Kasachstan - DANKE, DASS DU ANGEKLOPFT HAST

„Warum verlässt ein Mensch das schöne Italien, um an einen solchen Ort zu ziehen?“ Diese Frage stellte sich Igor, als 1994 der erste Priester der Bewegung nach Kasachstan kam, und sie rettete sein Leben.
Maurizio Vitali

Seit hier vor zwanzig Jahren eine Gemeinschaft von CL entstand, hat sich das Leben vieler Menschen in diesem eurasischen Land verändert.

Es gibt einen Ort auf der Welt, an dem sich zeigt, dass das Leben zwei Verbündete hat: das Herz und die Wirklichkeit. Mehr braucht es nicht. Dieser Ort heißt Kasachstan. Hier ist das Leben des Menschen auch das Leben von CL. Den Gegensatz von Glauben und Wissen, von Glauben und Leben, der uns im Westen bestens vertraut ist, scheint es bei diesem Volk zwischen Europa und Asien nicht zu geben. Hier lebt der wilde, ungestüme religiöse Sinn des „wandernden Hirten in Asien“ aus dem berühmten Gedicht von Leopardi. Ob die Leute katholisch sind (wie eine unbedeutende Minderheit) oder orthodox (wie ein Viertel der Bevölkerung) oder muslimisch (wie die meisten) spielt hier überraschenderweise keine Rolle. In ihre Lebensgeschichten ist die Begegnung mit CL unauslöschlich eingeschrieben, ihr Leben hat sich verändert.



Mitte Oktober feierte die kasachische Gemeinschaft mit einer Messe und einer öffentlichen Veranstaltung in der Kathedrale von Karaganda ihr zwanzigjähriges Bestehen. Anschließend verbrachten etwa hundert Menschen zwei Tage gemeinsam in Karkaralinsk an einem See mitten in der Steppe. Aus der langen und eindrucksvollen Kette an Erfahrungen dieser Gemeinschaft in den letzten 20 Jahren können wir nur ein paar Splitter zusammentragen.

Der kleine Same. Saschone heißt eigentlich Alexander. Für seine Freunde ist er Sascha, die ihn wegen seiner robusten Statur auch Saschone nennen. Er ist gelernter Mechaniker, hat sich mittlerweile im Baugewerbe selbständig gemacht. Er war der allererste, der durch einen italienischen Priester CL kennenlernte. 20 Jahre später kratzt Sascha seine Italienischkenntnisse zusammen und schreibt ihm: „Wie du weißt, bin ich nicht besonders gut im Sprechen und noch weniger im Schreiben ... Du bist in meinem Haus aufgetaucht am 29. August 1994, um 19.15 Uhr. Ich erinnere mich nicht mehr genau, was du mir gesagt hast, vielleicht: ‚Folge mir ...‘ Klingt das nicht wie im Evangelium? Nein, es war 1994. Wir waren weit weg von Israel, aber Jesus bewies Seine Gegenwart. Dann kamen andere. Es ist kein Geheimnis, dass ich beeindruckt war und mich verändert habe durch die anderen, nicht durch dich ... Aber du warst es, der an meine Tür geklopft hat. Daher sage ich dir: Danke, dass du an meine Tür geklopft hast.“ Kurz darauf kommt die Antwort: „Ein Vater ist immer der Vater, auch wenn dann andere irgendwann seine Kinder besser erziehen können als er selbst. Deshalb sollte ein Vater nicht eifersüchtig sein, sondern dankbar.“ Unterschrift: Don Edoardo Canetta.



„Wer hätte gedacht, dass aus dem kleinen Samen, der aus Mailand angeflogen kam, die Blume eurer Freundschaft entstehen würde? Und vor allem: dass diese Geschichte bis heute andauern würde? Auch dies ist eine Gnade, nicht nur der Anfang, sondern die Treue des Herrn, der euch nicht verlassen hat.“ Das schrieb Don Julián Carrón am 6. Oktober 2014 der Gemeinschaft von Kasachstan. Dann zitierte er einen Satz, den Don Giussani an seinem 80. Geburtstag gesagt hat: „Ich habe nichts gemacht, ich bin eine Null. Das Unendliche macht alles.“ Und ergänzte: „Das gilt auch für die zwanzigjährige Geschichte der Bewegung in Kasachstan.“

Die wunderbaren sechs (Priester). 1994 begann das Abenteuer der Bewegung in Kasachstan. Seit drei Jahren gehörte das große Land zwischen Europa und Asien nicht mehr zur Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, sondern war ein souveräner Staat. Auf dem Stuhl des Petrus saß seit 16 Jahren Johannes Paul II., der CL aufgefordert hatte, in alle Welt zu gehen und den Menschen die Wahrheit, die Schönheit und den Frieden zu bringen, dem man in Christus, dem Erlöser, begegnet. Jan Paweł Leda, dem Bischof von Karaganda, war das nicht entgangen. Mit Wojtyła teilte er nicht nur die Nationalität, sondern auch den Namen: Jan Paweł, Johannes Paul. Er bat um einen Priester von CL. Don Edo Canetta wurde ausgesandt, in der Seelsorge zu helfen und Italienisch zu unterrichten. Er konnte zwar kein Wort Kasachisch, aber er verstand Polnisch. So kam er an diesen abgelegenen Ort, der 1926 als Lager für Zwangsarbeiter im Bergwerk entstanden war. Kurz darauf kamen fünf weitere mutige Priester: Massimo Ungari, Eugenio Nembrini, Livio Mantovani, Giusseppe Venturini und Adelio Dell'Oro; letzterer ist seit 2013 Bischof von Atyrau. Alle begannen unverzüglich, der örtlichen Kirche zu dienen – in Pfarreien, bei der Caritas. Sie unterrichteten auch Italienisch an Schulen und Universitäten. Heute schreibt Don Adelio: „Was mich wirklich beeindruckt, ist das Wunder der Einheit, die das Charisma hervorbringt. Wir leben Tausende Kilometer von einander entfernt in vier kleinen Gemeinschaften (Karaganda, Almaty, Astana und Atyrau). Aber jedes Mal, wenn wir uns sehen (was nicht häufig vorkommt), merken wir, wie schön das Abenteuer auf die Bestimmung hin ist, das wir miteinander teilen. Einmal fragte uns ein Kellner in Karkaralinsk: ‚Wer seid ihr?‘ Ich antwortete: ‚Wir sind Freunde.‘ ‚Okay. Und wer seid ihr wirklich?‘“

Mascha und Maxim sind jung verheiratet und trauern um ihr Kind. „Unser Sohn ist nicht verloren“, schreibt Maxim, „sondern auf ewig dem Einzigen übergeben, der ganz Vater ist.“ Juliana, die Muslimin ist, tat alles dafür, an dem Treffen mit Johannes Paul II. teilnehmen zu können, als er wenige Tage nach dem Anschlag auf das World Trade Center nach Kasachstan kam. „Warum willst du um jeden Preis dorthin, obwohl du nicht einmal katholisch bist?“, fragte man sie. „Diese Frage führte dazu“, erinnert sich Juliana, „dass ich mich erst recht auf die Begegnung freute. Für mich wurde es das gleiche Ereignis wie vor 2.000 Jahren.“



Ein unerhörter Gestus. Galja arbeitete als Maurer in einer Firma. Sie war allein und konnte nur auf sich selbst zählen. Als die Firma zu machte, fand sie Arbeit für ein paar Monate. Dann kam ein eisiger Winter und die Baubranche lag am Boden. „Ich lebte nicht mehr. Ich aß, ich schlief, hing rum wie ein Zombie. Ich war wie tot“, erzählt sie. Eine Einladung zum Seminar der Gemeinschaft nahm sie aber doch an, „um wenigstens mal mit erwachsenen Menschen sprechen zu können ... Ich schnappte mir Don Livio und erzählte ihm von meinem Elend. Eine endlose Minute lang sagte er gar nichts, dann: ‚Gut.‘ Wie, ‚gut‘, spinnt der? Er fuhr fort: „Wenn es in dir diesen Schrei gibt, dessentwegen du hierher gekommen bist, dann heißt das, dass du nicht tot bist. Du lebst!“

Dima wurde als kleines Kind verlassen und wuchs im Waisenhaus auf. Im Laufe der Jahre erlebte er, dass viele seiner Kameraden starben: durch Selbstmord oder Mord. Ihn hätte dasselbe Schicksal treffen können, aber ... Im Seminar der Gemeinschaft hörte er, wie sie vom Menschen sprachen und seinem Wunsch nach Schönheit, und dachte: „Dieser Mensch bin ich.“ Nach einigen Jahren ließ er sich taufen. Dann verliebte er sich in ein Mädchen, eine Muslimin, die sich nie entscheiden konnte, ihn zu heiraten, bis ... „Als ich ihn in der Messe zur Kommunion gehen sah, wurde mir klar, dass er Christus gehört und dass ich ihn sein ganzes Leben lang begleiten soll.“ Heute lebt Dima mit seiner Familie in Astana: „Die Begegnung mit der Bewegung hat es mir erlaubt, Christus auch in den Freunden aus meiner Kindheit im Waisenhaus zu begegnen, die jetzt mit mir arbeiten.“ In der Pizzeria. Dima ist Rechtsanwalt und hat eigens für sie eine Pizzeria aufgemacht.

Igor ist ein riesiger Mann um die 30. Er trägt ein kurzärmeliges T-Shirt, hat Schultern wie ein Boxer und Muskeln, die deutlich machen, dass er zuschlagen kann. Und er boxt tatsächlich und macht Kampfsport. Er ist in dem berüchtigten Stadtviertel Nummer 30 aufgewachsen, der Bronx von Karaganda, wo es regelmäßig Schlägereien und Morde gibt. Von seiner – kommunistischen – Familie erhielt er eine „Schnelleinweisung“ in zwei Punkten: Erstens, wenn du das Wort „Gott“ hörst, pass auf, dass sie dich nicht übers Ohr hauen. Zweitens, um dich nicht unterkriegen zu lassen, musst du immer der Stärkere sein. Igors größter Wunsch war es daher, jemand zu werden, der sich nicht unterkriegen lässt, also ein richtiger Mann. Das gelang ihm auch. „Aber ich war nicht glücklich“, sagt er heute. Mit zwanzig Jahren eröffnete sich ihm ein neuer Weg. An der Universität wählte er Italienisch als zweite Sprache. Don Canetta war sein Lehrer. Und Igor stellte sich die Frage: „Wie kann ein Mann, der vielleicht ein bisschen klein und komisch, aber nicht dumm ist, sein schönes Land verlassen, um an einen so hässlichen Ort zu ziehen?“ „Mit dieser Frage begann für mich ein neuer Weg. Diese Frage hat mir das Leben gerettet.“

Nasgul ist eine junge und schöne Muslimin mit sehr feinem Geist und Auftreten. Sie ist Psychologin und arbeitet seit neun Jahren am Jugendzentrum Alfa & Omega, ein Werk, das sich vor allem benachteiligten Jugendlichen widmet. Seit zwanzig Jahren ist sie bei CL und lädt immer wieder die Freunde der Bewegung zu sich nach Hause zum Mittagessen ein, sie als muslimische Frau. Das ist eine ähnlich unerhörte Geste wie die des Juden Jesus, der sich unterstand, Menschen am Sabbat zu heilen. Mehr noch, als liebevolle Gastgeberin stellt sie immer auch guten Wein und besten Cognac auf den Tisch, weil sie weiß, dass der Durchschnittskatholik viele Fehler haben mag, aber einen guten Tropfen keineswegs verschmäht. Es gibt beshbarmak, ein Gericht aus Pferde-, Kamel- oder notfalls auch Hähnchenfleisch, das typisch für die Küche der Nomaden Zentralasiens ist. Man ist es mit den Fingern. Und dann sagt sie: „Vor kurzem ist ein Junge aus unserem Zentrum gestorben. Er war 17 Jahre alt. Warum passiert so was? Welchen Sinn hat das Leben? Und wo ist Gott? Ich will bei euch bleiben, denn ihr seid Menschen, mit denen ich über die Fragen sprechen kann, die das Leben mir stellt.“



Die Leiterin des Jugendzentrums, Sivia Galbiati, ist 42 Jahre und seit 12 Jahren in Kasachstan. Sie gehört zu den Memores Domini und wohnt mit zwei Italienerinnen, Lucia und Barbara, und der Kasachin Julya zusammen, die eine Mozzarella-Fabrik besitzt. „Ich habe mich entschlossen, hierher zu kommen, weil ich wollte, dass mein Ja zu Christus bis an die Grenzen der Erde gelangt. In den Jahren hier hat sich meine Bindung an das Charisma vertieft. Ich bin sehr dankbar für die Begleitung durch die Bewegung.“ Nach den Jubiläums-Feierlichkeiten schreibt sie an Liuba: „Diese Tage waren für mich das Aufscheinen einer wahrlich überraschenden Schönheit ... eine Schönheit, deren Namen wir gut kennen, die dem Leben nichts von seiner Dramatik nimmt, sondern in uns den Wunsch weckt, sie ganz zu leben.“

Liuba (oder Loubov) ist die Verantwortliche der Bewegung in Kasachstan, Lehrerin und eine beeindruckende Frau. Sie ist völlig frei von jedem Rollendenken, sagen alle. Sie leitet die Gemeinschaft, indem sie mit jedem einzelnen eine Beziehung aufbaut. Gleichzeitig ist sie in der Schule voll engagiert. „Es geht mir sehr gut!“, antwortete sie Silvia. „Die Tage des Jubiläums waren sehr intensiv. Wie eine meiner Schülerinnen sagte: ‚Mein Herz ist erfüllt und froh.‘ Wir sind froh, dass es diesen schönen Weg und verlässliche Freunde gibt, und dass all das zu unserem Glück da ist.“

Die Pendler. Seit zwanzig Jahren ist das Leben der kasachischen Ciellini verflochten mit dem einer Reihe von Italienern. Sie pflegen Freundschaften, die für beide Seiten kostbar sind. Die einen „pendeln“, die anderen nehmen sie auf. Silvana und Alfredo Scarfone zum Beispiel, sind solche Pendler. Don Giorgio Pontiggia, der Rektor der Schule Sacro Cuore in Mailand, hatte sie einmal gebeten, Gäste aus Kasachstan zu beherbergen. „Das hat unser Leben verändert“, sagen sie heute.

Oder Enrico Craighero, ein Techniker des italienischen Energiekonzerns Eni, der oft an den Ölfeldern des Kaspischen Meeres zu tun hat. Seine Söhne Daniele und Paolo waren von Geburt an schwer behindert. Enrico freundete sich mit Eugenio Nembrini an und dadurch auch mit der kasachischen Gemeinschaft. Er fliegt dreitausend Kilometer, kommt nachts an und muss am nächsten Tag beim Morgengrauen wieder aufbrechen. Aber der Gedanken geht ihm nicht aus dem Kopf: „Wenn es hier Leute gibt, die sich am Leben erfreuen, auch unter tausend Schwierigkeiten, auch wenn sie im Haus Handschuhe und Wintermantel tragen müssen, um die Kälte auszuhalten, dann lohnt es sich wirklich, sich das näher anzuschauen.“

Einer der besten Freunde von Enrico ist Assiet. Er hat Enricos Frau, die er nie gesehen hat, diese Worte geschrieben: „Liebe Angela! Enrico hat mir erzählt, wie sich sein Leben in einem Augenblick verändert hat, als er deine Augen sah, während du Daniele und Paolo füttertest. Ich fragte mich, warum ich mir immer so sehr wünsche, Enrico zu sehen? Ich glaube, es ist, weil Enrico deinen Blick mit sich trägt, und du trägst den Blick Christi, der durch euch zu mir nach Kasachstan kommt.“

Die Fotos in diesem Artikel zeigen Eindrücke vom Leben der Gemeinschaft in Kasachstan, von 1994 bis heute.