HEILIGSPRECHUNG VON MUTTER TERESA
Jahrzehntelang hat TERESA VOLPATO leukämiekranke Kinder gepflegt. Dann veränderte eine zufällige Begegnung mit Mutter Teresa ihr Leben von Grund auf. Und sie schloss einen „Vertrag“ mit Gott ..Teresa Volpato schaut aus dem Fenster auf den winterlichen Nebel, der zwischen den Häusern von Cittadella aufsteigt. Wie lange sitzt sie schon so da? Eine Stunde? Vielleicht mehr. Sie weiß es nicht. Sie wirft einen Blick auf den Kalender: Januar 1996. Seit sie aus dem Krankenhaus zurück ist, ist sie nicht mehr fähig, irgendetwas zu tun. Bisher ist sie Ski gelaufen, hat Berge bestiegen, war immer in Bewegung. Als man ihr vor einem Monat, nach 40 Jahren Dienst als Stationsschwester in einer Klinik für leukämiekranke Kinder in Padua, mitgeteilt hatte, dass sie in Pension gehen müsse, hatte sie gedacht: „Okay, mit 60 fängt ein neuer Lebensabschnitt an. Ich werde mehr in die Berge gehen. Und endlich die Gegenden der Welt bereisen, die mir noch fehlen.“ Sie hatte genug davon, Kinder leiden und sterben zu sehen. Aber das Schicksal wollte es anders: Am Tag ihres Abschieds von der Station übergab eine Kollegin ihr einen Umschlag, auf dem nur ihr Name stand: Teresa Volpato. Darin war das Ergebnis des letzten Check-ups. Zerstreut las sie den Befund: Bösartiger Tumor in der Brust. Drei Tage später schon war sie operiert. Dann Chemotherapie und Bestrahlung ...
All das ist erst wenige Tage her, aber Teresa scheint es, als lägen Jahrzehnte dazwischen. Sie nimmt einen Stapel Post vom Tisch. Ein feuerroter Umschlag sticht ihr ins Auge. Sie öffnet ihn: Werbung für eine Reise nach Indien. Dort war sie schon. Andere Länder wären besser. Aber sie greift zum Telefon und ruft an. Ein Platz ist noch frei, sie muss nur einen gültigen Pass haben. Zehn Tage später landet sie in Kalkutta. Am ersten Abend stellt der Reiseleiter das Programm vor: „ Für die, die wollen, ist morgen Früh um 5.30 Uhr Messe mit Mutter Teresa im Kloster der Missionarinnen der Nächstenliebe.“ „Und wer ist diese Mutter Teresa?“, fragt Teresa. Alle schauen sie ziemlich entsetzt an: „Eine Heilige! Sie hat den Friedensnobelpreis bekommen.“ Mit 16 Jahren hatte Teresa entschieden, dass Gott und die Kirche sie nicht interessierten, dass sie mit ihrem Leben nichts zu tun hätten. Dem Reiseleiter sagte sie nur: „Okay. Wir sehen uns dann danach beim Frühstück.“
Am frühen Morgen erwacht sie durch einen eigenartigen Geruch. Die Lampe, die die Mücken vertreiben sollte, hat den Teppichboden angekokelt. Auf dem Flur hört sie die Stimmen ihrer Mitreisenden. Sie machen sich auf zur Messe. Spontan beschließt sie mitzugehen, nur um sich zunächst keine Sorgen über den schwarzen Fleck auf dem Boden machen zu müssen.
„Warum tun die das?“ In der Kirche an der A.J.C. Bose Road steht Teresa ganz hinten an der Wand. Vor ihr ein Meer von Weiß: Schwestern, die aus der ganzen Welt zum Generalkapitel angereist sind. Sie denkt: „Arme Tröpfe. Die haben wirklich keine Ahnung, was es heißt, das Leben zu genießen.“ Die Nachbarin stößt sie an: „Da, das ist Mutter Teresa, die da im Rollstuhl.“ Teresa betrachtet diese unscheinbare Greisin mit dem faltigen Gesicht, vor der die ganze Welt sich verneigt. Ihre Blicke kreuzen sich für den Bruchteil einer Sekunde. Dann macht Mutter Teresa ihr ein Zeichen mit der Hand. Sie soll zu ihr kommen. Teresa geht hin. Mutter Teresa bedeutet ihr durch Gesten, dass sie neben ihr knien dürfe. Die Messe beginnt. Bei der Kommunion ziehen alle Schwestern an Teresa vorbei. Sie schaut sich aufmerksam ihre Gesichter an: Das sind keine Einfaltspinsel. Viele sind jung, einige sehr schön. Der Krebs, das Bergsteigen, die Reisen, all ihre Projekte sind plötzlich ganz weit weg. Sie hat eigentlich nur noch einen Gedanken: Warum tun die das? Und was mache ich hier?
„Warum bringt ihr so große Opfer, gleichsam fast mühelos?“. Und Mutter Teresa antwortet: „Es ist Jesus, für den wir alles tun, wir lieben Jesus".
Am Ende der Messfeier macht Mutter Teresa ihr Zeichen, sie solle ihr folgen. Nach ein paar Minuten kommt eine Schwester hinzu, die ins Italienische übersetzt: „Was willst du die Mutter fragen?“ „Ob ich ein paar Tage bleiben und in ihren Häusern arbeiten kann.“ Dieser Satz ist ihr einfach so herausgerutscht. Sie hatte es sich vorher nicht überlegt. Mutter Teresa antwortet nur: „Welcome“. Und Teresa fragt: „Ab wann?“ „Morgen früh.“ „Gut.“ Im Hotel bombardieren die Mitreisenden sie mit Vorwürfen: „Bist du verrückt! Was willst denn gerade du da?“ Teresa ist das Ganze ziemlich lästig. Aber in ihr brennt immer noch die Frage: Warum tun die das?
Am nächsten Morgen fragt die Schwester, die Teresa im Haus an der Bose Road empfängt: „Wo willst du arbeiten?“ „Entscheidet ihr.“ „ Was kannst du?“ „Nichts.“ Sie will von null anfangen. „Dann arbeite mit den behinderten Kindern. Aber komm erst einmal mit mir.“ Sie nimmt sie mit zu einem Treppenabsatz neben der Kapelle, wo Mutter Teresa jeden der über 200 Freiwilligen einen nach dem anderen segnet. Zu jedem sagt sie: „God bless you.“ Teresa glaubt nicht an diesen Gott, aber sie reiht sich brav in die Schlange ein.
Im Shishu Baavhan (dem Haus für Kinder) füttert Teresa Kranke und schaut sich dabei um: Die Kleinen sitzen in kaputten Wägelchen und Laufställen. „Kann man die nicht reparieren?“, fragt sie eine der Schwestern. „Mach das, wenn du willst!“ „Wo ist sind Nägel, Hammer und so weiter?“ „Da musst du dich selbst drum kümmern.“ Sie besorgt sich alles und fängt mit den Wagen an. Dann lackiert sie die Laufställe und weißelt die Wände, wobei ihr auch andere Freiwillige helfen. Ihren Rückflug hat sie storniert. Auch wenn sie manchmal weglaufen möchte, stellt sie sich doch jeden Morgen wieder an, um von Mutter Teresa zu hören: „God bless you.“
Der Nachmittag ist frei. Die Schwestern laden die Freiwilligen zur Anbetungsstunde ein. Teresa interessiert das nicht, sie will nur praktische Dinge tun. Aber eines Nachmittags bringt eine eigenartige Neugier sie dazu, doch hinzugehen. Sie hört, wie Mutter Teresa zu Beginn sagt: „Mir ist egal, zu welchem Gott ihr betet, aber betet. Kommt zur Messe und zur Anbetung, um zu eurem Herrn zu beten.“ Teresa durchzuckt es: „Diese Frau hat nicht einmal ein Interesse daran, uns ihre Religion weiterzugeben.“ Beim nächsten Mal geht sie auch in die Messe.
KALIGHAT. Nach drei Monaten fliegt sie nach Italien, um die Kontrolluntersuchungen zu machen und die Therapie überprüfen zu lassen, die sie in Indien alleine weitergeführt hat. Der Tumor ist nicht verschwunden. Aber sie hat nicht mehr an ihn gedacht. Genauso wenig wie sie darüber nachgedacht hat, ob es sich noch lohnt weiterzuleben. Sie hat gelebt. Als sie in Padua ankommt, erhält sie die Nachricht: Mutter Teresa ist gestorben. Verwandte und Freunde fragen sie: „Und, was wirst du jetzt tun?“ Trocken antwortet sie: „Ich muss zurück.“ Um der Kranken willen, um der Kinder willen, um alles wiederzusehen. Auch die Schwestern, in denen sie Freundinnen gefunden hat, wie sie nie welche hatte. Eine Frage geht ihr nicht aus dem Kopf: Wer ist dieser Gott, dem sie folgen? Die Antwort, da ist sie sich gewiss, liegt in Kalkutta.
Dieses Mal nimmt sie sich ein kleines Appartement in der Nähe des Mutterhauses. Eines Morgens fragt die Ärztin, die ihre große Freundin ist: „Ist es möglich, dass du mir morgen in der Ambulanz hilfst?“ „Um was zu tun, Sister Andrea?“ „Medikamente ausgeben, Verbände wechseln, alles, was du kannst.“ „Gut.“ Am nächsten Morgen sieht sie, wie Medikamente, Kleidung, Nahrungsmittel auf einen Laster geladen werden. „Ist das die Ambulanz?“, fragt sie. Ohne innezuhalten antwortet ein Freiwilliger: „Ja, das ist sie.“ Nach einer Stunde Fahrt kommen sie in ein Dorf, wo schon eine Schlange von über 500 Leuten auf sie wartet. Die Ärztin sagt zu Teresa: „Geh zu den Stufen vor der Kirche und bau die Ambulanz auf. Sie werden wegen der Medikamente zu dir kommen. Dann gibst du jedem auf einem Stück Alufolie etwas Wundsalbe und Kortisoncreme. Wenn jemand untersucht werden muss, schickst du ihn zu mir.“
Teresa arbeitet durch bis zwei Uhr. Sie ist schnell, präzise. Die Schwester schaut ihr zu und sagt später im Lastwagen: „Du bist gut. Wo hast du das gelernt?“ „In 40 Jahren als Krankenschwester.“ „Ab heute bleibst du bei mir.“ „Gut.“ Sie gehorcht immer. Ihre italienischen Freundinnen würden sie nicht wiedererkennen.
Jeden Tag fahren sie in ein anderes Dorf. Ein paar Wochen später bringt man eine Frau zu ihnen, die Verbrennungen am ganzen Körper hat. Ihr Mann hatte sie angezündet. Teresa tut ihr Möglichstes, aber dann sagt sie entmutigt: „Sie kann nicht hier bleiben, sonst stirbt sie.“ Sister Andrea antwortet: „Wenn wir sie nach Kalighat [in das Haus für die Sterbenden] bringen, kümmerst du dich dann um sie?“ „Ja.“
Teresa ist nun teilweise in Kalighat und teilweise bei den Ambulanzen. Sie macht ihre Sache sehr gut, kennt alle Medikamente, weiß, wie man sie einsetzt. Das merken die Schwestern und bringen ihr jeden Tag neue Kranke. Solange, bis Teresa sich entscheiden muss: Sie bleibt bei den Todgeweihten, obwohl sie niemanden mehr hatte sterben sehen wollen. Nach ein paar Wochen kommt Sister Tall (den Spitznamen hat sie wegen ihrer Körpergröße) zu ihr und sagt: „Bei den kontemplativen Schwestern gibt es ein Zimmer mit Kniebank und ausgesetztem Allerheiligstem. Warum gehst du nicht einmal dahin und machst ein paar Einkehrtage?“ Teresa versteht nicht: „Was? Mit wem? Wie lange?“ „Alleine. Eine Woche nur für dich. Geh hin, bete, sprich mit Jesus. Verlass ihn nie. Wenn du von dort weggehen willst, sag es uns, wir helfen dir.“ „Okay.“ Kein Widerstand, keine Ausreden. Diesmal ist es nicht nur die Neugierde, die sie treibt. Da ist etwas, hinter das sie nicht mehr zurückkann.
VON GOTT GELIEBT. Am ersten Morgen, nach einer Stunde, will sie schon davonlaufen. Sie geht hinaus und kehrt doch wieder zurück. Am Abend, auf dem Weg zu ihrer Wohnung, muss sie sich an jeder Ecke hinsetzen. Sie ist völlig verwirrt. „Wer bist Du?“, fragt sie. Am nächsten Morgen geht sie wieder hin und am darauffolgenden auch. Drei Tage im Gespräch mit Gott. Am Ende bittet sie einen Priester um die Beichte. Sie macht einen neuen Anfang. Ihren Freundinnen in Italien schreibt sie: „Mein Leben ist sehr spannend. Ich habe eine Freude in mir, wie ich sie noch nie gespürt habe. Ich fühle mich geliebt, von Gott.“ Die Schwestern haben nicht nur volles Vertrauen in Teresas Fähigkeiten. Sie sagen ihr auch immer wieder: „Wenn du im Antlitz der Kranken Gott siehst, bleibst du im Gespräch mit Ihm.“ Sie bringen ihr die Kranken, die am schlimmsten aussehen, voller Würmer, mit eitrigen Wunden, deren Blick nur noch fragt: „Kannst du noch etwas für mich tun?“ Aber Teresa hört immer eine andere Frage: „Bist du fähig, Mir zu folgen?“
Sie bleibt in Kalighat. Und richtet an Jesus folgende Bitte: „Meine Trägheit habe ich abgelegt. Lass uns einen ‚Vertrag‘ schließen: Du lässt mich noch zehn Jahre leben und ich gebe Dir mein Bestes.“ 2006 läuft der „Vertrag“ aus und sie erneuert ihre Bitte: „Ich bin noch nicht so weit. Ich brauche noch einmal zehn Jahre.“
Im Februar 2016 sind die um. Teresa kehrt nach Italien zurück wegen schwerwiegender Probleme mit der Lunge. Doch die können behoben werden. In ihrem Haus in Citadella, in dem Wohnzimmer, wo vor 20 Jahren alles begonnen hat, erzählt sie: „Am 17. August werde ich 80 Jahre. Dazu habe ich mir ein Geschenk gemacht: ein Flugticket nach Kalkutta. Der Vertrag mit Gott ist ausgelaufen. Wenn Er will, bin ich bereit. Aber ich gehe wieder nach Kalkutta.“ Das heißt, sie wird zur Heiligsprechung von Mutter Teresa nicht in Rom sein? „Für mich wie für viele andere ist sie schon heilig. Schon von Anfang an, als ich sah, was sie bewirkt hat, habe ich gedacht: Die ist wirklich Gott begegnet. Sonst wäre all das, menschlich gesehen, gar nicht möglich. Das sieht man auch heute noch, wenn man mit den Schwestern zusammen ist.“
DAS ALBUM. Sie holt ein Fotoalbum aus einer Schublade. Teresa ist eine sehr gute Fotografin. Die Fotos zeigen Mutter Teresa, die Schwestern, die Kranken, die Kinder ... Zwanzig Jahre eines Lebens. „Das sind die schönsten. Mir scheint, die 40 Jahre im Krankenhaus haben nur dazu gedient, mich auf die Begegnung mit Jesus vorzubereiten. Er ist mir zum Freund geworden, zum Bruder. Mit Ihm spreche ich, Ihn frage ich um Rat. Und Er antwortet immer. Meine Freundinnen haben am Anfang gedacht, ich hätte den Verstand verloren. Dann haben sie Geld gesammelt, damit eine von ihnen nach Kalkutta fliegen und mich besuchen konnte. Und diese Schwestern sehen.“
Und was ist aus dem Bergsteigen, dem Skifahren, den Reisen geworden, die sie sich vorgenommen hatte? „Ich habe keinen einzigen Berg mehr gesehen. Vor ein paar Tagen habe ich die Freunde aus meiner Jugend getroffen, die alten Kameraden, mit denen ich früher Touren gemacht habe. Wir sind alle alt geworden. Einige haben Angst, wenn sie an den Tod denken. Aber ich habe, nach allem, was ich in Kalkutta gesehen und erlebt habe, ein anderes Bewusstsein von Leben und Tod. Ich habe keine Angst mehr.“ Teresa lächelt, sie scheint glücklich zu sein. Vielleicht ist sie mit Kopf und Herz schon wieder in Kalkutta.