Koptische Christen bei einer Trauerfeier.

JENER HILFERUF AUS ALEPPO

Erzbischof Mario Zenari, Apostolischer Nuntius in Syrien, mahnt: „Lasst nicht zu, dass auf diesem Stück Erde die Verschiedenheit begraben wird“
Giorgio Paolucci

Man braucht sich nur die Zahlen ansehen, um das Ausmaß der Tragödie zu erfassen, die seit mehr als vier Jahren in Syrien stattfindet: 220.000 Tote, darunter 11.000 Kinder, 4 Millionen Menschen – bei einer Gesamtbevölkerung von 22 Millionen -, die ins Ausland geflohen sind, weitere 7 Millionen Vertriebene im Inland, 10 Millionen, die humanitärer Hilfe bedürfen, vier von fünf Syrern, die unter der Armutsgrenze leben, 58 Prozent Arbeitslose, 1.650.000 Kinder, die nicht mehr zur Schule gehen. Außerdem: 20.000 Menschen, die vermisst werden, darunter zwei orthodoxe Bischöfe und der italienische Jesuitenpater Paolo Dall'Oglio. Doch die Zahlen sagen nicht alles. Die Bilder und Berichte aus Damaskus, Homs, Aleppo sowie aus Dutzenden von Dörfern zeigen zerstörte Wohnviertel, Gesichter, die von Angst und Leid gezeichnet sind, eine bedauernswerte Menschheit, die Opfer blinder Gewalt geworden ist.

„Das Volk ist das Opfer dieser Konflikte: ein ganzes Volk, das die Konsequenzen eines Stellvertreterkrieges bezahlt, der von fremden Mächten geschürt wird, die ein gigantisches und tragisches Spiel in der Region austragen. Eine Mannschaft trägt das Trikot der Sunniten, die andere das der Schiiten, und dann gibt es noch einen weiteren Spieler, Israel, das am Spielfeldrand steht.“ Erzbischof Mario Zenari, seit sechs Jahren Apostolischer Nuntius in Syrien, berichtet telefonisch aus Damaskus. Der realistische Blick von jemandem, der das Leid der Christen teilt und die politische und diplomatische Dynamik im Land und im ganzen Nahen Osten gut kennt.

Gibt es einen Ausweg aus dem Blutbad in Syrien? „Es ist mittlerweile klar, dass es keine militärische Lösung geben kann. Der einzige Ausweg liegt in der Diplomatie. Man muss einen Verhandlungstisch schaffen, der alle einbezieht: die Regierung, die Oppositionsgruppen, die Zivilgesellschaft (einschließlich der Religionsführer), die regionalen und internationalen Akteure (und man wird den Iran nicht wie vormals ausschließen können). Das grundlegende Scheitern der beiden vorherigen Konferenzen, die in Genf stattgefunden haben, ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass alle, die am Verhandlungstisch saßen, eher die Absicht verfolgten, ihren Gegner zu besiegen, als Frieden herzustellen. Doch wenn es keine Bereitschaft zum Kompromiss gibt, um ein stabiles und dauerhaftes Ergebnis zu erzielen, kann das nichts geben. Die Parole muss ,Dialog’ lauten. Und es muss sofort die verhängnisvolle Lieferung von Waffen an die streitenden Parteien seitens solcher Staaten aufhören, die es auf eine Destabilisierung Syriens absehen: Was sich hier abspielt, ist ein Kapitel des ,dritten Weltkriegs in Etappen’, von dem Papst Franziskus schon seit längerem spricht.“

Erzbischof Mario Zenari

 „Wir können nicht mehr.“ Syrien gehört zur Wiege des Christentums. In Antiochia (das erst seit 1939 zur Türkei gehört) wurden die Anhänger Jesu zum ersten Mal als „Christen“ bezeichnet. Hier ist im Laufe der Jahrhunderte ein Mosaik von Völkern entstanden, die die Möglichkeit des Zusammenlebens verschiedener Kulturen und Religionen bezeugt haben. Die Verschiedenheit ist hier zu Hause. Aleppo, die Stadt, die dies stärker als andere verkörpert, ist seit Monaten ein Schlachtfeld von Regierungstruppen, den Rebellen der Al-Nusra-Front (eine Untergruppe von Al-Quaida) und den Milizen des Islamischen Staats (IS). Gerade von hier kam Mitte April anlässlich des orthodoxen Osterfestes ein Hilferuf von den Vorstehern der christlichen Konfessionen – ein Dokument mit dem bedeutungsreichen Titel: „Auferstehung des Erlösers oder Begräbnis der Gläubigen?“.

„Wir haben vieles gesehen und wir haben geweint: Leichen, die aus den Trümmern gezogen wurden, Fetzen, die an der Wand klebten, und Blut, das sich mit dem Boden des Heimatlandes vermischt hatte. Dutzende von Märtyrern jeder Religion und Konfession, verwundet und verstümmelt. Wir können nicht mehr. Stoppt den Verkauf von Waffen, von Todeswerkzeug, die Lieferung von Munition. Wollt ihr, dass wir weiter verletzt und gedemütigt werden, versehrt und jeder menschlichen Würde beraubt? Oder dass wir gewaltsam vertrieben und offen vernichtet werden?“ Der Appell schließt mit einem Hilferuf: Wir wollen, dass Aleppo bleibt, was es immer war, „das kostbare Juwel auf der Krone unseres Landes, mit all seinen Bestandteilen und seiner kulturellen und religiösen Verschiedenheit“.

Die Trümmer vom Zentrum Sankt Vartan, Aleppo, das bis 2012 von Jesuiten geleitet wurde. Am 21. April 15 haben die Islamisten ihn erobert und zerstört.

Die Verschiedenheit ausmerzen: Das ist das Ziel des IS, der von Syrien aus sein todbringendes Vordringen im Nahen Osten und in Nordafrika begonnen hat und der im syrischen Ar-Raqqa die Hauptstadt des so genannten Kalifats errichtet hat, das derzeit mehr als ein Drittel des Landes besetzt hält. „Das Kalifat wird von der Bevölkerung wie eine Eiterbeule wahrgenommen, ein Fremdkörper in der Geschichte des Landes“, erklärt Zenari: „Das Unglück hat mit der Invasion von Kriegern begonnen, die von fremden Ländern finanziert wurden. Sie haben die kulturellen und religiösen Bestandteile zerstört, aus denen das Mosaik Syriens bestand.“ Im Visier stehen nicht nur die Christen, sondern alle Minderheiten: Aleviten, Schiiten… Es herrscht ein Hass auf den Anderen als solchen. Doch die Verwüstung fordert einen hohen Preis von den Christen: Kirchen, alte Klöster und Kultgegenstände werden zerstört, Kreuze von den Kirchtürmen heruntergeschlagen, Ordensleute entführt, Prozessionen und Glockengeläut verboten – und das alles einer Logik zufolge, die die bedeutungsstärksten Symbole ihrer Verschiedenheit ausmerzen will. Sie werden verfolgt, weil sie Christen sind, wie Papst Franziskus schon mehrfach in Erinnerung gerufen hat.

Den Virus beseitigen. Werden die Muslime selbst in der Lage sein, den Virus zu beseitigen, der Syrien befallen hat? „Es ist ein Ringen, das nicht auf die militärische Ebene begrenzt werden kann, sondern grundlegende Veränderungen mit dem entscheidenden Beitrag der Religionsführer erfordert“, antwortet der Nuntius: „Es ist Arbeit auf kultureller und erzieherischer Ebene erforderlich, für eine Interpretation des Koran, die allen, die die Religion missbrauchen, um ihre Vergehen zu rechtfertigen, jegliches Alibi entzieht. Parallel dazu muss ein neues Konzept der Staatsbürgerschaft erarbeitet werden, das von der Konfessionszugehörigkeit losgelöst ist und auf gleichen Rechten und Pflichten beruht, um zu verhindern, dass jemand, der sich nicht zur Religion der Mehrheit bekennt, wie ein Bürger zweiter Klasse behandelt wird.“ Das ist notwendig für das neue Syrien, und das ist notwendig für den ganzen Nahen Osten. „Die meisten Christen, die emigrieren, denken, dass sie nicht mehr zurückkehren werden, weil sie sich nicht ausreichend geschützt fühlen. Dieses Stück Erde ist die Wiege tausendjähriger Kulturen und Riten: syrischer, armenischer, chaldäischer, melkitischer, koptischer, maronitischer. Und jeder Christ, der fortgeht, lässt den Schatz ärmer werden, der sich im Laufe der Jahrhunderte angesammelt hatte. Möge es Gott nicht gefallen, dass im Nahen Osten die Verschiedenheit begraben wird.“