein Blick, den er von Christus gelernt hat, war voll Vertrauen, zwar bereit, jemanden zu korrigieren, aber ohne ihn zu verurteilen. Er war ein Bote der Wahrheit.