Jahr der Barmherzigkeit

Am 8. Dezember hat das Heilige Jahr der Barmherzigkeit begonnen.
Davide Perillo

Nach den Terroranschlägen der letzten Zeit ist es „fast noch dringlicher“. Wir wollen dem Begriff der Barmherzigkeit nachgehen, die rein menschlich gesehen „unmöglich“ ist. Aber vielleicht doch das Einzige, was stärker ist als das Chaos.

Jetzt ist es „fast noch dringlicher als zuvor“, antwortete der Präsident des Rates für die Neuevangelisierung, Rino Fisichella, auf die Frage, ob man nach dem Blutbad von Paris das Heilige Jahr der Barmherzigkeit nicht vielleicht absagen sollte. Es könnte ja gefährlich werden – für Rom und für die Pilger. Mancher hat Angst, so viele Menschen in einer Stadt zu versammeln, die auch der „Islamische Staat“ im Visier hat. Aber nein. Gerade wegen der Anschläge in Paris – und in Beirut und in Mali – ist dieses Heilige Jahr „umso dringlicher“, meint der Erzbischof, der für die Organisation dieses Ereignisses zuständig ist.

Das Heilige Jahr begann am 8. Dezember mit der Öffnung der Heiligen Pforte im Petersdom. Und vorher schon – etwas ungewohnt – mit der Öffnung einer Heiligen Pforte in der Kathedrale von Bangui in der Zentralafrikanischen Republik durch Papst Franziskus am 29. November, während seiner Reise durch den Schwarzen Kontinent. Enden wird es am 20. November 2016, dem Christkönigssonntag. Außerdem gibt es diesmal Heilige Pforten in allen Diözesen der Welt, damit die Gläubigen das Heilige Jahr auch vor Ort begehen können. Sogar im Gefängnis, nachdem Papst Franziskus auch die Türen von Zellen zu Heiligen Pforten erklärt hat. Natürlich wird auch dieses Mal besonders zu Wallfahrten nach Rom eingeladen, allein oder in Gruppen, wie seit jeher in einem Jubeljahr. Und zu abertausenden Veranstaltungen in aller Welt, damit die ganze Kirche ihren Blick fest auf Christus richtet. Das Misericordiae Vultus, das Antlitz der Barmherzigkeit, wie Ihn der Papst in der Bulle nennt, mit der er das Heilige Jahr ausgerufen hat.
Das Schreiben war am 11. April 2015 erschienen und nach den Osterfeierlichkeiten etwas untergegangen. Zumal schon einen Monat zuvor bekannt geworden war, dass es ein außerordentliches Heiliges Jahr geben würde, und die Welle der überraschten Kommentare schon abgeflaut war. Daher haben vermutlich nur wenige den Text gelesen. Aber es lohnt sich, ihn noch einmal zur Hand zu nehmen und ein paar Punkte zu vertiefen. Denn man stößt dabei auf einen unerschöpflichen Reichtum.

Pilger gehen durch die Heilige Pforte in Rom

Das wird schon deutlich, wenn man sich anschaut, warum der Papst dieses Heilige Jahr ausgerufen hat: „Es gibt Augenblicke, in denen wir aufgerufen sind, in ganz besonderer Weise den Blick auf die Barmherzigkeit zu richten und dabei selbst zum wirkungsvollen Zeichen des Handelns des Vaters zu werden. Genau darum habe ich ein außerordentliches Jubiläum der Barmherzigkeit ausgerufen. Es soll eine Zeit der Gnade für die Kirche sein und helfen, das Zeugnis der Gläubigen stärker und wirkungsvoller zu machen.

Sünde und Vergebung. Ein wichtiges Ziel ist also das Zeugnis. Und Quelle des Zeugnisses ist, dass man „den Blick auf die Barmherzigkeit richtet“. Auf Christus zu schauen und sich klar zu machen, welch ein Geschenk Er ist – das scheint dem Papst heute das Wichtigste zu sein. Und das ist genau der Beitrag, den wir Christen der Welt leisten können. Damit steht und fällt die Glaubwürdigkeit der Kirche, die „über den Weg der barmherzigen und mitleidenden Liebe“ führt, wie Franziskus mehr als einmal betont. „Es ist entscheidend für die Kirche und für die Glaubwürdigkeit ihrer Verkündigung, dass sie in erster Person die Barmherzigkeit lebt und bezeugt! Ihre Sprache und ihre Gesten müssen die Barmherzigkeit vermitteln und so in die Herzen der Menschen eindringen.“

„Es gibt Augenblicke, in denen wir aufgerufen sind, in ganz besonderer Weise den Blick auf die Barmherzigkeit zu richten und dabei selbst zum wirkungsvollen Zeichen des Handelns des Vaters zu werden.“ Papst Franziskus

Das gilt immer, aber noch mehr, wenn das Böse so finster und schmerzhaft auftritt, wie in den letzten Monaten: „Auf die Schwere der Sünde antwortet Gott mit der Fülle der Vergebung. Die Barmherzigkeit übersteigt stets das Maß der Sünde.“ Das ist ein beeindruckender und wegweisender Abschnitt. Er führt uns die einzige Waffe vor Augen, die das Chaos besiegen kann. Eine Waffe, die stärker ist als das Chaos. Und das Wort „stärker“ kommt nicht von ungefähr. „Barmherzigkeit walten zu lassen, ist“, wie Papst Franziskus mit Thomas von Aquin feststellt, kein „Zeichen von Schwäche“, sondern „ein Wesensmerkmal Gottes. Gerade darin zeigt sich seine Allmacht.“ Sie gehört zu Seiner Methode, sie ist die Art und Weise, wie Er sich immer wieder unserer Freiheit anbietet. Schon seit Er Seinen Bund mit dem Menschen geschlossen hat (besonders schön ist der Abschnitt, in dem der Papst das anhand der Psalmen zeigt), bis hin zu Seiner endgültigen Selbstoffenbarung in Jesus Christus. Nur durch die Erfahrung Seiner Gegenwart in der Welt kann Johannes, zum ersten und einzigen Mal in der gesamten Heiligen Schrift, sagen, dass „Gott die Liebe ist“.

Rembrandt, Der verlorene Sohn

Daher ist Christus das Antlitz der Barmherzigkeit. Hier offenbart sich „die Natur Gottes als die eines Vaters, der nie aufgibt, bevor er nicht mit Mitleid und Barmherzigkeit die Sünde vergeben und die Ablehnung überwunden hat“. Das zeigt sich auch im Evangelium: das Gleichnis vom verlorenen Sohn, die Witwe von Nain, die Berufung des Matthäus - aus der Franziskus, wie er selber sagt, seinen Wahlspruch abgeleitet hat: miserando atque eligendo – „indem er ihn barmherzig anblickte, erwählte er ihn“. Es gibt keinen anderen Weg, keine andere Möglichkeit, die „Ablehnung zu überwinden“, die dem menschlichen Herzen zuwiderläuft, und die Freiheit wirklich anzuziehen, als sich bewusst zu werden, das Christus für uns gelitten hat und gestorben ist. Gerade in einer Zeit, in der die allgemeine Mentalität dazu neigt, „schon die Idee des Erbarmens aus dem Leben und aus den Herzen zu verdrängen“, wie Papst Franziskus mit Johannes Paul II. sagt.

Und da gibt es noch etwas, das beeindruckt: Was der Papst sagt, sind keine abgeschlossenen Definitionen. Kein einziger Satz beantwortet ein für allemal eine Frage. Das wäre auch, wie schon Don Giussani meinte, unmöglich, da die Barmherzigkeit so eng mit dem Wesen des Geheimnisses verbunden ist. Es gibt in dem Apostolischen Schreiben viele Ansätze, die erklären, was Barmherzigkeit ist. Aber jeder ist nur wie ein Fenster, das sich auf die Erfahrung hin öffnet, die man mit ihr macht, im Evangelium und im Alltag. Es geht um Orte und Situationen, in denen sich die Barmherzigkeit zeigt, und wenn sie sich zeigt, ungeahnte Perspektiven eröffnet.

Mehr als Gerechtigkeit. Nur ein Beispiel: Gerechtigkeit ist ein entscheidendes Bedürfnis des Menschen. Aber es ist schwierig, sie mit der Vorstellung einer radikalen Barmherzigkeit zusammenzubringen, die immer verzeihen kann. „Wenn Gott bei der Gerechtigkeit stehen bliebe, dann wäre er nicht mehr Gott, sondern vielmehr wie die Menschen, die die Beachtung des Gesetzes einfordern. Die Gerechtigkeit alleine genügt nicht und die Erfahrung lehrt uns, dass wer nur an sie appelliert, Gefahr läuft, sie sogar zu zerstören. Darum überbietet Gott die Gerechtigkeit mit der Barmherzigkeit und der Vergebung“ und bietet dem Sünder immer „eine weitere Möglichkeit zur Reue, zur Umkehr und zum Glauben“ an. Das macht auch dem Menschen Vergebung real möglich, „das Instrument, das in unsere schwachen Hände gelegt wurde, um den Frieden des Herzens zu finden. Groll, Wut, Gewalt und Rache hinter uns zu lassen, ist die notwendige Voraussetzung für ein geglücktes Leben.“

„Auf die Schwere der Sünde antwortet Gott mit der Fülle der Vergebung. Die Barmherzigkeit übersteigt stets das Maß der Sünde, und niemand kann der verzeihenden Liebe Gottes Grenzen setzen.“ Papst Franziskus

Zeit, sich zu ändern. Wenn man diese Worte in der aktuellen Stimmung liest, weisen sie einen noch wertvolleren Weg. Am grünen Tisch kann man sich so etwas nicht vorstellen, aber im Glauben ist es möglich. Auch für uns kann sich der Weg auftun, der von uns fordert, „barmherzig wie der Vater“ zu sein, was für Franziskus „das Leitwort des Heiligen Jahres“ ist. Dann versteht man auch, wieso Barmherzigkeit das Kriterium ist, „an dem man erkennt, wer wirklich seine Kinder sind. Wir sind also gerufen, Barmherzigkeit zu üben, weil uns selbst bereits Barmherzigkeit erwiesen wurde.“

Und um uns auf die Sprünge zu helfen, gibt der Papst einige praktische Hinweise. Zum Beispiel ruft er auf, die Fastenzeit intensiver zu leben, „als eine besondere Zeit, in der es gilt, die Barmherzigkeit Gottes zu feiern und zu erfahren“. Oder er lädt zur Pilgerfahrt ein, die „Symbol für den Weg“ ist und „Anreiz zur Umkehr“ sein kann. Er hebt die Bedeutung der Beichte hervor, in der man „mit Händen die Größe der Barmherzigkeit greifen“ kann. „Beichtvater zu sein bedeutet, an der Sendung Jesu teilzuhaben“, schreibt der Papst an die Priester. Eine weitere praktische Hilfe ist die Aussendung von Missionaren der Barmherzigkeit in die Diözesen der Welt. „Es handelt sich dabei um Priester, denen ich die Vollmacht geben werde, auch von den Sünden loszusprechen, die normalerweise dem Apostolischen Stuhl vorbehalten sind.“ Und schließlich die Aufforderung, die leiblichen und geistigen Werke der Barmherzigkeit wiederzuentdecken, denn: „Am Abend unseres Lebens werden wir nach der Liebe gerichtet werden.“

Es gibt noch einen Punkt, den es zu vertiefen lohnt, nämlich die Beziehung mit Juden und Muslimen. Die Barmherzigkeit „verbindet uns“ auch mit ihnen, denn auch Judentum und Islam betrachten Barmherzigkeit als „eine der wichtigsten Eigenschaften Gottes“. „Das Volk Israel hat als erstes diese Offenbarung erhalten“. Und der Islam „zählt zu den Namen für den Schöpfer auch den Namen Allerbarmer und Allbarmherziger“. Eröffnet uns das nicht ganz neue Wege, nach den Attentaten von Beirut, Paris und Bamako?

Das alles sind Anregungen und Arbeitshypothesen, die vertieft und vor allem gelebt werden wollen. Aber sie machen deutlich, dass das Heilige Jahr tatsächlich „jetzt noch dringender ist als zuvor“. „Dies ist die günstige Gelegenheit, um sein Leben zu ändern“, sagt der Papst. „Das ist der Augenblick, um sich im Herzen anrühren zu lassen.“