Bei der Generalaudienz am 16.  Januar 2016. ©AP Photo/Alessandra Tarantino)

DER NAME GOTTES IST BARMHERZIGKEIT

„Ein Priester, dem vergeben wurde“. Andrea Tornelli spricht über sein Interview-Buch mit dem Papst, über seine persönliche Beziehung zu Franziskus. Und er erläutert, warum die Barmherzigkeit für diesen so große Bedeutung hat.
Martino Cervo

„Der Name Gottes ist Barmherzigkeit“. Diesen Ausspruch von Benedikt XVI. hat Andrea Tornelli, Vatikanreporter der italienischen Zeitung La Stampa, als Titel für sein Interview-Buch mit Papst Franziskus gewählt. Es gibt ein ausführliches Gespräch wider, dass die beiden rund um das Thema des Heiligen Jahrs geführt haben. „Die Barmherzigkeit“, hatte Papst Benedikt XVI. 2008 gesagt, „ist in Wirklichkeit der Wesenskern der Botschaft des Evangeliums, sie ist der Name Gottes selbst, das Antlitz, mit dem er sich im Alten Bund und vollends in Jesus Christus offenbart hat, der menschgewordenen Schöpfer- und Erlöserliebe.“ (Regina coeli, 30. März 2008) Darauf bauen die Gedanken von Papst Franziskus auf.

Im Vorwort gehen Sie auf das Setting ein, das der Papst für dieses lange Gespräch gewählt hatte. Er ist ein Pontifex, den „der Geruch der Schafe“, wie er es nennt, mehr zu interessieren scheint als die Beziehung zu Intellektuellen, zu Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens oder Journalisten. Wie ist er Ihnen begegnet?
Bevor er Papst wurde, hatte Jorge Mario Bergoglio wohl nicht viel Kontakt mit der Presse. Seit seiner Wahl aber hat er sich sehr viel öffentlich geäußert und eigentlich kein Interview-Ansinnen zurückgewiesen, soweit es ihm möglich war. Das ist damit sozusagen zu einer Art Normalität geworden. In meinem Fall hat auch eine Rolle gespielt, dass wir uns schon vorher kannten. Aber auch allgemein war er bereit, auf jegliche Art von Fragen zu antworten. Im Vergleich zu anderen Interviews dreht sich hier das Gespräch um ein einziges Thema. Es ging aber nicht um einen Austausch unter Intellektuellen. Mir scheint, meine Aufgabe bestand darin, Fragen zu stellen, und er nahm diese zum Anlass, die Botschaft zu verkünden, die er der Welt seit seiner ersten Messe nach dem Konklave zu vermitteln sucht. Und das ist übrigens die wichtigste Botschaft Jesu. Meiner Ansicht nach macht Franziskus keinen großen Unterschied, ob er mit einem Staatschef oder mit einem Kranken spricht, den er in einer Klinik besucht. Nur tut er aufgrund seines Charakters und seiner Geschichte Letzteres lieber.

Andrea Tornielli, Vatikanist

Sie haben gesagt, dass Sie Jorge Mario Bergoglio schon früher kannten. Wann haben Sie zum ersten Mal von dem argentinischen Kardinal gehört und wie haben Sie ihn persönlich kennengelernt?
Der erste indirekte Kontakt war ein Interview in 30Tage, das er meinem Kollegen Gianni Valente im Januar 2002 gegeben hatte. Das war zur Zeit der argentinischen Schuldenkrise. Dann traf ich ihn einmal auf dem Petersplatz und gab ihm ein Buch, das ich geschrieben hatte. Er blieb gleich stehen und sprach mit mir darüber. Das hat mich sehr beeindruckt. Denn oft verschwinden die Kardinäle schon, wenn ein Journalist nur auf sie zukommt, um ihnen Guten Tag zu sagen. Er nicht. Er schrieb mir dann sogar, durch die Vermittlung von Freunden. Jahre später, 2012 während der Vatileaks-Affäre, habe ich ihn telefonisch interviewt zu den Skandalen in der Kirche.

Im März 2013 waren Sie wohl weniger erstaunt über seine Wahl als andere …
Es war eine große Überraschung für alle, mich auch. Ich hatte ihn zwar als papabile eingestuft, aber für einen Außenseiter gehalten. Ich versuche immer zu trennen zwischen meinen persönlichen Vorstellungen und Sympathien und dem, was ich in der Kirche vor sich gehen sehe. Mir war klar, dass damals ein bestimmter „Steckbrief“ auftauchte, aber das bedeutet nicht, dass der Heilige Geist nicht alle überraschen kann.

Wenn man die Geschichte und die pastorale Einstellung von Jorge Mario Bergoglio betrachtet, woher kommt dann diese besondere Betonung der Barmherzigkeit, was ist die Quelle?
Mir kommen da zwei Dinge in den Sinn. Das erste ist die Dynamik, mit der seine eigene Berufung vor sich ging. Bergoglio entstammt einer katholischen Familie. Geglaubt hat er immer. Doch als er einmal im Beichtstuhl auf einen Priester traf, den er vorher nie gesehen hatte, tauchte in ihm der Wunsch auf, Priester zu werden. Er selbst hat das in den Gesprächen mit Francesca Ambrogetti und Sergio Rubin beschrieben [die unter dem Titel Papst Franziskus. Mein Leben, mein Weg auch auf Deutsch erschienen sind]. In dem Augenblick sei es gewesen, als habe Gott ihn ohne Rüstung erwischt. Es war am Fest des heiligen Matthäus. Und wie auf dem berühmten Gemälde von Caravaggio habe er gespürt, dass Gott sich seiner „erbarmte“. In Rom wohnte er immer in der Via della Scrofa, nur wenige Schritte von der Kirche San Luigi dei Francesi entfernt, wo sich dieses Gemälde befindet. Er liebte die „Berufung des Matthäus“ sehr und ging oft dorthin. Von dieser Berufungsgeschichte zeugt auch sein Wahlspruch miserando atque eligendo [„Barmherzigkeit schenkend und ihn erwählend“].



Und das Zweite?
Das hat sich ganz natürlich aus seiner Tätigkeit als Seelsorger entwickelt, also indem er die Barmherzigkeit „anwendete“, durch seine Nähe zu den Schwachen. In dem erwähnten Buch hat er auch gesagt, dass auf seinem Grabstein stehen sollte: „Jorge Mario Bergoglio, Priester“. Das war für ihn das Höchste. Ein sacerdote callejero, ein „Straßen-Priester“ zu sein, dem vergeben wurde und der denjenigen nahe ist, die leiden. Es macht ihn glücklich, Messen zu feiern, zu taufen und die Sakramente zu spenden. Ich erinnere mich, dass ich einmal zufällig dabei war, als Franziskus ungefähr 20 Kindern von Angestellten des Vatikans die Taufe spenden sollte. Eine riesige Menge von Leuten wartete, viel mehr, als der normalen Anzahl an Täuflingen entsprochen hätte. Der Grund war, dass er an diesem Nachmittag den Kreis auch auf die Kinder von Verwandten und Freunden der Angestellten ausgedehnt hatte. Das macht ihm Freude und ist für ihn eine Möglichkeit, die Barmherzigkeit Gottes noch weiter zu verbreiten und so viele Leute wie möglich zu erreichen.

Manchmal kann man allerdings den Eindruck gewinnen, Barmherzigkeit sei ein Zauberwort, das man allem überstülpen könne, eine Art Weltflucht – und nicht ein Kriterium, um anders an die Welt heranzugehen. Doch wenn man Ihr Buch liest, erkennt man, dass es nicht so ist. Könnten Sie das näher erklären?
Das Problem besteht schon immer, nicht erst bei diesem Papst. Man ist geneigt, seine Worte in einen Slogan zu pressen und die Dinge durch einen Fleischwolf zu drehen, um sie dann unter einem neuen Etikett verkaufen zu können. Aber diese Worte sprechen von einem Leben. Barmherzigkeit ist kein Gutmenschentum, sie dient dazu, in die Welt hineinzugehen. Die Sünde ­­­­­­hat eine Kehrseite, die sozialen Folgen, und das gleiche gilt für die Vergebung. Sünde und Vergebung haben in gewisser Weise auch politische Relevanz, sogar auf internationaler Ebene. Es ist kein Zufall, dass Papst Franziskus Johannes Paul II. zitiert. Dieser hatte 2002, nach den Ereignissen des 11. September, in einem historischen Augenblick, der aus verschiedenen Gründen dem jetzigen furchtbar ähnlich war, gesagt: „Es gibt keine Gerechtigkeit ohne Vergebung.“ Die Vergebung ist die höchste Form der Gerechtigkeit. Und ihre soziale Kehrseite besteht darin, dass es Konsequenzen hat, wenn man die Erfahrung der Vergebung macht – sei es, dass man sie erfährt, sei es, dass man selber vergibt. Es hat Folgen für das weitere Handeln. Das gilt auch für eine Sünde, die man gebeichtet hat: Sie verändert den Menschen und damit die Welt.

Welche Konsequenzen hat die zentrale Bedeutung der Barmherzigkeit zum Beispiel für die Politik einzelner Staaten? Hier in Italien gab es ja kürzlich die Debatte um die Homo-Ehe und Demonstrationen dafür und dagegen. Wie sieht das aus, wenn man es „mit den Augen von Franziskus“ betrachtet, wie Sie es in Ihrem Vorwort nennen. Und was verlangt das von uns Katholiken?
Natürlich kann ich hier nicht in seinem Namen sprechen, sondern nur meine Wahrnehmung wiedergeben. Mit seiner Ansprache vor der Römischen Rota [in der Franziskus gesagt hatte, die Kirche habe der Welt gezeigt, „dass es keine Verwirrung zwischen der von Gott gewollten Familie und allen anderen Formen von Lebensgemeinschaften geben darf“] wollte der Papst sich nicht in die politische Debatte einmischen. Und das sicher nicht, weil er es für falsch hielte, dass sich gläubige Laien für etwas einsetzen, sondern weil er denkt, dass sie ihre Entscheidung frei treffen sollten, ohne dabei gesteuert zu werden. Und ich muss sagen: Wenn es Bischöfe gibt, die gerne „steuern“, dann nicht zuletzt, weil es Laien gibt, die sich lieber den „Segen von oben“ holen, als persönlich Verantwortung zu übernehmen. Ich glaube, Franziskus will zunächst und vor allem, dass Erwachsene Verantwortung übernehmen. Natürlich teilt uns der Papst mit, was er denkt. Alles anderes wäre ja noch schöner. Die Bischöfe halten Kontakt zu den staatlichen Institutionen, was ganz normal ist. Und die Laien engagieren sich, ohne dass sie dazu einer Anweisung oder Organisation von oben bedürften. In Italien gibt es das Problem eines Klerikalismus unter den Laien, was letztlich bedeutet, dass man seine Verantwortung delegiert. Franziskus will das jetzt abschaffen, allein schon aus Liebe zur Freiheit.

In der Zeitung Republica hat Vito Mancuso direkt auf den Titel Ihres Buches Bezug genommen und geschrieben: „Sind wir sicher, dass die traditionelle katholische Lehre über die Familie mit der dem Papst so teuren Feststellung ‚Der Name Gottes ist Barmherzigkeit‘ übereinstimmt? [...] Ich glaube behaupten zu können, dass Gott nicht die Familie vorgesehen hat, schon gar nicht die, von der im Codex des Kirchenrechts gesprochen wird. Er hat vielmehr an Liebesbeziehungen gedacht […]. Hier kann man Barmherzigkeit nur üben, wenn man sein eigenes Weltbild verändert, oder das Tabu der Lehre bricht. Und das ist die Messlatte für die Wahrheit des Evangeliums, hier zeigt sich, ob der Sabbat mehr wert ist oder der Mensch. Hier entscheidet sich für Papst Franziskus ein Großteil des prophetischen Werts seines Pontifikats.“ In Ihrem Buch sagt der Papst genau das Gegenteil, nämlich dass „die Barmherzigkeit die Lehre ist“, weil „die Barmherzigkeit wahr ist“. Was sagen Sie dazu?
Soweit ich es verstanden habe – und es in den Antworten des Papstes zum Ausdruck kommt –, ist die Barmherzigkeit wahr und deshalb Lehre, und das sind „schlicht“ 2.000 Jahre Kirchengeschichte.

Das hat schon damals zu einer fortwährenden Spannung zwischen den „Gesetzeslehrern“ und Jesus geführt, der den Leprakranken küsste. Ganz offengestanden verstehe ich nicht, wieso das Thema Barmherzigkeit im Gegensatz zur Tradition und Lehre stehen sollte. Ich verstehe nicht, wieso das ein Gegensatz sein soll und kann. Ein interessanter Punkt wären für mich höchstens die Folgen, die die Barmherzigkeit für die Art und Weise der Kommunikation, das heißt für das Antlitz der Kirche hat. Jesus zog die Sünder nicht dadurch an, dass er ihnen sagte, es sei in Ordnung zu sündigen, sondern er umarmte sie, er vergab ihnen. Entscheidend ist, dass die Kirche zu dieser Barmherzigkeit fähig wird. Wenn einem vergeben wird und man umarmt wird, dann macht man die Erfahrung, dass man schwach ist und Liebe braucht. Dazu bedarf es keiner Voraussetzungen: Jesus ging zu den Schlimmsten, er forderte die Zöllner heraus, die später – viel später – die Hälfte ihres Besitzes den Armen gaben. Ich wundere mich immer wieder über Leute, die denken, dieser Papst wolle die Lehre der Kirche umstürzen. Mir scheint, Franziskus will lediglich die Weise ändern, wie die Kirche das bezeugt, was sie seit 2.000 Jahren der Welt zu verkünden hat.

Buchvorstellung in Rom

Was ist Ihnen aus der langen Unterhaltung mit dem Papst besonders im Gedächtnis geblieben? Was haben Sie dadurch gelernt, und inwiefern verändert das auch Ihre Arbeit, bei der der Papst ja Objekt und Inspiration zugleich ist?
Was mich persönlich betrifft, so ist mir das Bild von einem Gott geblieben, der alles in Seiner Möglichkeit Stehende tut, um uns entgegenzugehen, um schon vor uns da zu sein. Er sucht jeden nur denkbaren Weg, er ergreift jeden Strohhalm. In beruflicher Hinsicht haben mich einige Aspekte beeindruckt, die die Feinfühligkeit des Papstes deutlich machen, sein Bewusstsein für die Tatsache, dass auch Worte viel Unheil anrichten können. Als ich ihn beobachtete, kam mir einiges von dem in den Sinn, was der heilige Franz von Sales sagt, der – als großer Journalist – immer wieder zur Synthese und zur Wahrheit aufruft. Auch wenn man schreibt, hat man mit dem Leben der Menschen zu tun. Und für einen Gläubigen, der oft auch über unerfreuliche Dinge im Zusammenhang mit der Kirche und ihrer Mitglieder schreiben muss, heißt das, er sollte versuchen, sich einen Blick zuzulegen, der ihn die Wunden nicht vergessen lässt, die er selber hat. Das heißt, er muss von seinem Sockel heruntersteigen, er soll nicht verurteilen, sondern alles aus einer neuen Perspektive betrachten.

Was erwartet der Papst von den Bewegungen?
Dass sie eine Fähigkeit entwickeln, die er von der ganzen Kirche erwartet: Sich den Aufruf „hinauszugehen“ zu eigen zu machen – nicht nur als Slogan – , damit sie die Leute dort erreichen, wo sie leben. Außerdem bittet er sie, die Selbstbezogenheit in ihrer Sprache hinter sich zu lassen, von Dingen wegzukommen, die nur der Selbstdarstellung oder Selbstbespiegelung dienen, sich gemeinsam mit allen und für alle zu engagieren, ihr Charisma zu bewahren, aber auf alles Drumherum zu verzichten. Selbstbezogen zu sein und sich abzuschotten, ist eine ganz typische Krankheit von Orden und Bewegungen, und der Papst bittet sie, das zu überwinden. Das Charisma ist kein Museum. Das alles gilt aber auch für die Präsenz der Christen überhaupt. Man spricht viel, und auch berechtigterweise, über die Identität Europas. Und genau da legt der Papst den Finger in die Wunde: Wer sind die Christen? Das ist weniger eine intellektuell-kulturelle Frage, sondern es geht um die Authentizität des Lebens.