CL IN TAIWAN
Fang-Cong hat die Auferstehung entdeckt, Bo-Yue die Vergebung. Dann sind da noch Helga, Ning, Walker … Eine Reise nach TAIWAN, in „den Kontinent, der Christus noch nicht kennt“. Wo aber das Gleiche geschieht wie vor 2.000 Jahren.Wie in der Apostelgeschichte. Er kam eines Nachmittags, ein bisschen spät. Das Hoftor war zu. Es liegt hinter den Ständen, die über den Markt hinauswuchern. Aber das Schild unter dem Kreuz hatte ihn angesprochen: „Saal des Herrn der Himmel“. (Das ist ein Ausdruck, den Matteo Ricci vor einigen Jahrhunderten für die Kirche geprägt hat.) Fang-Cong wurde als Kind getauft. Wie es dazu kam, weiß keiner mehr. Und er erinnerte sich überhaupt nicht mehr an Jesus. Jetzt aber brannte ihm eine Frage auf dem Herzen: Vor ein paar Tagen war sein Bruder gestorben und keiner konnte ihm sagen, was aus ihm würde. War es wirklich sein Schicksal, sich im Nichts aufzulösen? „Er läutete, kam herein und wir begannen zu reden.“ Eine halbe Stunde, nicht mehr, sagt Pater Emanuele Angiola. „Es war das erste Mal, dass er jemanden über Auferstehung und ewiges Leben sprechen hörte.“ Seit diesem Abend ist er nicht mehr weggegangen. „Jeden Tag kommt er und wir wechseln ein paar Worte miteinander.“
Jetzt sitzt er an einem großen Tisch im Pfarrsaal der Pfarrei Franz Xaver. Er trägt ein schwarz-weiß kariertes Hemd. Um ihn herum ungefähr 20 Menschen. Sein Finger fährt über die Schriftzeichen in den Fotokopien. Sie lesen das Kapitel „Begegnung mit Christus“ aus dem Buch Spuren christlicher Erfahrung. „Hier fühle ich mich angenommen“, sagt Fang. Wie Helga. Nach jahrelanger Suche in den östlichen Religionen („Ich wollte sie nicht lassen, weil sie doch die meinen sind, aber sie haben mir nicht genügt.“) ist sie ein paar Leuten begegnet ... und sitzt jetzt auch an diesem Tisch. Oder Giacomo: Gestern hat er uns erzählt, dass er in der Oberstufe zum ersten Mal einem Christen begegnet ist. „Durch ihn habe ich die Bibel entdeckt, und das hat mir einen Weg eröffnet, um eine Antwort auf meine Frage nach dem Sinn zu suchen.“ Bo-Yue hat Geschichte studiert und ist dabei auf das Christentum gestoßen. „Das erste, um was er gebeten hat, war beichten zu dürfen, nachdem er gehört hatte, dass es Vergebung gibt.“
Willkommen in der Apostelgeschichte, Ausgabe 2015. Nicht in Jerusalem oder Korinth, sondern in Taiwan, der großen Insel vor China mit 23,4 Millionen Einwohnern. Mehr als sieben Millionen von ihnen leben in der Hauptstadt Taipeh. Blickt man von der Spitze des Wolkenkratzers „Taipeh101“ mit seinen 449 Metern Höhe hinunter auf die Stadt, dann liegt vor einem ein steinernes Meer aus Häusern. Ist man wieder unten, taucht man ein in einen unendlichen Strom von Leben und Verkehr, zwischen winzigen Läden und kreuz und quer angebrachten Leuchtreklamen. Bei jedem Schritt wird man daran erinnert, dass man in einer ganz anderen Welt ist, mit einer völlig fremden Sprache und einem ganz anderen Glauben. Jesus ist hier praktisch unbekannt. Zwar gibt es in Taiwan eine knappe Million Christen, von denen ein Drittel katholisch ist (also 1,3 Prozent der Bevölkerung). Doch wenn man Ihn hier am Werk sieht, dann kommt man sich vor wie in Palästina vor 2.000 Jahren.
Eine Million Stufen. Die Bewegung Comunione e Liberazione hat schon eine gewisse Geschichte in diesem Land. Ende der 90-er Jahre kamen ein oder zwei Familien aus beruflichen Gründen hierher. Später auch Priester der Bruderschaft vom heiligen Karl Borromäus. Sie wollten „in diesem Kontinent, der Christus noch nicht kennt“, präsent sein. So erklärt es jedenfalls Pater Paolo Costa, der seit 2002 in Taipeh ist. „Das war für die ganze Bruderschaft auch eine Möglichkeit, ihren Horizont zu erweitern.“ Anfangs hatten sie große Probleme mit der Sprache. Dann wurde ihnen die erste Pfarrei anvertraut (Sankt Franz Xaver in Tai Shan). 2008 kam eine zweite hinzu, Sankt Paul. Heute leben drei Priester der Bruderschaft hier in Taipeh: neben Pater Paolo und Pater Emanuele noch Pater Donato Contuzzi. Die ersten beiden sind in den Pfarreien tätig, Pater Donato ist für die Bewegung verantwortlich. Alle drei lehren an der Fu Jen-Universität.
Das ist die Katholische Universität von Taipeh mit 26.000 Studenten. Auf dem Vorplatz steht zwischen Plakaten mit Einladungen zu einem Fest und Gruppen von Studenten ein steinernes Kreuz. Darin vier Worte eingemeißelt: „Wahrheit, Güte, Schönheit und Heiligkeit“, übersetzt Pater Paolo. „Genau das ist die Herausforderung: Die Leute dahin zu bringen, dass sie diese Dinge entdecken.“ Pater Paolo unterrichtet Italienisch. „Das studieren nur wenige und oft deshalb, weil ihre Noten für ein anderes Fach nicht gut genug sind.“ Also mehr oder weniger zufällig. Aber viele sind auf diese Weise Christus begegnet.
Heute sitzen ungefähr ein Dutzend Studenten in dem Unterrichtsraum. Einer kommt gerade noch rechtzeitig, in der Hand ein Sandwich. Alles sehr lässig. Konversation auf Italienisch. Zwei Studentinnen halten ein Referat über Vulkane. Dann werden Vokabeln und Grammatik abgefragt. „Ab und an erwähne ich die Bibel, zeige Gemälde, oder wir hören Musik. Wir in Europa sind es ja gewohnt, einen Caravaggio oder Michelangelo zu sehen, aber hier kennen sie das nicht.“ Als Pater Paolo einmal ein Gedicht von Montale vorlas: „Ich bin, dir den Arm reichend, / mindestens eine Million Stufen hinabgestiegen“, fing eine Studentin an zu weinen. „Da war ich auch gerührt“, meint er. Man merkt es sogar jetzt noch, wenn er davon erzählt.
In dieser Universität ist ein großer Teil des Lebens der hiesigen Bewegung entstanden. Manche Studenten waren neugierig auf diese komischen shén fu (Priester). Man ging zusammen zum Abendessen, traf sich zu einer Veranstaltung. Vor fünf Jahren kam die Wende. Eine kleine Gruppe fuhr mit nach Italien und zum Meeting. „Viele von denen sind dort zum Glauben gekommen“, erzählt Pater Donato. „Mehrere haben sich taufen lassen, einige gehören jetzt der Fraternität an.“ Wie Emilia. Bei der Reise war sie gar nicht dabei, aber in gewisser Weise verdankt sie ihr alles. Auch sie hat Italienisch an der Fu Jen studiert. „Auf Facebook habe ich die Fotos von ein paar Freunden auf dieser Italienreise gesehen. Ihre Gesichter strahlten. Da wollte ich verstehen, warum. Und bin losgezogen, es herauszufinden.“ Sie lernte zunächst Pater Lele Silanos kennen, später die anderen. Und ging den Fragen nach, die in ihr aufkamen, Schritt für Schritt: „Wer sind die? Warum sind sie hier? Was steckt dahinter?“ So kam sie zu Christus. Mit strahlendem Gesicht sitzt sie vor ihrer Geburtstagstorte und sagt: „Bei uns sagt man laut einen Wunsch, wenn man die Kerzen ausbläst. Ich wünsche mir, dass alle meine Freunde den Weg zu Gott finden.“
So etwas wirkt ansteckend. Heute wie vor 2.000 Jahren. Auch auf die Studenten hier. Zwischen den Vorlesungen treffen sie sich in einem Raum der Universität zum Seminar der Gemeinschaft. Im Augenblick dreht sich alles um die „Italienische Woche“, die in ein paar Tagen beginnt. Sie überlegen, wie sie neben Wein, Kunst und den schönen Städten Italiens auch die Bücher von Don Giussani bekannt machen können. Diejenigen, die schon im Berufsleben stehen, treffen sich an einem Abend der Woche in der staatlichen Universität. Im Büro von Ning, die evangelisch ist. Sie hat CL in Dublin kennengelernt. Am 7. März war sie bei der Papstaudienz dabei. Jetzt ist sie hier und schneidet die Pizza für ihre Freunde. Manche kommen schon seit längerer Zeit, wie Violetta und Maria Goretti. (Viele geben sich westliche Namen, sobald sie mit Italienisch zu tun haben. „Aber ich habe den Namen einer Heiligen gewählt.“) Andere kommen zum ersten Mal, wie Cinzia. Sie arbeitet in einer Bank und ist hier, weil „ich Giacomo kennengelernt habe, als er zu uns kam, um sich finanziell beraten zu lassen. Er hat mich sehr beeindruckt. Wir sind Freunde geworden und er hat mir hiervon erzählt ...“ Einige nehmen sogar per Skype teil. Ilaria lebt in Taichung, 180 Kilometer von Taipeh entfernt, mit ihrem Mann und drei kleinen Kindern. Sie ist ein Wirbelwind an Beziehungen, Freundschaften und Begegnungen. Daher gibt es nun auch in Taichung Leute, die sich jede Woche treffen, um den Religiösen Sinn zu lesen.
Zu Beginn des Seminars singen sie Yin Xing De Chi Bang, „unsichtbare Flügel“. Das ist ein Volkslied. („Auch in den Momenten der Einsamkeit und Traurigkeit weiß ich, dass ich unsichtbare Flügel habe, die mir Hoffnung geben ...“) „Für uns sind diese Flügel die Gemeinschaft“, meint Pater Donato. Dann sprechen sie über den Kapaneus in Dantes Göttlicher Komödie, über Anarchie und Sehnsucht. Und man sieht deutlich die Freundschaft unter ihnen.
Rosenkranz auf dem Balkon. Genauso wie am nächsten Tag bei einem anderen Seminar. Schon wenn man Alecrim auf Chinesisch hört, können einem leicht die Tränen kommen. Dann sprechen die Teilnehmer über Erfahrung, Urteil, Vernunft. Und was einem hilft, „nicht dem Bienenschwarm zu folgen“ – das ist die chinesische Version des Herdentriebs. A-Long meint, „dass es in unserem Herzen etwas Naturgegebenes gibt, das die Schönheit erkennt: Keiner sagt einem, dass eine Blume schön ist. Das merkt man selbst.“ Man sieht hier, wie Don Giussani – und mit ihm das Christentum – Fuß fasst in dieser so ganz anderen Welt. Manchmal geschieht das auch durch Zitate aus dem Don Giovanni. Oder durch einen Applaus, wenn A-Mei kundtut, dass „es in meinem Leben eine große Veränderung gibt: Wenn ich hierher komme, sehe ich eine wahre liberazione [Befreiung] und eine wahre comunione [Gemeinschaft].“ „Lele sagte immer, mit der Zeit würden wir erkennen, wie schön die Freundschaft ist“, erinnert sich Emilia. „Nach und nach merke ich, dass das stimmt.“
„Es ist ein einfaches Leben hier, aber ein erfülltes“, hatte Donato am ersten Abend gesagt. Und er hatte Recht. Die drei Priester zeigen mir ihre Pfarreien („Montag Abend gibt es eine Bibelgruppe, Mittwoch ist die Legio Mariae da …“), berichten von „Neuzugängen“ („Letztes Jahr gab es ungefähr 20 Taufen, fast alles Erwachsene.“) und gehen mit mir zum Gebet in die Familien. Heute Abend ist es bei A-Long. Seine Wohnung liegt im vierten Stock. Wir gehen zu Fuß hinauf und lassen die Schuhe vor der Haustüre. Zwei Zimmer, Küche, Ventilatoren an der Decke. Eine ganze Wand nimmt ein Aquarium mit Fischen ein, die er verkauft, um seine Einkünfte aufzubessern. Ungefähr 20 Menschen, vielleicht auch mehr, beten hier auf dem Balkon den Rosenkranz. Anschließend wird gegessen und getrunken. Man tauscht sich über sein Leben aus. Ich lerne Wen-Meng kennen, der früher DJ war und jetzt Taxi fährt. Oder Kun-Li, einen Lastwagenfahrer, der an dem Abend, als Donato in Taiwan ankam („ohne ein einziges Wort Chinesisch zu sprechen und ich war ganz alleine, weil die anderen Priester außer Haus waren“), vorbeikam und ihn zum Abendessen einlud. Alles nur mit Gesten. Da fühlt man sich auch 10.000 Kilometer von seiner Heimat entfernt gleich zu Hause.
Der richtige Wurf. Der Gegensatz zu dem, was ich am Tag zuvor erlebt hatte, wurde deutlich spürbar, als sie mit mir zum Longshan-Tempel gingen. Da war ich doch einigermaßen verwirrt. Die Leute kommen einzeln, jeder mit einer Tüte voller Früchte, Brot, Kekse. Diese Opfergaben legen sie auf einen großen Tresen vor der Hauptkapelle, wo Guan-yin verehrt wird, die buddhistische Göttin der Barmherzigkeit. Am Eingang gibt es eine Tafel mit Anweisungen für das Gebet. Die befolgen alle: Vor dem Altar kniend, werfen sie zwei kleine rote halbmondförmige Hölzer vor sich hin und warten. Sind die in der richtigen Position gefallen, heißt das, dass die Gottheit bereit ist, einen anzuhören. Wenn nicht, darf man es erneut versuchen. Wieder und wieder. Bis auch der zweite Wurf gelingt. Dann weiß man, dass die Gottheit auf seine Frage antworten wird. Man steht auf, geht zu einem Korb mit langen dünnen Holzstäbchen, nimmt irgendeines heraus und liest die Zahl, die darauf geschrieben steht. Dann geht man zu der hinteren Wand, vor der viele nummerierte Schachteln stehen. Die mit der richtigen Zahl enthält einen Zettel mit der Antwort, auf die man gewartet hat. Drumherum ist alles voller Weihrauch und Kerzen, Statuen und kleinen Tempelchen, jeder einer buddhistischen oder Tao-Gottheit gewidmet. Eine hilft bei Problemen in der Arbeit, eine andere beim Studium, die nächste beschützt die Familie ... Für mich alles sehr fremd. Eine ganz andere Welt. Aber das gleiche Herz, die gleiche Hoffnung, dass das Geheimnis einem zum Freund wird.
Und das gleiche große Staunen, wenn das wirklich geschieht und man entdeckt, dass das Leben reich und erfüllt sein und nach anderen Gesetzen ablaufen kann. Nächstenliebe ist hier nicht unbekannt. Was zählt, ist die Familie, der Clan – in einer vom Konfuzianismus geprägten Kultur ist das fundmental. Unter Verwandten hilft man sich, und das wird manchmal auch auf den Nachbarn ausgeweitet, wenn dieser sich in Not befindet. Aber dass die Nächstenliebe zum „Gesetz des Lebens“ wird, wie Don Giussani es formuliert, ist etwas völlig Neues. „Wir haben hier von Anfang an Caritativa gemacht“, erklärt Pater Donato. „Zuerst halfen wir in der Pfarrei Kindern bei den Hausaufgaben.“ Das hatte es bisher nie gegeben. Wer kann, schickt nämlich seine Kinder in eine bezahlte Hausaufgabenbetreuung. Denn wenn diese den Test für die Oberschule nicht bestehen, sind sie schon von klein auf abgehängt. „Wenn wir mit den Kindern zusammen sind, dann erinnert mich das daran, wie ich als Kind war“, meint Renato. „Ich habe ein bisschen die kindliche Unschuld zurückgewonnen, die man ja im Laufe der Zeit verliert. Dabei ist sie jetzt noch wichtiger.“
Caritativa ist Samstagnachmittag in einem Altenheim. Von der Kirche gehen wir durch dichten Verkehr und Chaos eine Viertelstunde zu Fuß. Bei einem kleinen Tao-Tempelchen, das mitten auf dem Bürgersteig steht, biegen wir in eine kleine, ruhigere Gasse ein. Auch hier Läden und Schaufenster. Was wie ein Geschäft für Haushaltswaren aussieht, ist das Altersheim. Ungefähr 30 alte Menschen wohnen hier in zwei Etagen. Viele sitzen im Rollstuhl, andere kommen nicht mehr aus dem Bett. In der Eingangshalle warten schon zehn oder zwölf Leute auf Donato und seine Jugendlichen. Es wird ein fröhlicher Nachmittag mit Gitarrenspiel, Liedern, Geselligkeit. Ilaria, die jedes Wochenende aus Taichung kommt, tanzt mit ihrer kleinen Teresa auf dem Arm. Einer der Gäste lacht, auch wenn er keine Zähne mehr hat. „Was ich davon mitnehme? Vor ein paar Tagen habe ich einen Vater beobachtet, der seinem Sohn ein Eis kaufte“, erzählt Walker. „Der Junge war schon groß, aber offensichtlich hatte er Probleme. Der Vater half ihm beim Essen. Man brauchte ihm nur zuzuschauen, um zu begreifen, dass er ihn ohne Einschränkungen liebte. Bedingungslos. Für mich war das sehr bewegend. So möchte ich auch lieben. Dazu hilft mir die Caritativa.“
Fragen und Spaghetti Carbonara. Am letzten Abend gibt es ein Abendessen bei den Priestern. Mein Herz ist voll und mein Notizbuch quillt schon über von Geschichten, die man gar nicht alle erzählen kann, nicht einmal in einer Online-Ausgabe. Um den Tisch herum sitzt die Fraternität. Auch Ning ist gekommen, zum ersten Mal: „Ich wollte wissen, was das ist.“ Nun, ganz einfach: Das sind A-Mei, Julie, Kun-Li und seine Frau Mu-Dan, Vincenzo und seine Fragen zum Thema Arbeit, die Spaghetti Carbonara von Donato, die launigen Bemerkungen von Pater Emanuele und die Ereignisse, die Ilaria mit großem Vertrauen erzählt ... Die Fraternität ist ein Leben im Leben. Oder wie Emilia sagt: „Sie ist das Christentum.“