Don Giussani: „EIN REICHES ERBE FÜR DIE GANZE KIRCHE“
Guzmán Carriquiry, Sekretär der Päpstlichen Kommission für Lateinamerika und enger Mitarbeiter von fünf Päpsten, erzählt, wie Don Giussani sein Leben verändert hat.Mit tiefer Dankbarkeit bewahre ich das Geschenk der Begegnung mit Don Giussani im Gedächtnis und im Herzen. Ich bin ihm zum ersten Mal begegnet im Zusammenhang mit der päpstlichen Anerkennung der Fraternität von Comunione e Liberazione. Als Mitglied im Päpstlichen Rat für die Laien war ich damit befasst. Zunächst hat mich sein leidenschaftliches und teilnahmsvolles Interesse für mein Leben, meine Familie, meine Arbeit beeindruckt, wie eine überraschende menschliche Umarmung. Später lernte ich durch die Lektüre seiner Werke und die Freundschaft mit einigen derer, die ihm nachfolgten, die Erfahrung seiner Bewegung noch näher kennen.
Ich hätte damals mit der Selbstzufriedenheit eines „erwachsenen Laien“, ja eines „Untersekretärs“ in einem Dikasterium des Heiligen Stuhls auch denken können, mein Standvermögen als Christ sei schon klar und fest genug. Doch ich erlebte mit freudiger Überraschung, ja Begeisterung, dass durch diese Begegnungen die Natur des christlichen Ereignisses noch deutlicher hervortrat, noch vernünftiger, schöner und attraktiver für mein Leben wurde. Sie veränderten den Blick, mit dem ich auf die ganze Wirklichkeit sah.
EINE NEUE WELT. Da ich diese großartige Zeit des Aufschwungs der „Bewegungen“ im Leben der Kirche aus der Nähe beobachten durfte, habe ich auch die von gegenseitiger Hochachtung getragenen (und inzwischen umfangreich dokumentierten) persönlichen Beziehungen zwischen Don Giussani und dem heiligen Johannes Paul II. miterlebt und später mit Papst Benedikt XVI. (mit beiden übrigens auch schon, bevor sie Papst wurden). Don Giussani hat seine Anhänger immer zu einem aufmerksamen und intelligenten Gehorsam gegenüber der Lehre der Nachfolger Petri erzogen. Man müsste aber auch einmal untersuchen, welchen Einfluss das geniale theologische und pädagogische Denken Don Giussanis auf das Lehramt ausgeübt hat.
Von Joseph Ratzinger wagte Monsignore Rino Fisichella zu behaupten, er sei der „giussanischte“ Papst gewesen. Dabei hob Fisichella auf die tiefen Übereinstimmungen in der Art und Weise ab, wie beide die große katholische Tradition den Menschen unserer Zeit vorgeschlagen haben. Außerdem sollte man nicht vergessen, dass Jorge Mario Bergoglio – dem formale Ehrerbietung oder protokollarische Höflichkeit sonst so fremd sind – gesagt hat, die Lektüre der Werke Don Giussanis sei für sein priesterliches Leben wichtig gewesen!
Die Aufmerksamkeit, mit der Don Julián Carrón die Worte und Gesten von Papst Franziskus verfolgt, ist offensichtlich nicht nur der Gehorsamspflicht geschuldet, sondern auch der Tatsache, dass er sich ernsthaft fragt, was der Heilige Geist dem Charisma der Bewegung, ihrer Geschichte, der Erneuerung ihres erzieherischen, missionarischen und caritativen Engagements durch diesen Papst sagen will.
Don Giussani hatte nie die Absicht, eine Bewegung zu gründen – das hat er immer wieder betont! Seine Aufmerksamkeit galt immer der einzelnen Person, er verabscheute jegliche Verflachung auf eine reine Vereinsmentalität und achtete darauf, dass die Sprengkraft des Charismas nicht auf ein Schema oder eine Institution verkürzt wurde. Er reagierte geradezu allergisch darauf, wenn sich jemand mit dem bereits Erreichten zufriedengeben wollte, und erzog seine Leute dazu, ihre Freiheit zu entfalten und Mitverantwortung zu übernehmen. Er wandte sich gegen jede Versteifung auf Formen und war immer bereit, neu anzufangen.
Die Bewegung hatte für ihn keinerlei Selbstzweck. Er wollte die Menschen zu nichts anderem als einer echten christlichen Erfahrung erziehen. Aber gerade die Reflektion über die eigene Erfahrung, zusammen mit den Gedanken von Kardinal Ratzinger, hat vielen anderen Bewegungen und Gemeinschaften und sogar dem Lehramt der Kirche geholfen, das Geschenk und die Bedeutung dieser neuen Generation von Männern und Frauen zu verstehen, die die Dankbarkeit, die Freude, die Wahrheit und die Schönheit des Christseins neu entdecken, überall dafür Zeugnis ablegen und mit Überzeugungskraft die Gründe für dieses Geschenk vermitteln, das sie erhalten haben und allen Menschen weitergeben wollen.
AUCH DIE „FERNSTEN“. Mich beeindruckt immer wieder, wie das Charisma und das Denken Don Giussanis die Grenzen von Comunione e Liberazione überschreitet und sich auf unvorhergesehenen Wegen ausbreitet. Es ist ein Licht für das christliche Leben so vieler und ruft Fragen, Gedanken und Hoffnungen bei vielen hervor, die man gemeinhin als „fernstehend“ betrachtet. Die Veröffentlichung seiner Werke in verschiedenen Sprachen hat sicher dazu viel beigetragen. Doch mich überrascht immer wieder, wie viele Bischöfe, Priester, Ordensgemeinschaften, Politiker und Gelehrte, besonders in meinem lateinamerikanischen Umfeld, aber auch junge Leute von Don Giussani mit Bewunderung und Dankbarkeit sprechen, obwohl sie ihn persönlich nie kennengelernt haben und nie mit Comunione e Liberazione in Berührung gekommen sind.
Ich erinnere mich zum Beispiel an ein Abendessen mit zwei Kardinälen aus Lateinamerika, die die Bewegung kaum kannten. Ihre Gesichter und Worte sind mir immer noch präsent. Einer von ihnen hatte als junger Bischof in den siebziger Jahren sehr stark darunter gelitten, dass viele seiner „Mitstreiter“ ihren Glauben auf einen wütenden, wenn nicht gar gewalttätigen Moralismus reduziert oder ihn sogar ganz verloren hatten. Er erzählte uns, wie sein pastoraler und pädagogischer Ansatz sich veränderte, nachdem er durch die Lektüre der Texte von Giussani besser verstanden habe, dass das Christentum ein „Faktum“ ist und keine Ideologie. Und der andere Kardinal sprach mit Begeisterung über die Bedeutung der „Entsprechung“ zwischen dem Glauben und der Sehnsucht des Menschen …
ÜBERHAUPT NICHT ANONYM. Noch zahlreicher sind heute in der Kirche diejenigen, die die genialen Gedanken Don Giussanis übernehmen, ohne es zu merken. Jemand hat einmal gesagt, das Beste für einen Denker sei, wenn sein Ansatz und seine Gedanken „anonym“ würden und sich überall verbreiteten. In diesem Fall sind sie aber nicht „anonym“ geworden, sondern Gemeingut der ganzen Kirche, und damit zum „Nutzen aller“, um es mit Paulus zu sagen.
Überhaupt nicht anonym ist auch zehn Jahre nach Giussanis Tod das Zeugnis seines heiligmäßigen Lebens, das uns immer noch begleitet. Ebenso wie die Gesichter vieler Menschen, die durch ihn von Christus angezogen wurden, in einem Strom der Gnade, der sich über die unterschiedlichsten geographischen, kulturellen und existenziellen Grenzen hinaus immer weiter ausbreitet.