Papst Franziskus besucht die Synagoge in Rom. ©Franco Origlia/Getty Images

PAPST FRANZISKUS IN DER SYNAGOGE VON ROM

Die Christen sind „unsere Partner bei der Welterlösung“. Und die Kirche zeigt eine „ungewohnte Fähigkeit, sich zu verändern“.
Ignacio Carbajosa

50 Jahre nach der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils Nostra Aetate und nachdem zum dritten Mal ein Papst die römische Synagoge besucht hat, gibt es eine überraschende Annäherung zwischen Christentum und Judentum.

Am 17. Januar 2016 hat Papst Franziskus die große Synagoge von Rom besucht. „Juden und Christen müssen sich als Brüder fühlen“, sagte Franziskus und griff damit eine Formulierung von Johannes Paul II. auf: „Ihr seid unsere älteren Schwestern und Brüder im Glauben“, hatte der gesagt. Franziskus war der dritte Papst, der die Synagoge besuchte (nach Johannes Paul II. 1986 und Benedikt XVI. 2001). Damit wurde dieser Besuch, wie der Oberrabbiner Riccardo Di Segni sagte, zu einer chazaqà: Nach rabbinischer Tradition wird ein Akt, der dreimal wiederholt wird, zu einer festen Gewohnheit. „Das ist ein sicheres Zeichen, dass eine neue Ära angebrochen ist“, meinte er.

Aber im Dialog zwischen Juden und Christen tut sich im Augenblick noch mehr. Zur  Fünfzigjahrfeier der Erklärung Nostra Aetate des Zweiten Vatikanischen Konzils, die einen Einschnitt in der Haltung der katholischen Kirche gegenüber dem jüdischen Volk bedeutete, kommen wichtige Zeichen aus diesem Bereich. Das Jubiläum der Erklärung wurde nicht nur im kirchlichen Bereich gefeiert. Es wurde für eine nicht unerhebliche Zahl jüdischer Rabbiner zur Gelegenheit, sich der christlichen Welt im Allgemeinen und der katholischen Kirche im Besonderen weiter anzunähern.

Ende November erklärte die jüdische Gemeinschaft Frankreichs mit ihrem Oberrabbiner, und kurze Zeit später eine Gruppe orthodoxer Rabbiner aus Israel, den Vereinigten Staaten und Europa, nun sei der Moment gekommen, die Hand zu ergreifen, die ihnen seit fünfzig Jahren von den Christen angeboten werde. Man wolle jetzt einen Schritt in Richtung Anerkennung des Christentums als „eines konvergenten und komplementären Wegs“ gehen.



Es wäre ein Fehler, diese beiden Erklärungen unbeachtet zu lassen. Obwohl sie sich im Detail unterscheiden, stimmen sie in den Kernpunkten überein und sind mehr als eine allgemeine Absichtserklärung. In der Tat enthalten sie einige Aussagen über das Christentum und die katholische Kirche, die wir so noch nie von unseren jüdischen Brüdern gehört haben.

Die orthodoxen Rabbiner wagten sich am weitesten vor, indem sie erklärten, das Christentum sei „weder ein Zufall noch ein Irrtum, sondern göttlich gewollt und ein Geschenk an die Völker“. Und sie erkannten „die fortwährende konstruktive Gültigkeit des Christentums als unser Partner bei der Welterlösung“ an. Die Notwendigkeit dieses gemeinsamen Bemühens gründet auf dem Bewusstsein, dass „keiner von uns Gottes Auftrag in dieser Welt alleine erfüllen“ kann. Die französischen Rabbiner bezeichneten ihrerseits das Jubiläum von Nostra Aetate als eine „geheiligte Aufforderung“ und ein „Jubeljahr der Brüderlichkeit“. Sie erklärten, sie wollten „das Christentum als Religion unserer Brüder und Schwestern willkommen heißen, als zusätzliche Kraft mit dem Judentum“.

Das Mea culpa berührt
Dieser wichtige Schritt der jüdischen Welt bietet auch einige Einsichten im Bezug auf den Weg der katholischen Kirche. In erster Linie zeigt er, welche Früchte es gebracht hat, dass das Konzil die Religionsfreiheit verteidigt und sich den nicht-christlichen Religionen zugewandt hat, was ja auch in Teilen der katholischen Kirche auf Ablehnung gestoßen ist (zum Beispiel bei Bischof Marcel Lefebvre). Auch wenn es fünfzig Jahre gedauert hat – in denen die jüdische Welt feststellen konnte, dass die Kirche es aufrichtig meint –, so zeigt die Geste der Rabbiner, dass die Bitte um Vergebung und das Anerkennen der eigenen Schuld, ohne eine Gegenleistung dafür zu erwarten, etwas Neues darstellt, das die alten Mechanismen verändern kann.

In Nostra Aetate hatte die Kirche erklärt, man könne den Tod Christi „weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen“. Man dürfe die Juden auch nicht „als von Gott verworfen oder verflucht darstellen“. Wir müssen aber reuevoll bekennen, dass die Kirche jahrhundertelang die Juden dessen angeklagt und darüber hinaus zugelassen hat, dass sie verfolgt und unterdrückt wurden.

Insofern ist es wirklich überraschend, wie die französischen Rabbiner sich von diesem Mea Culpa berühren lassen. „Diese Umkehr“, schreiben sie, „bedeutet für uns Juden nicht nur einen glücklichen Gesinnungswandel. Es zeigt auch eine ungewohnte Fähigkeit, sich im Namen grundlegender religiöser und ethischer Werte zu verändern.“ Gewiss ist das Anerkennen der eigenen Schuld etwas, was man heute nicht mehr gewöhnt ist. Wenn es aber geschieht, spürt man, dass man vor einer wahrhaft menschlichen Haltung steht, die auch in ihrem Umfeld eine neue Menschlichkeit hervorrufen kann.

Eine Jüdisch-orthodoxe Familie macht sich auf den Weg zum Gebet an der Klagemauer - RTXJLDZ

Ein Zweites, das wir für den Weg der Kirche lernen können, ist die Notwendigkeit, sich immer wieder mit der Heiligen Schrift zu konfrontieren und unser Leben an ihr auszurichten. „Am Anfang war das nicht so“, könnten wir mit Jesus (vgl. Mt 19,8) auch über das Verhältnis der Christen zu den Juden sagen. Wenn es jemanden gab, den es zutiefst schmerzte, dass die Juden Christus nicht anerkannten, dann war es der heilige Paulus. Er war ja zunächst Pharisäer, beachtete die jüdischen Gesetze genau und verfolgte die Christen. Doch nach seiner Bekehrung verkündigte er den gekreuzigten Christus, „für Juden ein empörendes Ärgernis“ (vgl. 1 Kor 1,23), und musste Gefangenschaft und Tod erleiden aufgrund des Widerstands seiner ehemaligen Mitbrüder. Nichtsdestotrotz ist im neunten und elften Kapitel des Römerbriefs, in denen er über das Sich-Verweigern Israels spricht, keinerlei Hass zu spüren, sondern der Wunsch, das Geheimnis des göttlichen Heilsplanes zu durchdringen.

Eine wichtige Nachricht.
„Ich bin voll Trauer, unablässig leidet mein Herz. Ja, ich möchte selber verflucht und von Christus getrennt sein um meiner Brüder willen, die der Abstammung nach mit mir verbunden sind.“ (Röm 9,2-3) Der Schmerz, den Paulus empfindet, hindert ihn nicht festzustellen, dass Gott das Volk Israel nicht verworfen habe: „Vom Evangelium her gesehen sind sie [die Juden] Feinde Gottes [...], von ihrer Erwählung her gesehen sind sie von Gott geliebt, und das um der Väter willen. Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt.“ (Röm 11,28-29) Und damit Christen, die nicht jüdischer Abstammung sind, nicht überheblich werden, stellt Paulus ihnen ein Bild vor Augen, das heute wieder mehr Beachtung finden sollte: Wir Heiden, die wir Christus anerkannt haben, sind wie wilde Zweige in den edlen Ölbaum Israel eingepfropft worden. Aus diesem Ölbaum wurden viele ursprüngliche Zweige herausgebrochen, mit der Hoffnung, dass auch sie wieder eingepfropft werden können, wenn die ganze Menschheit mit Gott versöhnt sein wird (vgl. Röm 11, 17-24).

Die neu entstandene Begegnung der jüdischen Welt mit der christlichen eröffnet großartige Perspektiven. Sie ist, nach der Erklärung der französischen Rabbiner, „ein erster Schritt und eine Einladung zum Dialog zwischen allen Religionen und Spiritualitäten, der Eckstein für eine versöhnte und befriedete Menschheit.“ In einer Welt, die von Gewalt zerrissen wird, ist es eine wichtige Nachricht, dass alte Feinde sich nicht nur gegenseitig tolerieren, sondern sogar als Brüder erkennen können.

Zur Vertiefung
Hier findet sich die Erklärung der orthodoxen Rabbiner und die der französischen Rabbiner im Wortlaut