Taizé: Den Menschen zuhören können
Ein Interview mit Frère ALOIS LÖSER, dem Prior der ökumenischen Mönchsgemeinschaft von Taizé – wo Europa mehr ist als ein Wort.In Riga, Litauen, waren es mehr als 15.000 junge Menschen aus ganz Europa. Katholiken, Protestanten und Orthodoxe, aus Ländern von Portugal bis Rumänien, von Frankreich bis Tschechien. Auch aus Russland und der Ukraine. Anlass war das 39. Jahrestreffen der Gemeinschaft von Taizé – eine „sehr europäische“ Angelegenheit – im Dezember 2016.
Entstanden ist die ökumenische Mönchsgemeinschaft in den 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts in einem kleinen französischen Dorf, Taizé, um den Schweizer Protestanten Roger Schutz. Und bis heute hat sie nichts von ihrer Anziehungskraft verloren. Nach der Ermordung von Frère Roger im Jahr 2005 trat Bruder Alois Löser dessen Nachfolge an, ein deutscher Katholik. Und der hat einen geradezu privilegierten Blick auf unseren Kontinent. Denn Taizé ist heute mehr denn je ein Ort, an dem „Europa“ nicht nur ein Wort ist. „Die jungen Leute sind froh, Europäer zu sein“, sagt Frère Alois. „Der Enthusiasmus wie vor 25 Jahren ist allerdings nicht mehr da.“
Was macht die Dinge so schwierig?
Wir müssen die Quelle für diesen ursprünglichen Enthusiasmus wieder finden. Wir müssen uns wieder fragen, warum wir Europa wollen. Es geht nicht nur darum, einen gemeinsamen Wirtschaftsraum zu schaffen; das hat ja auch Opfer gekostet. Die jungen Leute wollen in andere Länder reisen, dort studieren und arbeiten können. Diese Möglichkeit stellt die wichtigste Errungenschaft dar, auf die wir nicht verzichten dürfen. Aber es gibt heute auch eine Art Rückzug in die eigene nationale und kulturelle Identität, der dazu führt, dass man andere mit Skepsis betrachtet.
Was kann solche Barrieren überwinden?
Die persönlichen Kontakte. Wenn man sich begegnet, dann kann das Herz des Menschen sich öffnen und erkennen, dass eine andere Identität auch respektiert und geschätzt werden muss. Dieser Respekt steht aber Europa nicht entgegen.
In welchem Sinne?
Eine der Herausforderungen ist die Einwanderung. Italien und Griechenland werden damit zu sehr allein gelassen. Aber es ist auch nicht immer leicht, größere Solidarität zu üben. In Lettland sagte man mir: „Wir hatten dieses Problem noch nie und sind nicht darauf vorbereitet, wir haben nicht die Mittel dafür.“ Und: „Für uns ist schon das Zusammenleben von Letten und Russischstämmigen schwierig genug.“ Man muss auch die Argumente des anderen hören. Die europäische Solidarität muss die Situation jedes einzelnen Landes berücksichtigen.
Warum sind persönliche Kontakte so wichtig?
Weil sie es erlauben, auf die Bedürfnisse der Völker zu hören. Was heute in Europa fehlt, ist, dass man die Gründe der anderen ernsthaft in Erwägung zieht. Wenn man sich gegenseitig nicht kennt, wird jede Schwierigkeit zu einem unüberbrückbaren Problem. Eine Hinwendung zum persönlichen Dialog könnte uns fähiger machen, wirtschaftliche und politische Lösungen zu finden. In Taizé sehen wir, dass ein vertieftes Zuhören möglich ist.
In welchem Sinne „vertieft“?
Die Jugendlichen beten hier dreimal am Tag zusammen. Und dann kommt das Gemeinschaftsleben: Man kocht zusammen, bedient bei Tisch, putzt gemeinsam. Dies erlaubt es, dass man einander anders zuhört. Letztes Jahr hatten wir Gäste aus Russland und der Ukraine gleichzeitig hier. Da gibt es enorme Spannungen, das war nicht einfach. Aber nachdem sie gemeinsam gebetet hatten, konnten sie sich auch zusammensetzen und miteinander sprechen.
Welchen Beitrag können die Jugendlichen, die zu Ihnen kommen, für die heutige Gesellschaft leisten?
Bei uns lernen sie, dass man sich nicht im Namen des Evangeliums hinter seinen eigenen nationalen oder konfessionellen Grenzen verschanzen darf. Ich glaube, wenn die Jugendlichen das Vertrauen in Gott wieder finden, wird bei ihnen auch eine Sensibilität für andere geweckt. Wir sind keine Bewegung. Wir fordern die Jugendlichen auf, in ihre örtlichen Kirchen zurückzukehren und sich in ihren jeweiligen Ländern zu engagieren. Sie arbeiten dann auch bei zahlreichen Aktionen für die Gemeinschaft mit, nicht zuletzt für Flüchtlinge. Sie helfen in materieller Hinsicht, aber nicht nur: Man muss den Menschen auch zuhören können. Unsere Mönchsgemeinschaft betet für diese Jugendlichen und bittet den Heiligen Geist, er möge sie bewegen, aktiv zu werden. Und wir sehen ja heute, dass es in der Zivilgesellschaft immer mehr Initiativen von der Basis her gibt. Das ist ein Zeichen der Hoffnung.
Papst Franziskus sagt, dass wir „nicht so sehr eine Zeit des Wandels“ erleben, „sondern vielmehr einen Zeitenwandel“. Was bedeutet das Ihrer Ansicht nach?
Wir haben noch nie eine Zeit so großer Umwälzungen erlebt. Zum Beispiel besteht in unseren europäischen Ländern kein Konsens mehr über die gemeinsamen Werte. Darauf haben wir Christen keine einfachen Antworten. Wir sind dazu gerufen, uns immer tiefer im Evangelium zu verwurzeln und einen immer persönlicheren Glauben zu entwickeln. Glauben bedeutet nicht nur, der Tradition unser Eltern zu folgen, es muss immer mehr zu einer persönlichen Überzeugung werden.
Wie ist das möglich?
Die Jugendlichen suchen das. In Riga ging es letztlich um die Frage: Gibt es etwas, worin ich mein Leben verwurzeln kann? Dies kann nur das Vertrauen in Christus sein. Wir sind heute dazu aufgerufen, den Jugendlichen die grundlegenden Wahrheiten unseres Glaubens zu verkündigen. Der Papst nennt das Kerygma. Dies ist keine Botschaft, die der Vergangenheit angehört, ganz im Gegenteil. Vor ein paar Tagen hat mich ein junger Mann aus Frankreich gefragt, was die Trinität sei. Ich fragte zurück, warum er das wissen wolle. Seine Antwort war: „Die Muslime fragen mich das.“ Die jungen Leute wollen zum Wesentlichen im Glauben zurückkehren, zu dem, was ein existentielles Gottvertrauen möglich macht. Und wir können ihnen Instrumente in die Hand geben, mit denen sie sich in der Gesellschaft einbringen können, ohne Angst und ohne sich auf ihre nationale oder konfessionelle Identität zurückzuziehen.