BARMHERZIGKEIT IN MEINEM LEBEN

Wann und wie haben Sie Barmherzigkeit erlebt? Das haben wir einige bekannte Persönlichkeiten gefragt und überraschende Antworten erhalten.
Bergamini, L. Fiore, A. Leonardi, A. Stoppa

GEMMA CAPRA
Witwe eines Polizisten, der 1972 von italienischen Linksterroristen erschossen wurde

„Niemals habe ich mich so geliebt gefühlt wie da. Es ist schwer zu erklären“, sagt Gemma Capra im Bezug auf jenen 17. Mai 1972. An diesem Tag teilte man ihr mit, dass ihr Mann Luigi Calabresi von militanten Linksextremisten erschossen worden war. Sie war damals 25 Jahre alt und mit ihrem dritten Kind schwanger. „Dort auf dem Sofa habe ich mitten in diesem furchtbaren Schmerz die Umarmung Gottes gespürt. Daher konnte ich sagen: ‚Lasst uns auch für die Attentäter beten.‘ Das hätte ich niemals gekonnt ohne den Glauben, den mir der Herr in diesen furchtbaren Minuten geschenkt hat.“ Haben Sie diese Liebe noch einmal erfahren? „Mein ganzes Leben ist davon überstrahlt.

Es gab aber auch Momente, in denen Wut oder Zorn über das Unrecht, das mir widerfahren war, die Oberhand gewannen. Dann habe ich das zu Hause, alleine, herausgelassen und schließlich gesagt: ‚Mach Du es, Herr.‘ Und der Herr hat mich wieder an die Hand genommen. Etwas Ähnliches ist geschehen, als mein Bruder krank war.“ Nämlich? „Er hatte an seiner Tür ein Schild anbringen lassen: ‚In diesem Haus ist nicht ein Mensch, der stirbt, sondern einer, der aufersteht.‘  Bei ihm zu sein war, obwohl die Krankheit in auffraß, für mich ein kleiner Vorgeschmack auf das Paradies. Ich wollte nie nach Hause gehen. Wie die Apostel, die zu Jesus sagten: ‚Lass uns Hütten bauen und hier bleiben‘. Er hatte eine Freude an sich, eine Fröhlichkeit, die, ich möchte fast sagen, etwas von der Ewigkeit in sich trug. Bis zum Schluss.“



Papst Franziskus hat im Zusammenhang mit dem Heiligen Jahr viel von Vergebung gesprochen. Was bedeutet das für Sie? „Da möchte ich von etwas ausgehen, was ich erlebt habe. Während des Prozesses über den Mord an meinem Mann habe ich gesehen, wie Adriano Sofri [der als Drahtzieher des Mordes angeklagt war] seinen Sohn streichelte. Da durchfuhr es mich wie ein Blitz: Plötzlich war er nicht mehr ein Mörder, sondern ein liebevoller Vater. Er liebte seinen Sohn genauso, wie ich meine Kinder liebe. Nur Gott erlaubt es einem, die Wirklichkeit so zu sehen. Dieser Augenblick hat sich mir tief eingeprägt. Wenn ich den Weg der Vergebung bis heute weitergehen kann, dann auch durch dieses Bild, das mir oft wieder in den Sinn gekommen ist.“

HILARION
Erzbischof der Orthodoxen Kirche in der Ukraine

„Sie fragen, wann ich Barmherzigkeit erfahren habe? Das ist ein bisschen so, als fragten sie mich, wann ich atme. Barmherzigkeit ist für mich so alltäglich, dass ich fast Gefahr laufe, sie mir nicht mehr bewusst zu machen.“ Hilarion ist Erzbischof der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche (Moskauer Patriarchat) in Makariw bei Kiew. Er ist diskret und verschwiegen. Aber als wir ihn bitten, uns zu sagen, was für ihn das Teuerste ist, zögert er nicht. „Es gab in meinem Leben einen sehr schwierigen Moment. Ich war am Rande der Verzweiflung. Lange Zeit fand ich keinen Frieden. Aber irgendwann habe ich eine Erfahrung gemacht wie Natanaël. Ich hörte die Stimme des Heilands, der mir sagte: „Ich habe dich unter dem Feigenbaum gesehen.“ Gott hatte mein Problem verstanden, er wusste, wie es mir ging. Er sah mich, wie er Natanaël gesehen hatte, das heißt, er war nie von meiner Seite gewichen.“



Welche Beziehung besteht zwischen der Barmherzigkeit Gottes und der der Menschen? „Eine enge Verbindung. Die liebevollen Gesten einfacher Menschen sind die deutlichsten Zeichen der Gegenwart Gottes. Oft meinen wir, Werke der Barmherzigkeit könnten nur rechtschaffene Menschen vollbringen. Aber dem ist nicht so. Wie in dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter sind es oft Leute, von denen man es gar nicht erwartet hätte, die dem Glauben fern stehen.

Oft sind es ganz einfache Menschen.“  Wenn Barmherzigkeit wie die Luft ist, die man atmet, was kann man dann tun, um sie nicht für selbstverständlich zu halten? „An der Straßenbahnhaltestelle aussteigen und einen Spaziergang durch den Park machen. Also aus der Alltagsroutine ausscheren und sich einen Moment suchen, in dem man über das nachdenken kann, was man im Laufe des Tages erlebt hat. Dann versteht man vieles besser und erkennt zum Beispiel leichter, wer um einen herum leidet.“

„Sie fragen, wann ich Barmherzigkeit erfahren habe? Das ist ein bisschen so, als fragten sie mich, wann ich atme.

Und was heißt es, dass der Mensch barmherzig sein soll wie der himmlische Vater? „Wenn man Gott den kleinen Finger gibt, muss man wissen, dass Er früher oder später die ganze Hand verlangen wird. Die Logik im geistlichen Leben ist: Wenn man angefangen hat, Gott zu dienen, kann man das nicht nur „phasenweise“ tun. Schritt für Schritt stellt man fest, dass man sich ganz dem Dienst für Christus weihen muss, indem man Gutes tut. Wie es Ihm auch ergangen ist: Er hat immer Gutes getan und dann haben sie Ihn ans Kreuz geschlagen.“ Und was bedeutet nun eigentlich Barmherzigkeit? „Den anderen in seiner Andersheit annehmen. Akzeptieren, dass er anders ist als wir und als es die Stereotypen der Gesellschaft vorgeben.“