Ansprache für die Mitglieder des beim Heiligen Stuhl akkreditierten diplomatischen Korps
„Ich hoffe daher auf einen gemeinsamen Einsatz der einzelnen Regierungen und der internationalen Gemeinschaft, damit jeder Art von Kampf, Hass und Gewalt ein Ende bereitet wird und Anstrengungen zugunsten der Versöhnung.“Exzellenzen, meine Damen und Herren,
ich danke Ihnen für Ihre Teilnahme an dieser traditionellen Begegnung, die es mir am Beginn eines jeden neuen Jahres erlaubt, Ihnen, Ihren Familien und den Völkern, die Sie vertreten, einen herzlichen Gruß und gute Wünsche zu übermitteln. Besonderen Dank möchte ich dem Doyen Exzellenz Jean-Claude Michel für seine freundlichen Worte, die er in Ihrer aller Namen an mich gerichtet hat, aussprechen. Ebenso gilt mein Dank jedem Einzelnen von Ihnen für Ihr beständiges Engagement, mit dem Sie Ihren Dienst versehen und um die Beziehungen zwischen Ihren Ländern oder den internationalen Organisationen, die Sie vertreten, und dem Heiligen Stuhl im Geist gegenseitiger Zusammenarbeit zu fördern und zu verbessern. Auch im Laufe des vergangenen Jahres konnten diese Beziehungen gefestigt werden, sowohl durch die Zunahme von Botschaftern, die in Rom residieren, als auch durch die Unterzeichnung neuer bilateraler Abkommen, seien es jene von allgemeinem Charakter wie das mit Kamerun im vergangenen Januar abgeschlossene, oder seien es spezifische Vereinbarungen wie die mit Malta und mit Serbien.
Heute möchte ich mit Nachdruck auf ein Wort zu sprechen kommen, das uns allen sehr teuer ist: Frieden! Er gelangt zu uns mittels der Stimme der Engelsscharen, die ihn in der Heiligen Nacht als kostbares Geschenk Gottes verkünden (vgl. Lk 2,14). Sie machen uns zugleich den Frieden als persönliche und soziale Verantwortung deutlich, die uns eifrig und tatkräftig finden soll. Neben dem Frieden verkündet die Krippe aber auch eine andere dramatische Wirklichkeit, nämlich die der Ablehnung. In einigen ikonographischen Darstellungen sowohl des Westens als auch des Ostens – ich denke zum Beispiel an die wunderbare Weihnachtsikone von Andrej Rubljow – sieht man das Jesuskind nicht in einer Krippe liegen, sondern in ein Grab gelegt. Das Bild, das die beiden christlichen Hauptfeste – Weihnachten und Ostern – verbinden will, zeigt, dass es neben der freudigen Aufnahme der neuen Geburt auch das ganze Drama in Bezug auf Jesus gibt, der verachtet und verstoßen wird bis zum Tod am Kreuz.
Dieselben Weihnachtserzählungen zeigen uns das verhärtete Herz der Menschheit, die sich schwer tut, das Kind aufzunehmen. Von Beginn an wird auch Er ausgeschlossen, draußen in der Kälte gelassen, gezwungen, in einem Stall geboren zu werden, da in der Herberge kein Platz war (vgl. Lk 2,7). Und wenn schon der Sohn Gottes so behandelt wurde, wie sehr erst viele unserer Brüder und Schwestern! Es gibt eine Art Ablehnung, die uns gemeinsam ist, die uns dazu leitet, auf den Nächsten nicht wie auf einen Bruder zu schauen, den man annimmt, sondern ihn außerhalb unseres persönlichen Lebenshorizonts zu lassen, aus ihm sogar einen Konkurrenten zu machen, einen zu beherrschenden Untertan. Es handelt sich um eine Mentalität, die jene Wegwerfkultur erzeugt, die nichts und niemanden verschont: von den Lebewesen zu den Menschen und sogar bis zu Gott selbst. Aus ihr geht eine verwundete Menschheit hervor, die ständig von Spannungen und Konflikten aller Art zerrissen wird.
Sinnbild dafür ist in den Kindheitserzählungen der Evangelien der König Herodes, der seine eigene Autorität vom Jesuskind bedroht fühlt und alle Kleinkinder in Bethlehem töten lässt. Man denkt sogleich an Pakistan, wo vor einem Monat hundert Kinder mit unerhörter Grausamkeit umgebracht wurden. Ihren Familien möchte ich erneut mein persönliches Beileid ausdrücken und ihnen mein Gebet versichern für die vielen Unschuldigen, die ihr Leben verloren haben.
So verbindet sich mit einer persönlichen Dimension der Ablehnung unausweichlich eine soziale Dimension, eine Kultur, die den anderen zurückweist, die engsten und echten Beziehungen abbricht und am Ende die ganze Gesellschaft auflöst und sie auseinander brechen lässt und Gewalt und Tod hervorbringt. Einen traurigen Widerhall davon haben wir in den zahlreichen Ereignissen des Tagesgeschehens, nicht zuletzt das tragische Blutbad in Paris vor einigen Tagen. Die anderen werden »nicht mehr als Wesen gleicher Würde, als Brüder und Schwestern im Menschsein wahrgenommen, sondern als Objekte betrachtet« (Botschaft zum 48. Weltfriedenstag, 8. Dezember 2014, 4). Und der freie Mensch wird zum Sklaven – mal der Mode, mal der Macht, mal des Geldes, mitunter sogar von abwegigen Formen der Religion. Es sind die Gefahren, die ich in der den zahlreichen Arten moderner Sklaverei gewidmeten Botschaft zum letzten Weltfriedenstag in Erinnerung rufen wollte. Diese entspringen einem korrumpierten Herzen, das unfähig ist, das Gute zu sehen und zu tun und den Frieden zu verfolgen.
Voll Schmerz stellen wir die dramatischen Folgen dieser Mentalität der Ablehnung und der »Kultur der Verknechtung« (ebd., 2) in einer beständigen Ausbreitung der Konflikte fest. Wie ein richtiger Weltkrieg, der stückweise gekämpft wird, betreffen sie – wenn auch unter verschiedenen Formen und in unterschiedlicher Intensität – verschiedene Regionen des Planten, angefangen bei der nahen Ukraine, die zu einem dramatischen Schauplatz von Auseinandersetzungen geworden ist. Ich hoffe für die Ukraine, dass sich mittels des Dialogs die laufenden Bemühungen um eine Beendigung der Feindseligkeiten konsolidieren und die beteiligten Parteien so bald wie möglich in einem erneuerten Geist der Achtung des geltenden internationalen Rechts einen ehrlichen Weg gegenseitigen Vertrauens und brüderlicher Versöhnung einschlagen, der eine Überwindung der gegenwärtigen Krise erlaubt.
Vor allem denke ich an den Nahen Osten, angefangen beim ehrwürdigen Land Jesu. Ich hatte die Freude, es im vergangenen Mai besuchen zu können. Wir werden nie müde werden, um Frieden für dieses Land zu bitten. Dies haben wir außerordentlich eindringlich zusammen mit dem damaligen israelischen Präsidenten Shimon Peres und dem palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas getan. Dabei trug uns die vertrauensvolle Hoffnung, dass die Verhandlungen zwischen den beiden Parteien dahingehend wieder aufgenommen werden können, um die Gewalt zu beenden und zu einer Lösung zu gelangen, die es sowohl dem palästinensischem als auch dem israelischen Volk möglich macht, endlich in Frieden zu leben – innerhalb klar festgelegter und international anerkannter Grenzen, so dass eine „Zwei-Staaten-Lösung“ tatsächlich Wirklichkeit wird.
Der Nahe Osten wird leider auch von anderen Konflikten heimgesucht, die sich schon zu lange Zeit hinziehen und deren Kehrseiten fürchterlich sind auch aufgrund des sich ausbreitenden Terrorismus fundamentalistischen Ursprungs in Syrien und im Irak. Dieses Phänomen ist die Folge der in Bezug auf Gott angewandten Wegwerfkultur. Denn noch bevor der religiöse Fundamentalismus die Menschen ausschließt und schreckliche Massaker verübt, lehnt er Gott selbst ab, indem er ihn zu einem bloßen ideologischen Vorwand macht. Angesichts solcher ungerechter Aggression, die auch die Christen und andere ethnische und religiöse Gruppen in der Region, wie z. B. die Jesiden, heimsucht, ist eine einhellige Antwort nötig. Diese muss im Rahmen des internationalen Rechts die Ausbreitung der Gewalt stoppen, die Einigkeit wiederherstellen und die tiefen Wunden heilen, welche die Aufeinanderfolge von Konflikten geschlagen hat. Hier an dieser Stelle richte ich daher einen Appell an die ganze internationale Gemeinschaft sowie an die einzelnen betroffenen Regierungen, dass sie konkrete Initiativen für den Frieden und in Verteidigung all derer ergreifen, die unter den Auswirkungen des Krieges und der Verfolgung leiden und gezwungen sind, ihre Häuser und ihre Heimat zu verlassen. Mit einem Brief kurz vor Weihnachten wollte ich persönlich allen christlichen Gemeinschaften im Nahen Osten meine Nähe zum Ausdruck bringen und ihnen mein Gebet versichern. Sie leisten ein wertvolles Zeugnis des Glaubens und des Mutes und spielen eine wesentliche Rolle als Stifter von Frieden und Versöhnung und als Mitgestalter der Entwicklung in den jeweiligen Zivilgesellschaften, denen sie angehören. Ein Naher Osten ohne Christen wäre ein entstellter und verstümmelter Naher Osten! Während ich die internationale Gemeinschaft aufrüttle, angesichts einer solchen Situation nicht gleichgültig zu sein, hoffe ich, dass die religiösen, politischen und geistigen Verantwortungsträger, insbesondere die muslimischen, jedwede fundamentalistische und extremistische Interpretation der Religion, die auf die Rechtfertigung derartiger Gewaltakte zielt, verdammen.
Auch in anderen Teilen der Welt fehlt es leider nicht an ähnlichen Arten von Brutalität, die oft Opfer unter den Geringsten und den Schutzlosen hinwegraffen. Ich denke vor allem an Nigeria, wo die Gewalt kein Ende nimmt, welche die Bevölkerung ohne Unterschied heimsucht, und wo das tragische Phänomen des Menschenraubs – häufig die Entführung von jungen Mädchen, um mit ihnen Schacher zu treiben – stetig zunimmt. Es ist ein verabscheuenswerter Handel, der nicht weitergehen darf! Eine Plage, die ausgemerzt werden muss, da sie uns alle trifft, von den einzelnen Familien bis zur ganzen Weltgemeinschaft (vgl. Ansprache an die neu akkreditierten Botschafter beim Heiligen Stuhl, 12. Dezember 2013).
Voller Sorge blicke ich auf die nicht wenigen inneren Konflikt, die andere Teile Afrikas betreffen, angefangen bei Libyen, das von einem langen internen Krieg zerrissen wird, der unsägliche Leiden für die Bevölkerung verursacht und ernste Auswirkungen auf das zerbrechliche Gleichgewicht in der Region hat. Ich denke an die dramatische Lage in der Zentralafrikanischen Republik. Es schmerzt, wenn man feststellt, wie dort der gute Wille, der die Anstrengungen derer beseelt, die eine Zukunft in Frieden, Sicherheit und Wohlstand aufbauen wollen, auf Formen des Widerstands und egoistischer Eigeninteressen stößt, welche die Erwartungen eines so sehr geprüften Volkes, das sich danach sehnt, die eigene Zukunft frei aufzubauen, zunichte zu machen droht. Besondere Besorgnis erregt auch die Lage in Südsudan und in einigen Regionen im Sudan, am Horn von Afrika und in der Demokratischen Republik Kongo, wo die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung nicht zu steigen aufhört und Tausende von Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, gezwungen sind, zu fliehen und unter äußerst beschwerlichen Bedingungen zu leben. Ich hoffe daher auf einen gemeinsamen Einsatz der einzelnen Regierungen und der internationalen Gemeinschaft, damit jeder Art von Kampf, Hass und Gewalt ein Ende bereitet wird und Anstrengungen zugunsten der Versöhnung, des Friedens und der Verteidigung der transzendenten Würde des Menschen unternommen werden.
Man darf außerdem nicht vergessen, dass die Kriege ein anderes schreckliches Verbrechen mit sich bringen, nämlich die Vergewaltigung. Es handelt sich um eine sehr schwere Verletzung der Würde der Frau, die nicht nur in ihrer körperlichen Intimität geschändet wird, sondern auch in ihrer Seele – mit einem Trauma, das kaum ausgelöscht werden kann und dessen Auswirkungen auch sozialer Art sind. Leider kommt es vor, dass auch dort, wo kein Krieg herrscht, zu viele Frauen noch heute gegen sie gezielte Gewalt erleiden.
Alle kriegerischen Konflikte offenbaren das Gesicht der Wegwerfkultur in ihrer ganzen Tragweite durch die Menschenleben, die von denen, welche die Macht besitzen, absichtlich mit Füßen getreten werden. Es gibt jedoch subtilere und heimtückischere Formen der Ablehnung, die diese Kultur gleichermaßen fördern. Ich denke vor allem an die Weise, in der häufig die Kranken behandelt werden, isoliert und ausgegrenzt wie die Aussätzigen, von denen das Evangelium spricht. Unter den Aussätzigen unserer Zeit sind die Opfer dieser neuen und schrecklichen Epidemie Ebola, die besonders in Liberia, Sierra Leone und Guinea bereits über sechstausend Opfer vernichtet hat. Ich möchte heute jenen Beschäftigen im Gesundheitsdienst öffentlich mein Lob und meinen Dank bekunden, die gemeinsam mit Ordensleuten und Freiwilligen den Kranken und ihren Angehörigen, besonders den verwaisten Kindern, jede mögliche Fürsorge zukommen lassen. Zugleich appelliere ich erneut an die ganze internationale Gemeinschaft, eine angemessene humanitäre Hilfe für die Patienten zu gewährleisten und in einem gemeinsamen Einsatz die Krankheit zu bekämpfen.
Neben den aufgrund der Kriege oder der Krankheiten vernichteten Menschenleben gibt es jene der zahlreichen Heimatvertriebenen und Flüchtlinge. Wieder versteht man die Hintergründe und Auswirkungen, wenn man auf die Kindheit Jesu zurückgreift: Sie bezeugt eine weitere Form der Wegwerfkultur, welche die Beziehungen schädigt und die Gesellschaft „auflöst“. Angesichts der Brutalität des Herodes ist die Heilige Familie nämlich gezwungen, nach Ägypten zu fliehen, von wo aus sie erst nach einigen Jahren zurückkehren kann (vgl. Mt 2,13-15). Die Folge der eben beschriebenen Konfliktsituationen ist häufig die Flucht Tausender von Menschen aus ihrem Heimatland. Manchmal ist man weniger auf der Suche nach einer besseren Zukunft, als vielmehr auf der Suche nach einer Zukunft überhaupt, denn in der Heimat zu verbleiben kann den sicheren Tod bedeuten. Wie viele Menschen verlieren ihr Leben auf unmenschlichen Reisen, den Schikanen wirklicher Folterknechte ausgesetzt, die gierig sind nach Geld? Ich habe das während meines jüngsten Besuchs beim Europäischen Parlament angedeutet, als ich sagte: » Man kann nicht hinnehmen, dass das Mittelmeer zu einem großen Friedhof wird « (Ansprache an das Europäische Parlament, Straßburg, 25. November 2014). Und dann gibt es noch eine andere allarmierende Tatsache: Viele Migranten, vor in Nord- und Südamerika, sind einsame Kinder, die leichter den Gefahren zum Opfer fallen und mehr Fürsorge, Aufmerksamkeit und Schutz benötigen.
Da die Migranten oft ohne Dokumente in ihnen unbekannte Länder gelangen, deren Sprache sie nicht sprechen, ist es für sie schwierig, aufgenommen zu werden und Arbeit zu finden. Außer den Unsicherheiten der Flucht sind sie auch gezwungen, sich mit dem Drama der Zurückweisung auseinanderzusetzen. Es bedarf also einer Veränderung der Verhaltensweisen ihnen gegenüber, um vom Desinteresse und von der Angst zu einer aufrichtigen Annahme des anderen zu gelangen. Das erfordert natürlich, » geeignete Gesetze in die Tat umzusetzen, die fähig sind, die Rechte der … Bürger zu schützen und zugleich die Aufnahme der Migranten zu garantieren« (ebd.). Indem ich denen danke, die sich – auch um den Preis des eigenen Lebens – bemühen, den Flüchtlingen und Migranten Hilfe zu bringen, fordere ich die Staaten ebenso wie die internationalen Organisationen auf, engagiert zu handeln, um diese schweren humanitären Situationen zu lösen, und den Herkunftsländern der Migranten Hilfen zukommen zu lassen, um ihre sozio-politische Entwicklung wie auch die Überwindung der internen Konflikte zu fördern, die die Hauptursachen dieses Phänomens sind. » Es ist notwendig, auf die Ursachen einzuwirken und nicht nur auf die Folgen « (ebd.). Das wird im Übrigen den Migranten erlauben, eines Tages in ihre Heimat zurückzukehren und zu deren Wachstum und Entwicklung beizutragen.
Doch neben den Migranten, Heimatvertriebenen und Flüchtlingen gibt es noch viele andere » verborgene Exilanten « (Angelus, 29. Dezember 2013), die innerhalb unserer Häuser und unserer Familien leben. Ich denke vor allem an die Alten und an die Behinderten wie auch an die Jugendlichen. Erstere sind oft Gegenstand der Ablehnung, wenn sie als Last und als » störender Ballast « (ebd.) angesehen werden, während letztere ausgesondert werden, indem man ihnen konkrete Aussichten auf eine Arbeit verweigert, dank der sie sich ihre eigene Zukunft aufbauen können. Andererseits existiert keine schlimmere Armut als die, welche dem Menschen die Arbeit und die Würde der Arbeit nimmt (vgl. Ansprache an die Teilnehmer des internationalen Treffens der Volksbewegungen, 28. Oktober 2014), und die, welche die Arbeit zu einer Form von Sklaverei macht. Das ist es, worauf ich unlängst in einem Treffen mit den Volksbewegungen hingewiesen habe, die sich hingebungsvoll bemühen, geeignete Lösungen für einige Probleme unserer Zeit zu finden wie das immer weiter verbreitete Übel der Jugendarbeitslosigkeit und der Schwarzarbeit sowie die Tragödie vieler Arbeiter – besonders der Kinder –, die aus Habgier ausgebeutet werden. All das widerspricht der Menschenwürde und entspringt einer Mentalität, die Geld und wirtschaftliche Vorteile und Gewinne in den Mittelpunkt setzt, auf Kosten des Menschen selbst.
Außerdem wird nicht selten die Familie selbst zum Gegenstand der Aussonderung, und zwar aufgrund einer immer mehr verbreiteten individualistischen und egoistischen Kultur, welche die Bindungen auflöst und tendenziell dem dramatischen Phänomen des Geburtenrückgangs Vorschub leistet, sowie aufgrund von Gesetzen, die andere Formen des Zusammenlebens privilegieren, anstatt zum Wohl der ganzen Gesellschaft die Familie angemessen zu unterstützen.
Eine der Ursachen dieser Phänomene ist eine gleichmacherische Globalisierung, welche die Kulturen selbst aussondert, indem sie so die ureigenen Faktoren der Identität eines jeden Volkes amputiert. Diese sind aber das unverzichtbare Erbe, das die Grundlage einer gesunden gesellschaftlichen Entwicklung bildet. In einer uniformierten und identitätslosen Welt kann man leicht das Drama und die Mutlosigkeit vieler Menschen wahrnehmen, die buchstäblich den Sinn des Lebens verloren haben. Dieses Drama ist durch die anhaltende Wirtschaftskrise, die Misstrauen hervorbringt und Gesellschaftskonflikte schürt, noch verschärft. Die Auswirkungen davon habe ich auch hier in Rom feststellen können, als ich vielen Menschen begegnet bin, die in beschwerlichen Situationen leben, wie auch im Laufe der verschiedenen Reisen, die ich in Italien gemacht habe.
Gerade an die geschätzte italienische Nation möchte ich ein Wort voller Hoffnung richten, damit das italienische Volk in dem anhaltenden Klima sozialer, politischer und wirtschaftlicher Unsicherheit sich nicht dem Disengagement überlässt und der Versuchung zur Konfrontation weicht, sondern jene Werte der gegenseitigen Achtung und Solidarität wiederentdeckt, welche die Grundlage seiner Kultur und des zivilen Zusammenlebens darstellen und die – speziell für die Jugendlichen – Quellen des Vertrauens sowohl zum Nächsten als auch in die Zukunft sind.
Bei dem Gedanken an die Jugend möchte ich meine Reise nach Korea erwähnen, wo ich im vergangenen August Tausende von Jugendlichen treffen konnte, die sich zum Sechsten Asiatischen Jugendtag versammelt hatten, und wo ich daran erinnert habe, dass man die Jugendlichen schätzen muss, indem man versucht, ihnen » das Erbe der Vergangenheit weiterzugeben und es auf die Herausforderungen der Gegenwart anzuwenden « (Begegnung mit den Vertretern des öffentlichen Lebens, Seoul, 14. August 2014.) Es ist daher notwendig, darüber nachzudenken, » wie gut wir der kommenden Generation unsere Werte vermitteln, und welche Art von Gesellschaft wir vorbereiten, um sie ihnen zu übergeben « (ebd.).
Gerade heute Abend werde ich die Freude haben, erneut nach Asien aufzubrechen, um Sri Lanka und die Philippinen zu besuchen und so die Aufmerksamkeit und die pastorale Sorge zu bezeugen, mit der ich die Geschicke der Völker jenes ausgedehnten Kontinentes verfolge. Ihnen und ihren Regierungen möchte ich noch einmal den sehnlichen Wunsch des Heiligen Stuhls kundtun, durch seinen Beitrag dem Gemeinwohl, der Harmonie und der gesellschaftlichen Eintracht dienlich zu sein. Im Besonderen erhoffe ich mir eine Wiederaufnahme des Dialogs zwischen Nord- und Südkorea, die Bruderländer sind, welche die gleiche Sprache sprechen.
Exzellenzen, meine Damen und Herren,
zu Beginn eines neuen Jahres möchten wir jedoch nicht, dass unser Blick vom Pessimismus, von den Fehlern und den Mängeln dieser unserer Zeit beherrscht ist. Wir wollen Gott auch danken für das, was er uns geschenkt hat, für die Wohltaten, die er uns erwiesen hat, für die Gespräche und die Begegnungen, die er uns gewährt hat, und für einige Früchte des Friedens, die zu kosten er uns die Freude bereitet hat.
Ein vielsagendes Zeugnis dafür, dass die Kultur der Begegnung möglich ist, habe ich im Laufe meines Besuches in Albanien erfahren, einer Nation voller junger Menschen, die eine Hoffnung für die Zukunft sind. Trotz der in seiner jüngeren Geschichte erlittenen Verletzungen ist das Land durch das » friedliche Zusammenleben und die Zusammenarbeit von Angehörigen verschiedener Religionen « gekennzeichnet (Ansprache an die Vertreter des öffentlichen Lebens, Tirana, 21. September 2014), in einem Klima gegenseitigen Respekts und Vertrauens zwischen Katholiken, Orthodoxen und Muslimen. Es ist ein bedeutendes Zeichen dafür, dass ein aufrichtiger Glaube an Gott für den anderen öffnet, Dialog anregt und für das Gute wirkt, während die Gewalt immer aus einer Mystifizierung der Religion selbst hervorgeht, die als Vorwand für ideologische Pläne genommen wird, deren einziger Zweck die Herrschaft des Menschen über den Menschen ist. Ebenso habe ich bei der vor Kurzem gemachten Reise in die Türkei – die historische Brücke zwischen Ost und West – die Früchte des ökumenischen und interreligiösen Dialogs wie auch das Engagement für die Flüchtlinge aus den anderen Ländern des Nahen Ostens feststellen können. Diesen Geist der Aufnahmebereitschaft habe ich auch in Jordanien gefunden, das ich zu Beginn meiner Pilgerreise ins Heilige Land besucht habe, ebenso wie in den Zeugnissen aus dem Libanon, dem ich wünsche, die derzeitigen politischen Schwierigkeiten zu überwinden.
Ein mir sehr wertvolles Beispiel dafür, dass der Dialog wirklich aufbauen und Brücken errichten kann, liegt in der jüngsten Entscheidung der Vereinigten Staaten von Amerika und Kuba, ein wechselseitiges Schweigen zu beenden, das über ein halbes Jahrhundert gedauert hat, und sich zum Wohl der jeweiligen Bürger wieder einander zu nähern. Aus dieser Perspektive richte ich auch ein Wort an das Volk von Burkina Faso, das sich in einer Zeit wichtiger politischer und institutioneller Umwandlungen befindet: Möge ein erneuerter Geist der Zusammenarbeit zur Entwicklung einer gerechteren und brüderlicheren Gesellschaft beitragen. Außerdem betone ich mit Genugtuung die im vergangenen März erfolgte Unterzeichnung des Abkommens, das langen Jahren der Spannungen auf den Philippinen ein Ende setzt. Ebenso unterstütze ich den Einsatz für einen stabilen Frieden in Kolumbien wie auch die Initiativen zur Wiederherstellung der Einigkeit im politischen und gesellschaftlichen Leben in Venezuela. Ich hoffe auch, dass bald ein endgültiges Einvernehmen zwischen dem Iran und der sogenannten Gruppe 5+1 über die friedliche Nutzung der Atomenergie erreicht werden kann, und würdige die bis jetzt vollbrachten Anstrengungen. Mit Befriedigung nehme ich den Willen der Vereinigten Staaten wahr, das Gefängnis von Guantánamo endgültig zu schließen, und hebe die großherzige Bereitschaft einiger Länder hervor, die Gefangenen aufzunehmen. Und diesen Ländern danke ich von Herzen. Schließlich möchte ich meine Würdigung und meine Ermutigung für die Länder zum Ausdruck bringen, die sich aktiv dafür einsetzen, die menschliche Entwicklung, die politische Stabilität und das zivile Zusammenleben unter ihren Bürgern zu fördern.
Exzellenzen, meine Damen und Herren,
am 6. August 1945 erlebte die Menschheit eine der schrecklichsten Katastrophen ihrer Geschichte. Zum ersten Mal und in einer neuen, beispiellosen Weise erfuhr die Welt, bis zu welchem Punkt die zerstörerische Kraft des Menschen gelangen kann. Aus der Asche dieser ungeheuren Tragödie, die der Zweite Weltkrieg darstellt, ist unter den Nationen ein neuer Wille zum Dialog und zur Begegnung erstanden, der die Organisation der Vereinten Nationen ins Leben gerufen hat, deren siebzigsten Jahrestag wir in diesem Jahr feiern. Bei seinem Besuch im Glaspalast vor fünfzig Jahren hat mein verehrter Vorgänger, Papst Paul VI., in Erinnerung gerufen: » Das Blut von Millionen von Menschen sowie unzählige und beispiellose Leiden, nutzlose Massaker und gewaltige Ruinen skandieren den Pakt, der euch eint, mit einem Schwur, der die zukünftige Geschichte der Welt verändern muss: Niemals mehr Krieg, niemals mehr Krieg! Der Friede, der Friede muss die Geschicke der Völker und der gesamten Menschheit leiten « (Ansprache an die Vereinten Nationen, New York, 4. Oktober 1965).
Das ist auch meine zuversichtliche Bitte für dieses neue Jahr, das im Übrigen die Fortführung zweier wichtiger Prozesse sehen wird: die Redaktion der Post-2015-Entwicklungsagenda mit der Übernahme der globalen Nachhaltigkeitsziele und die Erarbeitung eines neuen Klimaabkommens. Das ist dringend. Ihre unabdingbare Voraussetzung ist der Friede, der zuallererst aus der Umkehr des Herzen entspringt – noch vor dem Ende aller Kriege.
In diesem Sinne wünsche ich noch einmal jedem von Ihnen, Ihren Familien und Ihren Völkern ein Jahr 2015 der Hoffnung und des Friedens.