DIE VERWUNDUNG IST EINE LIEBKOSUNG
Über Jahre hinweg gehörte er zu den engsten Weggefährten von Don Giussani und Julián Carrón. Doch plötzlich merkte er, dass er nicht mehr glaubte.Giorgio Vittadini spricht über seine Geschichte in der Bewegung, seine menschlichen Schwierigkeiten und Nöte.... und wie ihm wieder klar wurde, dass Christus schon gesiegt hat.
Was bedeutet es, dass die Wirklichkeit unsere Verbündete ist, auch wenn das Gegenteil von dem geschieht, was wir uns wünschen? Oft scheint sie uns wohlgesonnen zu sein, fasziniert uns und wir lassen uns auf sie ein. Aber wenn die Herausforderungen des Lebens größer werden, wenn das Leben in eine Richtung läuft, die wir nicht wollen, wie kann die Wirklichkeit dann unsere Verbündete sein?
Ich war dabei, als Don Giussani 1994 den Vortrag hielt, den wir gestern gesehen haben [vgl. „Christus anerkennen“, in: Eine Gegenwart im Blick. Exerzitien der Fraternität von Comunione e Liberazione, Rimini 2015, S. 63-88]. Und wie alle, die dabei waren, war ich tief betroffen. Dieser Moment war für mich eine entscheidende Kehrtwende. Denn er machte mir ganz deutlich, wie außergewöhnlich die Geschichte ist, die mich in den ersten 22 Jahren meines Lebens in der Bewegung ergriffen und bestimmt hatte. Ich kann mit Sicherheit sagen, dass die Bewegung und die Begegnung mit Don Giussani mich gerettet haben.
Ein Lied von Claudio Chieffo, „La ballata dell’uomo vecchio“, bringt gut zum Ausdruck, was mein Leben immer charakterisiert hat: ein unglaubliches Bedürfnis nach Freiheit. Ich habe mich oft als einen der „Gefangenen“ von Michelangelo empfunden. Diese Gruppe von Figuren scheint keine Mühe zu scheuen, um sich aus dem Stein, aus dem sie herausgemeißelt ist, zu befreien. Auch ich hatte den Eindruck, ich müsse mich aus einem Marmorblock befreien, der mich umschloss. Denn ich verspürte ein immenses und diffuses Bedürfnis nach etwas anderem. Gleichzeitig sehnte ich mich nach einer Beziehung, die frei von Macht war. Das ist meisterhaft dargestellt in dem Lied „Ho visto un re“ [„Ich habe einen König gesehen“] von Dario Fo und Enzo Jannacci. „Wir müssen immer fröhlich sein. Denn wenn wir weinen, geht es dem König schlecht, / geht es dem Reichen schlecht und dem Kardinal. / Sie werden traurig, wenn wir weinen.“ Don Giussani hat bei einem Treffen mit Studenten einmal darüber gesprochen, wie in seiner Biographie berichtet wird: „Die, die Macht haben, werden traurig, wenn sie dich weinen sehen. Dieses bissige Lied von Jannacci ist heute aktueller denn je. Weil jeder von uns kapitulieren kann angesichts des Verhaltens einer Gesellschaft, in der die Grenzen und die Unterdrückung immer offensichtlicher werden, die unser Menschsein zum Gefangenen machen und schließlich begraben.“
Nichts von all dem, was mir als Jugendlicher scheinbar Befriedigung verschafft hatte, schien mir mehr erstrebenswert: eine menschliche Liebe, die Aussicht auf Karriere, seinen Beitrag zu leisten zu einer demokratischen Gesellschaft ... Unbewusst empfand ich all das als Ausdünstungen einer Macht, die mich „klein halten“ wollte.
Die Begegnung mit der Bewegung und dann mit Don Giussani in meinem ersten Studienjahr hat mich bewahrt, auch wenn mir das zunächst nicht bewusst war, vor einem Leben als Rebell, in welcher Form auch immer. Dort spürte ich von Anfang an, dass es ein Leben gab, das meiner Sehnsucht entsprach, dass diese Sehnsucht respektiert und sogar erfüllt werden konnte.
In den 42 Jahren meines Lebens in der Bewegung durfte ich die gleiche Erfahrung machen wie die Apostel. Wie Don Giussani es geschildert hat, genauso intensiv, sowohl im Guten wie im Schlechten. Mit Don Giussani habe ich meine Sehnsucht und meine Traurigkeit, Studium und Arbeit, Freundschaft und Zuneigung, die dramatischen Ereignisse in unserem Land, Krankheiten, Todesfälle, das Leid um mich herum, aber auch mein Engagement in der Gesellschaft voll und ganz gelebt. Mit Don Giussani habe ich all das erlebt als ein einziges großes Ereignis der Suche nach dem Sinn des Lebens und des Entdeckens meiner Berufung. Es war wie ein wunderschöner Abenteuerfilm, bei dem Gott der Protagonist war, aber auch wir mit Ihm immer mehr zu Protagonisten wurden – genau wie es das Evangelium schildert.
Die nachfolge wieder aufnehmen.
Acht Jahre, von 1995 bis 2003, habe ich mit Don Giussani zusammengewohnt. Nach seinem Tod 2005 schlug mir Don Julian Carrón noch auf dem Rückweg vom Friedhof, wo wir Don Giussani bestattet hatten, vor, mit ihm zusammenzuziehen. Ich hatte damals den Eindruck, nun ginge es bergab mit meinem Leben, so als wäre ich ein alter Gelehrter, der nichts mehr zu lernen hätte. Aber es brauchte nicht viel und mir wurde klar, dass ich mit dieser Haltung auch das Erbe dessen über Bord warf, was ich mit Don Giussani gelebt hatte. Denn damit reduzierte ich meine Sehnsucht als Mensch.
Nicht dass ich dachte, mit Don Giussani sei alles besser gewesen. Nostalgie war nie mein Ding. Aber ich war wütend und traurig. Nicht diese Traurigkeit voller Erwartung, von der ich vorhin gesprochen habe, sondern die Traurigkeit eines Judas hinter dem Rücken Jesu, weil „Sein Reich nicht kam“. Ich hatte mich von der Größe Don Giussanis blenden lassen. Mir schien, dass ihm ungeheure Ungerechtigkeit widerfuhr, weil seine Größe in der Welt nicht anerkannt wurde. Dabei merkte ich gar nicht, dass ich dadurch die Gegenwart wie ein Besiegter lebte.
Bewusst wurde mir das in voller Klarheit in New York. Ich besuchte die Gemeinschaften von CL in den USA. An einem Tag lief ich durch die Bronx und dachte über die Probleme nach, die die Gemeinschaft in New York (wie alle Gemeinschaften …) hatte. Ich sagte mir: „Wie kommen wir dazu zu behaupten, wir hätten schon den Sieg davongetragen? Diese Stadt ist riesig, acht Millionen Menschen; wir sind gerade einmal 150 – und auch noch untereinander zerstritten.“ Da spürte ich plötzlich, dass ich keinen Glauben mehr hatte. Dass die Bewegung und die Memores Domini der Ort sind, wo Jesus gegenwärtig ist, stand für mich immer außer Frage. Dass aber Christus in diesem Moment durch das Charisma von Don Giussani für diese Stadt und die ganze Welt die Antwort auf ihre Sehnsucht nach Leben sein könnte, das glaubte ich nicht.
Ähnliche Erlebnisse zu dieser Zeit haben mir bewusst gemacht, wie zerbrechlich mein Glaube war. Ein Beispiel waren die Verhöre, denen die Justiz sehr gute Freunde von mir unterzog. Wie Carrón in seinem Brief an La Repubblica vom 1. Mai 2012 gesagt hat, haben wir auch Anlass für gewisse Angriffe gegeben. Aber es gab Fälle, wo sehr gute Freunde von mir ungerechterweise zu Grunde gerichtet wurden, obwohl später auch gerichtlich ihre Unschuld festgestellt wurde. Weil ich das alles sah, herrschten in mir zeitweise Wut über diese Ungerechtigkeit und der Wunsch nach Vergeltung vor. Aber eben nicht der Glaube.
Hinzu kam noch, wie man es oft erlebt, das größte Skandalon: das Leiden Unschuldiger. Wenn jemand starb, jemand litt, es menschliche Tragödien gab, kam ich mir immer vor wie Aljoscha in Die Brüder Karamasow: Warum lässt Christus das zu? Mit Bitterkeit musste ich im Rückblick auf diese Momente feststellen: Ich hatte den Glauben verloren. Ich glaubte nicht mehr an den Sieg, der sich im Augenblick zeigt. Von wo aus sollte ich neu anfangen?
Tatsächlich war mir mehrmals vor allem eines aufgefallen: das Glaubenszeugnis von Carrón. Er war froh. Wie oft habe ich sowohl in seinen privaten als auch in öffentlichen Äußerungen den Unterschied zu mir bemerkt. Zum Beispiel sagte er in dem zitierten Brief von 2012: „Das Ereignis Christi hat uns so machtvoll geprägt, dass wir nach jedem Fehler immer wieder von Neuem beginnen können, in noch tieferer Demut und mit einem größeren Bewusstsein unserer Schwäche. Wie dem Volk Israel kann uns alles genommen werden, wir können ins Exil geschickt werden, aber Christus, der uns an sich gezogen hat, bleibt für immer. Er wird durch unsere Niederlagen nicht besiegt.“ Das sagt in aller Öffentlichkeit der Chef einer Bewegung, die in allen Zeitungen zerrissen worden ist. Das war der Sieg Christi!
Wie oft habe ich im direkten Gespräch oder bei öffentlichen Auftritten folgende Antwort von Carrón gehört: „Wir haben doch schon gewonnen. Das zeigt unsere Erfahrung doch deutlich.“ Und auch die Art und Weise, wie er viele tragische Ereignisse beurteilt hat, nicht nur, indem er Trost spendete, sondern im klaren Bewusstsein der Auferstehung. So sagte er der Familie eines sehr guten Freundes bei der Beerdigung ihres Sohnes, der bei einem Unfall ums Leben gekommen war: „Christus hat ihn mitgerissen. Er wollte ihn bei sich haben und hat seine Bestimmung vollendet.“ Das war kein Versuch, das Geheimnis zu erklären, sondern sich gemeinsam den Karfreitag und die Auferstehung Christi bewusst zu machen. Ein andermal sagte er zu jemandem von den Memores Domini, der an Krebs starb: „Schade, dass ich nicht mit dir kommen kann. Grüß mir alle!“ Das stellt alles auf den Kopf: Das wahre Leben ist die Gemeinschaft der Heiligen.
Ich musste also wieder von vorne anfangen und jetzt der Präsenz in seinem Blick folgen. All die Jahre mit Don Giussani hätten nichts genützt, wenn ich nicht begonnen hätte, Carrón zu folgen, als wäre ich gerade erst dazugekommen. In meiner Überheblichkeit hatte ich dieses „jetzt“ für unwichtig erklärt. Im Übrigen waren da außer Carrón noch jede Menge andere Zeugen im Leben der Bewegung, angefangen von meinen nächsten Freunden. Sie haben mich wieder spüren lassen, wie unvergleichlich großartig die christliche Zuneigung und Freundschaft ist. Eine Freundschaft, die in der Gemeinschaft der Heiligen weiterbesteht, so dass auch jemand, der schon gestorben ist, einem weiter zur Seite steht. Stellvertretend für alle möchte ich nur Don Giorgio Pontiggia nennen, mit dem mich eine besondere Zuneigung verband, nachdem ein Schüler seiner Schule durch einen tragischen Unfall ums Leben gekommen war.
Den gleichen Sieg habe ich gespürt beim Tod meiner Mutter. Sie war von einer „unglaublichen Positivität“ gekennzeichnet, wozu ihr auch die Entdeckung des Charismas von Don Giussani verholfen hatte. Nicht einmal der aggressive Tumor, der sie in mehreren Wellen in den letzten acht Jahren ihres Lebens überfallen hat, konnte diese „merkwürdige“ Fruchtbarkeit auslöschen. Meine Mutter hat mir im Vertrauen oft gesagt, dass sie starke Schmerzen habe, aber dem Rat folgen wolle, dem Herrn ihr Leiden aufzuopfern für die Menschen, die ein gottgeweihtes Leben in der Welt führen. Sie wollte auch nicht sterben, ohne vorher dem Herrn für die 50 Jahre ihrer Ehe zu danken. Den Jahrestag haben wir dann in der gleichen Kirche gefeiert, in der sie 50 Jahre zuvor geheiratet hatte und wo vier Tage später ihr Begräbnis stattfinden sollte. „Am Tag meiner Hochzeit war ich sehr bewegt“, sagte sie uns, „nicht aus emotionalen Gründen, sondern weil ich die Ahnung hatte, dass aus diesem Sakrament eine große Geschichte hervorgehen würde. Und genau das ist geschehen: ein Leben erfüllt von der Gegenwart des Herrn. Ich möchte Ihm gemeinsam mit euch danken.“ Und obwohl sie müde und erschöpft war, lud sie uns alle zum Mittagessen ein, voller Freude.
Morgengrauen und Licht
In dem Video, was wir gesehen haben, sagt Don Giussani: „Wenn du deine Haltung ändern musst, dann ändere sie! Ich ändere meine jeden Morgen.“ Woher nimmt man die Kraft dazu?
Dass ich den Glauben wiedergefunden habe, hat mich auch viele andere Dinge entdecken lassen. Bei der Vorstellung des Religiösen Sinns von Don Giussani am 26. Januar 2011 machte Carrón die Traurigkeit, von der ich gesprochen habe, zum Thema. Aber er interpretierte sie nicht als Defekt, den es zu korrigieren gilt, sondern als Ergebnis des Missverhältnisses, das unserer Natur eingeschrieben ist, als einzige Chance, dass die Gaben Gottes ins Spiel kommen können. „Es gibt einen Spalt in jedem Ding, und durch den dringt das Licht ein“, sagt ein Lied von Leonard Cohen. Und die Japaner haben eine traditionelle Kunstform, das „Kintsugi“, bei der zerbrochene Objekte mit wertvollen Materialien wie Gold wieder gekittet werden. Dahinter steht der Gedanke, dass aus Unvollkommenem eine höhere Form von Vollkommenheit entstehen kann.
Die Frage ist, ob wir jemanden haben, der dieses Drama erkennt und uns begleitet, der diese Last mit uns trägt und uns Positivität und Gewissheit schenkt.
Bis dahin hatte ich in gewisser Weise immer gegen meine Bedürftigkeit als Mensch gekämpft und geglaubt, wenn man reifer würde, wäre man weniger verwundbar durch die Wirklichkeit. Dann aber habe ich akzeptiert, dass ich zerbrechlich, verwirrt, betroffen war durch die Krankheit eines lieben Menschen oder durch ein Projekt, was sich nicht verwirklichte, eine Sehnsucht, die sich nicht erfüllte, die Angst um einen Freund oder um die Welt. Es ist unmenschlich, wenn wir die dunklen Löcher in unserer Erfahrung ausblenden. Und wir betrügen uns selbst, wenn wir versuchen, die eigentlichen Fragen des Menschseins durch etwas zu beantworten, was sie nicht stillen kann.
Einer jungen Memores, die meinte, in ihrem Leben fehle etwas, hat Carrón geantwortet: „Um so besser, dass dir etwas fehlt!“ Nur wenn wir diesen Mangel, den wir spüren, nicht verdrängen, können wir Seine Gegenwart entdecken. Die Frage ist, ob wir jemanden haben, der dieses Drama erkennt und uns begleitet, der diese Last mit uns trägt und uns Positivität und Gewissheit schenkt. Bei der Audienz, die Papst Franziskus der Bewegung am 7. März 2015 gewährt hat, habe ich das gespürt. Er hat mir geholfen, die wahre Dimension meines Menschseins zu erkennen.
Gleiches gilt für meine Begegnung mit einem außergewöhnlichen Menschen, [dem italienischen Sänger und Kabarettisten] Enzo Jannacci. Seine Freundschaft wird immer eines der größten Geschenke meines Lebens bleiben. Im Februar 2009, als der Fall [der Komapatientin] Eluana Englaro die Medien beschäftigte, sprach Enzo in einem Interview über die „Zärtlichkeit Jesu“. Kurz darauf wurde er zum Meeting nach Rimini eingeladen. Dort entstand eine Beziehung mit einigen von uns, die bis zu seinem Tod anhielt. Für viele in der Bewegung war Jannacci schon vorher wichtig gewesen wegen der Art, wie er den verwundeten, ausgestoßenen Menschen in seinem strukturellen Missverhältnis sah. Er hatte einen so tiefen Blick auf den wahren Menschen, dass dieser ihm manchmal sogar zum Helden wurde.
Die Freundschaft mit Enzo hat ihn und uns zutiefst verändert. In den Jahren seiner Krankheit, die nur ein paar Monate nach unserer Begegnung entdeckt wurde, wurde er paradoxerweise immer fröhlicher. Ob er durch Mailand spazierte, die emporwachsenden Wolkenkratzer betrachtete, Fußball schaute, die Füße ins Meer hängen ließ … Enzo war ein „ganzer“ Mensch, der alles mit einzigartiger Intensität lebte. Bei einem Treffen mit Jugendlichen im Lernzentrum „Portofranco“ am 2. Dezember 2011 antwortete er auf die Frage, was er diesen Jugendlichen wünsche: „Ich wünsche euch die ganze Freude, die Jesus von Nazareth uns versprochen hat. Durch eine Liebkosung und eine Wunde. […] Ich sage euch das, damit ihr nie vergesst, dass Er euch all diese Dinge schickt.“
Das Hundertfache für einen armen Christen
Im letzten Teil des Videos weist Don Giussani darauf hin, dass man diese Beziehung in allem leben kann: bei der Arbeit, in den Beziehungen, bei ehrenamtlichen Tätigkeiten, im Gehorsam wie in der Nächstenliebe. Wie geht das?
Dieser existenzielle Weg hat das zutiefst beeinflusst, was mich als erwachsenen Menschen ausmacht, nämlich meine Arbeit. Sie ist nicht mehr nur eine Pflicht, sondern ein Mittel, um mich selbst zum Ausdruck zu bringen und zu wachsen. Meine Laufbahn an der Universität begann 1980. Und ich habe einen sehr langen Weg zurückgelegt, der mich durch manche Schwierigkeiten hindurch schließlich zum Ordinarius für Statistik hat werden lassen. Dabei habe ich an mir selbst alle Haltungen erlebt, die man der Arbeit gegenüber einnehmen kann: die Angst, es nicht zu schaffen, das Verkürzen der Arbeit auf die Karriere, alles zu vergessen, inklusive der eigenen Berufung, weil man sich von der Fülle der Aufgaben überwältigen lässt. Zum Beispiel habe ich einige Male bei den Exerzitien der Memores Domini, wenn Don Giussani sprach, nur an die Theoreme gedacht, die ich zu beweisen hatte. Zunächst mochte ich die Statistik gar nicht. Ich wäre viel lieber Historiker geworden, bin dann aber quasi durch Zufall bei der Statistik gelandet. Ich erinnere mich noch an die endlosen und mühsamen Nachmittage in den ersten Jahren, die ich im Institut für Politikwissenschaften vor einem Buch voller Formeln verbrachte.
Heute ist die Verantwortung eines Lehrstuhlinhabers viel größer als früher und der Wettvbewerb ist überall härter geworden. Die christliche Berufung hat mich jedoch einiges gelehrt, vor allem, die Statistik zu lieben. Was mich fasziniert hat, war die Möglichkeit, eine Struktur in der Wirklichkeit zu entdecken. Denn auch eine Formel beschreibt etwas, das tatsächlich existiert und das man nicht selber schafft. Es ist etwas Faszinierendes, einen Vorgang im Universum zu rekonstruieren, selbst wenn er nur ein kleines Detail ist. Das bedeutet, dass es in meiner Arbeit einen roten Faden gibt, bei allem, was scheinbar keinen Zusammenhang hat. Mit einem Wort: Ich habe entdeckt, dass die Arbeit mit all ihren Aspekten eine Weise ist, in das Geheimnis der Wirklichkeit einzudringen.
Wenn man den Fehler als einen Aspekt der Wirklichkeit annimmt, als eine Einladung des Geheimnisses, um voranzukommen, dann ist ein Fehler, ein Irrtum, eine Grenze etwas Nützliches
Der zweite Faktor, der mit der Suche nach der Wahrheit zu tun hat, ist der Gedanke des Weges: Man ist unterwegs, um sich zu verbessern, ohne davor Angst zu haben, etwas nicht zu wissen. Denn das Leben ist ungewiss. Es liegt also in der Logik der Dinge, dass man das Problem vielleicht nur zu 20, 30 oder 40 Prozent lösen kann. Aber allmählich wird man besser.
Für mich ist das Kriterium, mit dem man sein Leben im Beruf angehen sollte, wie ein Navigationssystem. Wenn man sich verfährt, ist es „der Stimme“ egal, dass man falsch gefahren ist. Sie macht einfach an dem Punkt weiter, an dem man sich gerade befindet. „Die Route wird neu berechnet.“ Das Navigationsgerät geht also von meinem Fehler aus und berechnet den Weg neu. Das Berufsleben ist ähnlich. Man macht einen Fehler, und einen Augenblick lang denkt man: „Ich habe einen Fehler gemacht, ich habe einen Fehler gemacht, ich habe einen Fehler gemacht.“ Doch nach kurzer Zeit sollte man sich sagen: „Ich habe einen Fehler gemacht; ich berechne die Route neu.“ Anfangs störten mich meine Fehler sehr und ich konnte es nicht ertragen, korrigiert zu werden. Wenn einer meiner Artikel nicht angenommen wurde, dachte ich: „Die Leute sind gekauft“, oder: „Der versteht überhaupt nichts“. Ich wehrte mich gegen meine Fehler. Jetzt habe ich verstanden, dass Fehler dazu da sind, dass „die Route neu berechnet wird“. Man macht Fehler. Aber wenn man klug ist, wenn man menschlich ist, wenn man den Fehler als einen Aspekt der Wirklichkeit annimmt, als eine Einladung des Geheimnisses, um voranzukommen, dann ist ein Fehler, ein Irrtum, eine Grenze etwas Nützliches. Man kommt nicht nur durch seine Genialität voran, sondern auch, indem man seine Grenzen akzeptiert und sich von ihnen korrigieren lässt.
Das dritte Charakteristikum ist vergleichbar mit dem, was eine Mutter jeden Tag tut: Indem sie sich um ihre Kinder kümmert oder das Geschirr spült, unterwirft sie sich einer Form, die sie sich nicht selber ausgesucht hat. Auch ein Wissenschaftler muss sich einer Sache beugen, die nicht seine ist, um etwas Großes und Schönes entdecken zu können. Das ist so, wie wenn man seinem Kind „den Hintern abputzt“. Das ist in der wissenschaftlichen Forschung ganz wichtig. Denn die Forschung besteht zu 10 bis 15 Prozent aus etwas Neuem, das man erfindet. Aber der ganze Rest besteht darin, dass man sich der Wirklichkeit unterwirft, die ihrer Form und Substanz nach niemals so ist, wie wir sie uns wünschen. Für einen Chaoten wie mich war es enorm erzieherisch, einen Artikel mehrmals umschreiben zu müssen, die Beweise wiederholen zu müssen, es einfacher zu machen ...
Daraus entsteht das Werk. Ich habe schon erwähnt, dass meine Geschichte gekennzeichnet ist von großem Einsatz für soziale Werke. Schon von meinen Studienzeiten an habe ich Werke mitgetragen, die auf die sozialen Bedürfnisse von Menschen Antwort geben sollten. In den letzten Jahren hat sich dieses Engagement nicht verändert, die äußeren Bedingungen jedoch schon. Vor Jahren gab es eine Reihe von Leuten aus der Bewegung, die große Verantwortung hatten, auch in der Politik. Heute ist das nicht mehr so. Außerdem stehen wir mitten in einer Wirtschaftskrise, die es vielen Werken sehr schwer macht. Teilweise müssen auch sehr wertvolle Projekte zurückgefahren werden, weil man keine Mittel mehr dafür hat. Was für einen Sinn hat es, sich unter solchen Bedingungen beim Aufbau von Werken zu engagieren? Was können wir tun?
Es gibt bei Guareschi eine Episode, wo Christus vom Kreuz herab mit Don Camillo spricht und auf diese Frage zu antworten scheint: „Was macht der Bauer, wenn der Fluss über die Ufer tritt und die Felder überschwemmt? Er rettet das Saatgut. Wenn der Fluss dann wieder in sein Bett zurückgekehrt ist, die Erde wieder herauskommt und die Sonne sie trocknet, dann kann der Bauer, wenn er die Samen gerettet hat, sie wieder ausbringen auf der Erde, die dann noch fruchtbarer geworden ist durch den Schlamm des Flusses. Und der Same wird Frucht tragen. Die dicken goldenen Ähren werden den Menschen Brot, Leben und Hoffnung geben. Man muss den Samen retten: den Glauben.“
Bedeutsam in dieser Hinsicht war für mich ein Flugblatt von CL, das die Überschrift trug: „Die Krise als Herausforderung zu einer Veränderung“. Darin hieß es, dasjenige, was die Kraft zur Veränderung habe, sei nicht etwas Programmierbares, sondern etwas Unvorhersehbares, das einfach geschieht. Der „unvorhersehbare Augenblick“, in dem ein Mensch, ausgehend von der unendlichen Sehnsucht seines Herzens, der Gewissheit und affektiven Erfüllung, die ihm der Glaube schenkt, jedwedes Problem angeht und immer wieder von Neuem beginnt aufzubauen, sich an die Arbeit macht und neue Wege sucht. Meiner Ansicht nach ist das der wichtigste Beitrag, den wir in den letzten Jahren (auch in der Öffentlichkeit) geleistet haben, nicht nur in Italien, sondern in der ganzen Welt. Das zeigt zum Beispiel auch das Video zum 60-jährigen Bestehen von CL und das Meeting von Rimini. Auch ich versuche mit der Stiftung für Subsidiarität und dem Online-Portal ilsussidiario.net meinen kleinen Beitrag zu leisten.
Und nun? Ich bin nicht zufrieden, ich bin ein Mensch auf dem Weg, voller Widersprüche, Fehler, Hemmungen. Aber es gibt etwas, das ich ganz deutlich spüre und das mit dem Grund für all das zu tun hat, was ich gesagt habe: meine Berufung zur Jungfräulichkeit. Don Giussani pflegte uns zu sagen, dass sich für die Mönche die Tür zur Welt automatisch schließt, während wir sie uns selber zumachen müssten. Das bedeutet, in der Welt zu leben, aber indem wir auf jene Gegenwart schauen, von der wir gesprochen haben und die unser Bestand ist. Das hat heutzutage mit dem Thema der Stille zu tun, dieser alles durchziehenden Dimension, die zu leben wir als Memores Domini gerufen sind. Dabei soll uns die eine Stunde Schweigen am Tag und der halbe Tag Stille in der Woche helfen. Jahrelang habe ich die Stille schlecht gelebt. Ich hielt sie nicht aus, sie kam mir wie Zeitverschwendung und Leere vor.
Eines Tages habe ich zugelassen, dass das Dunkel, das Gefühl der Leere in mir die Überhand gewann. Ich habe es nicht gestoppt. Ich wollte sehen, was auf dem Grund dieses Dunkels war. Da habe ich gespürt, dass diese Stille, wie es in einem neapolitanischen Lied heißt, eine „singende Stille“ ist. Die Stille ist bewohnt. Wenn die Kraft deines Lebens etwas ist, was nicht du hervorbringst, dann kannst du im Schweigen, wenn du still bist und nichts tust, diesen Sänger entdecken, der in der Wirklichkeit verborgen ist. Ich bin alleine in meinem Zimmer, keiner ist da. Aber heute will ich diese Leere nicht mehr füllen. Heute will ich es machen wie Adriana Mascagni in dem Lied „Il mio volto“ [Mein Gesicht]: Ich möchte entdecken, was auf dem Grund des Dunkels ist. („Ich schaue in mein Innerstes und sehe das Dunkel / ohne Ende.“)
Ich habe begonnen zu spüren, dass eine Gegenwart da ist und darauf wartet, dass ich mich freimache von den Dingen, mit denen ich die Leere zu füllen versuchte, dass ich auf den Grund vordringe. Sie will mit dem Abgrund meines Herzens in Dialog treten. Ich habe nicht aufgehört, aktiv zu leben, aber ich brauche diese Stille, ich brauche diesen Dialog. Ich will nicht mehr allein sein mit meinen Gedanken, sondern mit einem Du sprechen, um mich selbst zu finden. Dieses Du ist nicht das Resultat der anderen Du, sondern Gott, der auf mich wartet.
„Lebe alles, aber auf der Suche nach mir!“ Das Du, das ich in dieser passiven Haltung entdecke, ist der Gipfel meines Lebens, hier und jetzt. Denn auf eine Gegenwart zu schauen, ist eine passive Haltung. Sich dem strukturellen Missverhältnis zu unterwerfen, ist eine passive Haltung. Das Schöne im Werk eines anderen zu sehen, ist eine passive Haltung. Sogar zu arbeiten in dieser Haltung, ist etwas Passives. Aber es ist gleichzeitig höchste Aktivität. Denn dadurch tritt dieses „jetzt“ immer mächtiger zu Tage, das auch einen armen Christenmenschen wie mich Tag für Tag begleitet.