Istanbul, 29. November: die Umarmung zwischen Papst Franziskus und Bartholomäus I.

ÖKUMENE: EIN SAME, DER AUFGEHEN WIRD

Die Begegnung zwischen Papst Franziskus und Patriarch Bartholomäus I. hat in der orthodoxen Welt neue Hoffnungen geweckt, aber auch Skepsis hervorgerufen.
Giovanna Parravicini

Diese Begegnung hat gezeigt, dass es eine andere Dimension gibt, in der „das Wunder das Gesetz des Seins darstellt“.

„Papst Franziskus hat den ökumenischen Patriarchen Bartholomäus gebeten, ihn zu segnen. Gelobt sei der Herr! ... In diesem Gestus steckt eine hoffnungsvolle Leidenschaft für die Einheit, die schmerzhafte Prüfungen durchlaufen hat und daher authentisch ist. Und die Anerkennung, dass die Einheit der Kirche verlorengegangen ist … Das bedeutet nicht etwa, dass die Kirche im Osten unversehrt bewahrt worden wäre (während Rom gefallen ist und die Gnade verloren hat), oder dass Rom die Tür für die ‚getrennten‘ Brüder im Osten immer offengehalten hätte (vielleicht die Hintertür). Der Herr schütze die Bischöfe von Rom und des Neuen Rom, die uns mit Demut, Weisheit, Liebe und unglaublichem Mut zur Einheit in Christus aufrufen.“ Mit diesen Worten kommentiert ein junger Historiker aus Moskau, Sergej Brjun, die Begegnung zwischen dem Primas der Ostkirche und Papst Franziskus am 29. November 2014. In ihnen spiegelt sich das Bewusstsein, dass uns vor einer zu erhoffenden Wiederversöhnung noch ein Bußgang erwartet. Aber auch das bewegte Staunen, mit dem viele in Russland auf diesen Moment einer doch schon präsenten und in gewisser Weise von Christus schon gewirkten Einheit geschaut haben.

Wie haben nun die Orthodoxen diese Geste verstanden? Was bedeutet die Bitte des Papstes um den Segen und der Kuss, den Bartholomäus ihm aufs Haupt gegeben hat, für eine orthodoxe Welt, die schon in sich so gespalten ist? Die russische Orthodoxie begegnet dem Patriarchen von Konstantinopel überwiegend mit Skepsis und Rivalität. Kurz vor dem panorthodoxen Konzil, das für 2016 geplant ist, steht die russische Kirche, die zahlenmäßig größer ist, dem Ehrenprimat für den Nachfolger des Apostels Andreas ziemlich kritisch gegenüber und lässt keine Gelegenheit aus, Bartholomäus des „Papismus“ und des „Despotismus“ zu bezichtigen.

Kirill, Patriarch von Moskau und ganz Russland.

Naiv? Auch anlässlich seiner Begegnung mit Franziskus wurden sehr harsche Urteile geäußert. „Wir wären ja gerne Zeugen eines historischen Ereignisses geworden. Aber was von politischem Kalkül und Intrigen bestimmt ist, kann nie gut enden“, schrieb Mark Smirnow am 17. Dezember in der Nesawissimaja Gaseta. „Der Kampf der Kirchen um die Macht geht weiter. Wer weiß, warum sie uns unbedingt davon überzeugen wollen, dass für Russland ein byzantinischer Papst besser wäre als der Papst in Rom … Solange im Leben der Kirchen und in ihren Beziehungen Pragmatismus und Politik vorherrschen, ist es zumindest naiv, in Begegnungen dieser Art einen Anfang brüderlicher und christlicher Liebe zu sehen.“

Verstärkt wurden das Misstrauen und die Ängste sicher auch durch die Ereignisse in der Ukraine und durch das Risiko, dass die dortige orthodoxe Kirche, die derzeit unter der Jurisdiktion des Moskauer Patriarchats steht, sich mit dem Wunsch nach Autonomie an Konstantinopel wendet. Es ist sicher kein Zufall, dass sich die offiziellen Presseorgane des Patriarchats in Moskau bei diesem für die Orthodoxie so wichtigen Ereignis rigoros auf eine reine Aufzählung der Ereignisse beschränkt haben.

Das Grabdenkmal. Eine gewisse Bewegung ist jedoch zu beobachten, selbst wenn die öffentliche Meinung unter der Aggressivität der vorherrschenden Strömung leidet. Die theologische Akademie von Moskau hat auf www.bogoslov.ru einen Artikel von Pater Giovanni Guaita veröffentlicht, in dem dieser der russischen Öffentlichkeit lange Auszüge aus den Reden der beiden Primasse zugänglich macht. Einige Stimmen – insbesondere unter den jungen Forschern und Dozenten der historischen und kirchlichen Fächer – haben von einer substantiellen Neuheit dieser Begegnung gesprochen. Der Bibelwissenschaftler Andrej Desnickij zögerte nicht, diese Begegnung als „das intensivste und wichtigste Ereignis im ganzen Pontifikat von Franziskus“ zu bezeichnen, das „bei uns große Hoffnungen weckt“.

Ein erstes grundlegendes Motiv dafür besteht darin, dass sich das Verständnis von „Ökumene“ revolutioniert hat. (Man darf nicht vergessen, dass dieses Wort in Russland einen negativen Beiklang hat und an die offiziellen Gesten kirchlicher Würdenträger erinnert, die mit religiösen Slogans verbrämt die imperialistische sowjetische Politik unterstützten.) Wir waren an die „Ökumene der Institutionen“ gewöhnt, bemerkt Desnickij, „aber jetzt wird uns eine persönliche Beziehung vorgeschlagen, die alle Hindernisse überwinden helfen soll“.

„Die klassischen Formen des ökumenischen Dialogs“, schreibt Desnickij weiter, „finden zwischen Repräsentanten der Kirchen als Institutionen statt, von denen jede ihre eigene Dogmatik, ihr eigenes kanonisches Recht, eigene Traditionen usw. besitzt. Die Repräsentanten dieser Institutionen treten miteinander in Dialog und versuchen, Vorurteile gegenüber den Christen anderer Konfessionen abzubauen und möglichst viele Gemeinsamkeiten mit ihnen zu finden. Aber keiner überschreitet die Grenzen der eigenen Konfession. Daraus entsteht etwas, das die Grabstätten eines Ehepaares in Nordirland symbolisieren könnten, von denen der eine katholisch, der andere evangelisch war; deshalb wurden sie in zwei verschiedenen Teilen des Friedhofs beigesetzt, die durch eine Mauer voneinander getrennt sind.“ Allerdings haben sie ein gemeinsames Grabmonument, auf dem sich die beiden Eheleute über die Mauer hinweg die Hand reichen. „Die Mauer aber bleibt weiter an ihrem Platz. Was diese Eheleute sagen werden, wenn sie gemeinsam vor Christus stehen, können wir uns nur vorzustellen versuchen […].“

Orthodoxe Gläubige in Serbien.

Desnickij meint, Papst Franziskus habe einen neuen Ansatz eingeführt: „Statt endloser Sitzungen und vorsichtiger, geschliffener Formulierungen hat er uns das Beispiel eines persönlichen Dialogs mit dem Primas von Konstantinopel gegeben. Ihr seid nicht bereit, euch dem anzuschließen? Niemand zwingt euch. Doch es wird auch niemand darauf warten, dass ihr euch bereiterklärt. Diejenigen, die sich nach der Einheit sehnen, sollen einfach anfangen. Wir werden ja sehen, was passiert. Aus einem so mutigen Schritt, unabhängig von bestehenden Regeln und ohne Kalkül, sind im Christentum schon viele Dinge entstanden. Zum Beispiel ist Petrus aus dem Boot gestiegen und über das Wasser auf Christus zugegangen. Sein Glaube reichte nicht, das stimmt, und so begann er bald zu versinken. Aber trotzdem war dieser Schritt, dieses Beispiel, dieser Mut äußerst wichtig […].“

In letzter Zeit ist nicht nur in Russland eine andere reduktive Vorstellung von Ökumene in Mode gekommen, nach der „sich die ökumenischen Kontakte beschränken sollten auf bestimmte interreligiöse und interkonfessionelle Probleme, auf die gemeinsame Verteidigung traditioneller europäischer Werte und auf soziale Aktivitäten“, wie Artemij Saf’jan, Dozent an der theologischen Akademie in Moskau, feststellt.

Hier und jetzt. Wie Saf’jan weiter schreibt, hilft die Begegnung zwischen Franziskus und Bartholomäus dagegen, „die Ökumene als ein Instrument zu verstehen, mit dem man eine tatsächliche Einheit der christlichen Welt erreichen kann“. Von zentraler Bedeutung ist dabei folgender Satz des Papstes: „Jedem von euch möchte ich versichern, dass die katholische Kirche, um das ersehnte Ziel der vollen Einheit zu erreichen, nicht beabsichtigt, irgendeine Forderung aufzuerlegen als die, den gemeinsamen Glauben zu bekennen, und dass wir bereit sind, im Licht der Lehre der Schrift und der Erfahrung des ersten Jahrtausends gemeinsam die Bedingungen zu suchen, um mit diesen die notwendige Einheit der Kirche unter den gegenwärtigen Umständen zu gewährleisten“. Wer muss hier nicht an die Worte des Starez Johannes in Solowjews Kurzer Erzählung vom Antichrist denken?

„Statt endloser Sitzungen und vorsichtiger, geschliffener Formulierungen hat Franziskus uns das Beispiel eines persönlichen Dialogs mit dem Primas von Konstantinopel gegeben.“

Pater Wladimir Zelinskij, ein russisch-orthodoxer Priester, meint dazu: „Entgegen dem allgemeinen Gefühl, dass die Einheit etwas äußerst Erstrebenswertes ist, das jedoch unerreichbar und fern bleibt, zeigte sich bei dieser Begegnung die Freude, gemeinsam vor der Fülle Christi zu stehen, die sich offenbart, […] einer Fülle, die für einen Moment aufleuchten kann auf dem Antlitz der Kirche, die ihrem Wesen nach noch ungetrennt ist.“

Die bedeutsamen Worte und Gesten des Papstes und des Patriarchen ragen weit heraus aus dem Alltag einer Kirchenpolitik, die von Skepsis und Taktik geprägt ist, die abwägt, was man tun kann und muss, was man nicht tun kann und darf. Und aus einer christlichen Mittelmäßigkeit, die nicht unter der Trennung leidet und sich daher auch nicht nach der Einheit sehnt. Diese Einheit besteht aber schon in einer anderen Dimension, der prophetischen Dimension, in der der Hauch des Geistes machtvoll weht und das Wunder das Gesetz des Seins darstellt.

Dieses Wunder wird langsam sichtbar, und das ist eine weitere Neuheit, die in Russland von verschiedenen Stimmen betont wird. Desnickij erkennt es in „der eucharistischen Gemeinschaft, zu der Papst Franziskus mit Kühnheit diejenigen eingeladen hat, die diese als wichtig und notwendig erachten und bereit sind, hier und jetzt auf sie zuzugehen, ohne darauf zu warten, dass sich ideale Bedingungen ergeben – wann gab es die schon? Der Same ist in die Erde gelegt worden und er wird zweifellos aufgehen. Vielleicht nicht sofort und nicht in einer für alle evidenten Weise. Aber anders kann es gar nicht sein.“