Schwester Maria Angela Bertelli

Engel in Bangkok

In einer Kultur, die Leid als Strafe ansieht, gelten behinderte oder kranke Kinder als Fluch. Das „Haus der Engel“ in Bangkok nimmt solche Kinder und ihre Mütter auf.
Alessandra Stoppa

Gegen alle Prinzipien der thailändischen Mentalität. Vor allem gegen das Prinzip, dass Gott eine Einbildung ist.
Der Theravada-Buddhismus versteht die Lebensumstände eines Menschen als Lohn oder Strafe für das, was er in seinem vorherigen Leben getan hat. Das gilt in den Wolkenkratzern Bangkoks genauso wie in den schlammigen Slums oder in den Krankenhäusern. „Armut und Leid sind schlechtes Karma“, erklärt Schwester Maria Angela. „Und das Karma ist eine Schuld, die im nächsten Leben kompensiert werden muss.“ Ein erbarmungsloses Gesetz. Vor allem für Kinder wie die, die sie in ihrem Haus aufnimmt. Sie sind von Geburt an verkrüppelt, gelähmt, können nicht sprechen oder laufen. Wie oft müssten sie wohl wiedergeboren werden, um sich davon zu befreien?

Wenn man die Bilder aus dem „Haus der Engel“ sieht, erkennt man gleich, dass dieses Gesetz dort auf den Kopf gestellt ist. Nicht durch Theorien, sondern durch eine Beziehung.

Schwester Maria Angela Bertelli, Jahrgang 1959, ist Xaverianer-Missionarin Mariens. Nach fünfzehn Jahren in Thailand wird sie in wenigen Monaten nach Italien zurückkehren. „Es waren aufreibende Jahre, aber auch Jahre der Gnade“, sagt sie. Sie hatte viel zu leiden, und es wurde ihr viel zurückgegeben. Vor allen Dingen von den Kindern. Das Haus, das sie gegründet hat, ist ein Rehabilitationszentrum, aber vor allem eine Familie. 2008 wurde es eröffnet, in Nonthaburi, 20 Kilometer nördlich von Bangkok. Eigentlich eine Unmöglichkeit in einem Land, in dem es keinerlei solche Einrichtungen für Kinder gibt, außer Waisenhäusern. Zurzeit hat das „Haus der Engel“ 15 kleine Gäste. Die Arbeit, die Schwester Maria Angela dort täglich tut, reicht von Krankengymnastik bis zum Küchendienst. Aber dieser Ort will vor allem eines sein: „eine Gelegenheit, um die Gegenwart des Herrn heute Fleisch werden zu lassen“.



Die Mütter, die jetzt hier leben und arbeiten, waren, als sie herkamen, voller Angst und Scham. Die meisten von ihnen waren sehr jung und trugen den „Fluch“ ihrer spastisch gelähmten oder geistig behinderten Kinder. Und sie taten sich schwer, sie zu lieben. „Sie nahmen dieses Schicksal nur unterwürfig hin. Und sie waren sehr einsam“, sagt Schwester Maria Angela. Keine von ihnen wusste etwas über das Christentum. Aber alle hatten ein Seep Ciai, ein „vor Schmerz brennendes Herz“, gewalttätige und alkoholkranke Männer oder solche, die nie da waren. Heute fragt sich jeder, der in dieses Haus kommt: Wer ist hier die Mutter von wem? Denn jede kümmert sich hier um alle Kinder. „Mit einer Liebe, einer Hingabe, die ich mir nicht einmal hätte vorstellen können“, sagt Schwester Maria Angela. Sie kümmern sich um jede Kleinigkeit, das ist ihr schönstes Gebet. „Die Liebe ist hier kein Gefühl. Sie ist konkreter Dienst, bei dem man sich auch die Hände schmutzig macht und Lasten schleppt.“ Das Wort „Ungeschuldetheit“ gibt es im Thai nicht. Man braucht dafür einen ganzen Satz: „Ich tue es nur, weil ich dich mag, ich erwarte dafür keine Gegenleistung.“ Oder man tut es einfach, viele, viele kleine Gesten ungeschuldeter Liebe, Tag für Tag. „Die hiesige Kultur reagiert argwöhnisch auf diese eigentlich natürliche Haltung. Man wird gefragt: ‚Warum kümmerst du dich um mich?‘“, erklärt Schwester Maria Angela.

Ihre Mission hatte schon begonnen, lange bevor sie nach Thailand kam. Bereits als junge Frau verließ sie ihren Heimatort, ihr Klavier und die väterliche Käserei, nachdem sie auf alle mögliche Weise versucht hatte, ihrem Leben einen Sinn zu geben. Nach einem Abschluss als Buchhalterin lernte sie Krankenschwester und arbeitete mit Kranken und Behinderten in der Pfarrei ... „Aber nichts stellte mich zufrieden“, erzählt sie. Bis eines Tages eine Freundin sie fragte: „Willst du Jesus nur einen Teil deiner Zeit geben oder dich selbst?“ Als sie dann die Xaverianer-Missionarinnen Mariens kennenlernte, beschloss sie, nicht mehr selber über ihre Schritte zu entscheiden. „Ein Anderer sollte für mich entscheiden, wie und wann und wo.“

Die Entführung. Zunächst kam sie nach New York in ein Lebenshilfezentrum. Dort hatte sie mit Müttern zu tun, die abtreiben wollten, und mit Jugendlichen aus Harlem. 1993 schickte man sie nach Sierra Leone. Zwei Jahre lang unterrichtete sie Krankengymnastik und arbeitete in einem Zentrum für Kinder mit Kinderlähmung. Bis sie entführt wurde: 56 Tage hielten Rebellen der „Revolutionären Vereinigten Front“ sie und einige ihrer Mitschwestern mit hunderten weiterer Geiseln gefangen. Sie musste hungern und bekam Malaria. Und doch sagt sie entschieden: „Es gab keinen besseren Ort, um missionarisch zu wirken.“ Noch heute kommen ihr die Tränen, wenn sie erzählt, was sie da erlitten hat. Aber sie hat keine Zweifel: „Ich habe die Zeichen der Barmherzigkeit gesehen. Der Herr war dort bei uns.“ Die Frauen der Anführer brachten ihnen heimlich etwas zu essen. Der jüngste der Rebellen änderte nach und nach seine Haltung. Und einer der Entführer gab ihr ein Bildchen mit dem Antlitz Jesu von Velázquez, das in ihrem Orden sehr verehrt wird. „Die Liebe findet verborgene Pfade, um wahr und lebendig zu bleiben.“

Am 6. November 2000 kam Schwester Maria Angela nach Thailand, mit 41 Jahren. Sie wollte die Herausforderung von Papst Johannes Paul II. aufgreifen, sich im dritten Jahrtausend der Evangelisierung Asiens zu widmen. Sie begann im Norden, in der Provinz Lampang, wo sie Kranke pflegte. Nach zweieinhalb Jahren bittet sie ihre Ordensoberen, sie in den Slum Wat Chonglom am Rand von Bangkok zu schicken. Ihr Stützpunkt wird die Pfarrei Unserer Lieben Frau von der Barmherzigkeit, wo auch Pater Adriano Pelosin, ein Missionar des Päpstlichen Instituts für die auswärtigen Missionen (PIME), wirkt. Gemeinsam besuchen sie mit dem Motorroller die Menschen in den Slums. Sie kümmern sich um AIDS-Kranke im Endstadium und um Behinderte, besonders um Kinder. Daraus entsteht, ohne dass es jemand geplant hätte, das „Haus der Engel“.



Lin ist eine der Mütter dort. Wenn sie spricht, verstummen alle, denn sie spricht selten. Und wenn, dann sagt sie Bedeutsames: „Hier hat Gott, Gott selbst, mich aufgenommen. Er hat für mich all das getan, was im Evangelium steht.“ Mit ihren wenigen Habseligkeiten in einer Plastiktüte und dem kleinen Phum war sie hierher gekommen, nachdem ihre erste Tochter an einer Herzkrankheit gestorben und ihre Ehe zerbrochen war. Eines Morgens, als sie aus dem Fenster gesehen hatte, war ihr der Gedanke gekommen, Phum in einem Waisenhaus abzugeben und sich das Leben zu nehmen. Doch dann hatte sie zwischen den Dächern ein Kreuz gesehen. Das erinnerte sie an die Kette um den Hals der Sister, die sie im Krankenhaus getroffen hatte. Die Leute hier wissen nicht einmal, was genau eine Sister ist. Viele denken, es sei einfach eine Hilfskraft in der Krankenpflege. Heute sagt Lin zu Schwester Maria Angela: „Weißt du, Mae [Mutter], mir ist klar geworden, dass ich nie erfahren hatte, was Liebe ist. Auch wenn ich mit meinem Mann ins Bett ging, waren wir nur zwei Körper, die sich nahekamen. Erst hier habe ich die wahre Liebe kennengelernt.“

Die Frage von Nit. Was man im „Haus der Engel“ sieht und mit Händen greifen kann, ist ein Werk der Barmherzigkeit – „Nächstenliebe auf die Schnelle“, wie die Missionarin demütig sagt. Die Barmherzigkeit „ist der Schlüssel, der alle Türen aufschließt. Auch bei denjenigen, die nicht glauben.“ Anfangs schwätzten die Frauen während der Gebetszeiten und kicherten. Doch dann wollten sie immer wieder, dass Schwester Maria Angela ihnen die Schöpfungsgeschichte vorlas. Für sie war es undenkbar, dass Gott eine Hand, ein Hirn, ein Herz entstehen lassen sollte wie eine Mutter in der Schwangerschaft. „Sister, liest du das noch einmal vor?“, baten sie. „Wir wussten gar nicht, dass hinter allem so viel Liebe steckt.“ Sie meinten, es wäre reiner Zufall. Mit der Zeit ließen einige von ihnen sich und ihre Kinder taufen.

Man findet hier die Liebe Gottes
, obwohl Gott gar keinen Platz im Leben und Denken hat. Das Wort „Gott“ ist hier ebenso tabu wie das Wort „Ich“. Nach der Lehre des Buddha, erklärt Schwester Maria Angela, „ist Gott eine Erfindung des Menschen. Auch das self, das Ich, und die Unsterblichkeit der Seele sind Erfindungen. Der Mensch ist eine Ansammlung von Elementen. Heute existiert er und morgen nicht mehr. Und jeder ist auf sich selbst gestellt.“ Buddha lebte 500 Jahre vor Christus, aber in seiner Lehre gibt es zahlreiche Parallelen zum modernen Nihilismus. „Zum Heil gelangt man, wenn man sich von allem löst, auch von seinen Wünschen, sogar von den guten, auch von der Liebe, um in einen Raum des Friedens und des Nichts einzutreten.“

Das Fehlen des Ichs ist keine Theorie, sondern gelebte Praxis. Das Leben wird zum russischen Roulette. Damit scheinen auch die kleinen Gesten der Liebe, die den Tagesablauf im „Haus der Engel“ ausmachen, umsonst zu sein. Was haben sie für einen Nutzen? „Gott selbst ermöglicht es uns, ihm in den Kleinsten zu begegnen, ihn kennenzulernen, in den Armen zu halten und zu lieben“, antwortet Schwester Maria Angela. „Eine Begegnung mit Jesus auf du und du, für mich.“ Auch in einem der dunkelsten Momente ihres Lebens war es ein kleiner Junge, Nit, der sie wieder ins Leben führte. „Es war hart mit ihm. Er hat alles Mögliche angestellt. Aber ab und zu hielt er inne und fragte: ‚Sister, hast du mich lieb?‘ Es war Christus selbst, der an meine Tür klopfte und mir diese Frage stellte.“ Als ihr das klar wurde, wurde sie innerlich wieder ruhig.

Das Buch von Schwester Maria Angela

Frauen von Zyrene. Die ersten Gäste des „Hauses der Engel“ waren Lek und ihre beiden Kinder. Schwester Maria Angela hatte sie bei einem ihrer Besuche im Children’s Hospital kennengelernt. Als sie ins Zimmer kam, schlief Lek auf zwei Stühlen neben dem zweieinhalbjährigen Tam, der im Koma lag. Ihr Mann hatte sie verlassen. Ihr fehlte das Nötigste zum Leben. Außerdem hatte sie noch eine Tochter, Toon, die zu früh geboren worden war. Lek wusste nicht, wie sie für sie sorgen sollte. Als Schwester Maria Angela auf ihrem Motorroller nach Hause fuhr, ging ihr diese Frau nicht aus dem Kopf, die so viele Kreuze zu tragen hatte. Doch sie wagte nicht, Gott nach dem Warum zu fragen. „Ich traue mich nie, das zu fragen“, sagt sie. „Weil es ein Geheimnis ist. Eine Erklärung wäre nie erschöpfend. Die Antwort zeigt sich, wenn man mit diesen Leuten zusammenlebt. Indem man sich auf alles einlässt, scheint die Antwort auf. Man muss die Leute ‚heiraten‘. Man muss mit ihnen wie in einer Familie leben.“ Daher bat sie Gott nur um eines: „dass sie das Werkzeug sein dürfe, durch das er Lek nahebleiben wolle“.

Trotz aller Widrigkeiten konnte Lek den Slum verlassen und in die Nähe der Pfarrei Unserer Lieben Frau von der Barmherzigkeit ziehen. Nach einiger Zeit wurde auch sie krank. Sie schien fast weniger zu wiegen als der kleine Tam. Trotzdem trug sie ihn unermüdlich herum. Ihr Körper war ausgelaugt von der Arbeit: Pfähle in den sumpfigen Untergrund zu rammen, bis zum Hals in schlammigem Wasser. Sie nahm am Katechismus-Unterricht teil, auch wenn sie – wie sie sagte – nichts verstand. Eines Tages kam sie nach dem Unterricht zu Schwester Maria Angela und meinte: „Was Gott von Abraham wollte, ist dasselbe, was er von mir will.“ Dann begann sie, jeden Tag in der Bibel zu lesen und viele Fragen zu stellen. Wenn ihr Mann mal wieder nach Hause kam, schlug er sie. Eines Tages kam sie zu Schwester Maria Angela gelaufen: „Bitte sei nicht böse. Ich weiß, du hast mir gesagt, ich soll ihm nicht mehr die Tür aufmachen. Aber als er gestern Abend klopfte, musste ich daran denken, was Jesus uns lehrt, dass wir unsere Feinde lieben sollen. Ich habe mich gefragt, wie sehr ich wirklich auf den Herrn vertraue, wenn ich Angst habe. Also habe ich aufgemacht. Er blieb ein bisschen und ging dann ohne uns weh zu tun.“ Nach einem langen Kreuzweg, auf dem sie mehrmals fiel und wieder aufstand, oft wie durch Mahassachan, Wunder, ist Lek heute auf den Namen Maria getauft und hilft bei der Katechese. Wenn sie zum Unterricht kommt, bringt sie immer ihren Sohn mit. Er hat eine Zerebralparese und braucht immer noch sehr viel Pflege. Sie nimmt ihn mit, weil er Teil ihres Zeugnisses ist, eines Lebens, das von Gott angerührt wurde. „Wenn ich Tam nicht hätte und er nicht so wäre, wie er ist, wäre ich dem Herrn nie begegnet.“



Schwester Maria Angela macht sich keine Sorgen, was passieren wird, wenn sie nach Italien zurückgeht. Denn das Haus ist in der Hand dieser Frauen, die wie Simon von Zyrene Christus helfen, ohne ihn zu kennen, und dann wie eine von ihnen sagen: „Dieser Gottvater, Phra Bida, den ich durch dich kennengelernt habe, ist mir auch nahe, wenn ich in meinem stillen Kämmerlein weine. Auch wenn ich allein bin. Immer.“

Im Psalm 113 heißt es: „Er hebt den Schwachen aus dem Staub empor und erhöht den Armen, der im Schmutz liegt. Er gibt ihm einen Sitz bei den Edlen, bei den Edlen seines Volkes.“ „Wir haben die Heilsbotschaft, die uns die Geringsten überbringen, noch nicht verstanden“, meint Schwester Maria Angela. „Die Frage nach dem Warum angesichts der Prüfungen des Lebens war und ist immer die Gleiche, auch schon in der Zeit vor Christus. Aber da gab es die Offenbarung noch nicht. Eine konkrete Tatsache, an der man sich festhalten und von der man sich mitreißen lassen kann.“ Für sie ist das eine Frage der Methode: „Die Dinge Gottes kann man nicht verstehen. Wir aber wollen sie erst verstehen und dann annehmen. Doch Gott sagt uns: ‚Glaub mir, diene diesen Menschen, dann wirst du mich in ihnen finden.‘“ Es ist die Erfahrung, was einen leitet. „In den letzten Jahren habe ich bemerkt, dass ich schmutziger, sündiger, behinderter und gefangener bin als diese Menschen. Es ist etwas Unvergleichliches, mit den Augen Gottes zu sehen, mit seiner Methode, an der wir immer Anstoß nehmen, obwohl sie unser Herz verändert. Es gibt diese Gegenwart, die alles neu macht. Es gibt sie wirklich. Und wie es sie gibt!“