Die größere Gewissheit - Zeugnis aus Sizilien

Enzo ist Polizist in Agrigent. Er und seine Frau Alida haben zwei Söhne, die eine seltene Krankheit haben. Ihr Weg ist von selbstloser Liebe aber auch Überraschungen gekennzeichnet, seit sie dem Gott begegnet sind, „der Augen, Hände und Arme hat“...
Alessandra Stoppa

Enzo Roccaforte, Jahrgang 1973, Sizilianer, ist verheiratet und Polizist. Seine Frau Alida und er gehen dankbar einen Weg, wenn auch oft unter Mühen. Und sie erleben häufig Überraschungen. In jungen Jahren hatte er seinen zehn Jahre älteren Bruder bewundert, der mit dem Streifenwagen durch Agrigent sauste. Und dachte, das sei ein Leben, bei dem man stolz sein könne. So kam er in eine Welt, in der man glaubt, „Böse fangen zu können wie eine Trophäe“. Doch mit der Zeit hat sich ihm ein anderer Horizont eröffnet, „dank einiger Leute oder Augenblicke mit Leuten“, wie er zu sagen pflegt.

Zum Beispiel Sebastiano. Er ist schon mehrfach vorbestraft, als sie ihn festnehmen, weil er gerade versucht, in einen Laden einzubrechen. Frühmorgens bringen sie ihn ins Polizeipräsidium. Dann zieht Enzo los, um Kaffee und Croissants zu besorgen: für die Kollegen, für den Kommissar, und für Sebastiano. „Auch für den Verbrecher?“, fragen die anderen. „Was macht das für einen Unterschied?“, erwidert Enzo. „Nach dieser Nacht hat er genauso ein Frühstück verdient wie wir.“ Es folgt ein Schnellverfahren, bei dem Sebastiano zu Hausarrest verurteilt wird. 10 Tage später ist Enzo mit einem Kollegen dran, bei ihm zuhause zu kontrollieren. Sebastiano steht schon wartend auf dem Balkon, erkennt ihn sofort und ruft seiner Frau zu: „Schau, das ist der, der mich verhaftet hat.“ Und sie sagt: „Ah, guten Tag. Danke.“ Die beiden Polizisten schauen sich ungläubig an. Als sie im Haus sind, erklärt Sebastiano: „Ich bin noch nie so behandelt worden. Danke.“ Enzo denkt nicht nur: Okay, schön. Sondern ihm wird klar, was das Ganze für eine Ursache hat. „Es war auch für mich neu, in allen Dingen das Geheimnis zu ahnen und meine Arbeit zu leben als eine Chance zur Begegnung, für mich und für die anderen.“

Ein anderes Mal bringt die Streife drei Minderjährige aus einem Heim in Enzos Büro. Sie hatten einen Gleichaltrigen verprügelt und ausgeraubt. Enzo spricht mit dem Anstifter der drei, und der erzählt ihm ein wenig aus seinem Leben. Irgendwann sagt er: „Du bist anders als die anderen.“ „Wie bitte?“ „Du bist anders als die anderen.“ Enzo antwortet: „Ich bin Christ.“

Samuele und seine Freunde

Schließlich kommen die Sozialarbeiter, um die Jugendlichen zu übernehmen. Bevor sie rausgehen, fragt der Anstifter leise: „Darf ich dich umarmen?“ Enzo schaut ihn an, als wolle er sagen: Warum nicht? Und der Junge umarmt ihn ganz fest. „Er hat mich nicht losgelassen, bis ich ihn nicht auch gedrückt hatte“, berichtet Enzo. „Er umarmte mich wie ein Sohn. Und ich fühlte mich ihm in diesem Moment sehr verbunden.“

Heute ist ihm klar: „Alles, was mir passiert ist im Leben, hat mich zu dem gemacht, der ich bin. Ein armer Tropf, aber glücklich, weil ich geliebt bin.“ An Prüfungen hat es ihm nie gefehlt. Als Enzo geboren wurde, trug seine Mutter Schwarz, weil kurz zuvor ihre älteste Tochter gestorben war, mit 15 Jahren. Enzo wurde mit dem Schmerz der Mutter groß. Dann starben beide Eltern, als er noch auf der Schule für Vermessungswesen war. In dieser Zeit begegnete er durch seinen Religionslehrer der Bewegung Comunione e Liberazione. „Diese Begegnung hat mein Leben verändert“, erklärt er.

„Die Freundschaft mit den Kindern Don Giussanis hat uns überall hin begleitet.“ So sagt es Alida, Enzos Frau. 1999 wird ihr erster Sohn, Andrea, geboren, mit einer Missbildung am Herzen. Er muss sofort ins Krankenhaus nach Catania. Aber leider lebt er nur wenige Wochen. In Catania werden sie zunächst von einer Familie der Bewegung aufgenommen, die sie gar nicht kannten. „Sie haben uns die Schlüssel ihres Hauses in die Hand gedrückt. Obwohl wir völlig Unbekannte für sie waren“, erzählt Alida. „Eine so ungeschuldete Liebe hatte ich noch nie erlebt, dass jemand eine so gute Meinung von uns hat. Gott verlässt einen nicht. Er hat Augen, Arme, Hände … So war es in jeder Stadt, in die wir kamen.“ Anderthalb Jahre später nämlich wird Samuele geboren. Sein Herz funktioniert gut, aber als er vier Monate alt ist, wird ein sehr seltener Gendefekt bei ihm festgestellt. Wieder beginnt eine Odyssee von Krankenhaus zu Krankenhaus: Agrigent, Genua, Padua, Lecco, wieder Agrigent. Heute ist Samuele aufgrund seines schweren psychomotorischen Rückstands in allem von anderen abhängig. Die Nacht ist für ihn wie der Tag. Enzo und Alida schlafen, wann sie können, wenn sie können. Zwischen Arbeit und Familie bleibt kaum eine Atempause. Und mit Samuele kann man nichts planen.

„Anfangs habe ich mich aufgeregt“, sagt Alida, „aber mit der Zeit habe ich gelernt, dass das, was tatsächlich geschieht, meist besser ist als das, was ich mir vorgestellt hatte.“ Ihr Herz ist einfach geworden durch all die konkreten, immer neuen Bedürfnisse. „Ich brauche immer irgendwie Hilfe“, sagt sie lächelnd, „insbesondere hier in Agrigent, wo es wenig Unterstützung gibt für Familien wie uns. Manchmal ist es wirklich sehr mühsam, manchmal mache ich mir Sorgen.“ Aber wie das Leben von Samuele eine unaufhörliche Bitte ist, dass man etwas für ihn tut, so wird es auch das ihre. „Das ist ein ständiger Dialog mit Gott. Ich bitte ihn um alles. Ich lebe den ganzen Tag in dieser Beziehung. Er ist wirklich eine Gegenwart.“ Von dem Augenblick an, wo sie morgens ins Auto steigt und den ersten Gang einlegt, vertraut sie ihren Tag einem anderen an und betet darum, „dass ich auch heute etwas Gutes lerne“. Und so geht es jeden Augenblick, bis zum Abend. Und die Nacht hindurch und den ganzen nächsten Tag. Alida versucht die großen Dinge zu leben, indem sie die Kleinen aufopfert, die Therapien, die Samuele jeden Tag braucht, das Einkaufen, die Müdigkeit, die Traurigkeit. „Was uns hilft, ist das Gebet und die Erziehung, die wir erhalten durch die Begegnung, die wir gemacht haben. Die Begegnung mit einer neuen Menschlichkeit, die ich inzwischen auch bei Fremden entdecke. Ich halte immer danach Ausschau.“

Simones Taufe in der Kirche San Gregorio in Agrigent, 2012.

Das Abendessen. Für Enzo ist die größere Gewissheit ganz plötzlich entstanden. Eines Tages erhielt er bei der Arbeit einen Anruf aus dem Krankenhaus: Man sagte ihm, Samuele würde aufgrund einer degenerativen Netzhauterkrankung vollständig erblinden. „Ich war am Boden zerstört.“ Abends war die ganze Familie zum Abendessen eingeladen bei Freunden, die sie erst kurz kannten. Mit dem Schmerz über diese Nachricht im Herzen schaute Enzo den Kinder zu. Und stellte fest: „Sie waren so froh mit Samuele. Und es ist nicht einfach mit ihm, schon allein deswegen, weil er in geschlossenen Räumen verrückt wird … Trotzdem waren sie ganz unbeschwert und glücklich miteinander.“ Enzo ging eine Frage aus dem Seminar der Gemeinschaft durch den Kopf: Was fehlt dir? „Da war mir plötzlich klar: Mir fehlt nichts. Wenn ich das hier sehe, kann ich nur sagen: ‚Das bist Du, Christus.‘ Es war nichts Besonderes passiert. Das Einfachste von der Welt … Aber ich konnte zu Christus sagen: ‚Du bist hier. Und ich danke dir für alles.‘ Bei einem ganz normalen Abendessen wurde mir die Umarmung durch den Herrn zur Gewissheit und sie erfüllte mich. Zum ersten Mal begann ich, mein Leben mit Zuneigung zu betrachten.“ Die Gewissheit hielt natürlich nicht lange an. „Die Beklemmung, die Ängste, die Tränen kamen wieder. Aber für mich begann ein Weg. Ab diesem Abend hatte ich Sehnsucht nach der Erfüllung, die ich dort erlebt hatte.“

Leute oder Augenblicke mit Leuten. Alfonso ist einer von Enzos Kollegen. „Er flucht wie ein Weltmeister.“ Sie freunden sich an und Enzo lädt Alfonso zu den Ferien der Gemeinschaft von CL ein. Beim Abendessen im Hotel ist laut, es dauert ewig, bis das Essen kommt. Das Chaos nimmt zu und Samuele wird immer unruhiger. Er wirft sich auf den Boden und schreit. Enzo geht mit ihm aufs Zimmer. Er ist hungrig und erschöpft. „Ich dachte: Kann es sein, dass niemand das merkt? Dass niemand einen Finger rührt, um das Ganze menschlich zu gestalten? Ich hätte sie alle auf den Mond schießen können. Irgendwann klopft es an der Tür. Es ist Alfonso mit seiner neugeborenen Tochter auf dem Arm. ‚Mein Freund‘, sagt er, ‚ich weiß nicht, was ich für dich tun kann, aber ich will dich nicht allein lassen.‘ Ich antwortete: ‚Mach dir keinen Kopf, geh ruhig wieder runter, deine Frau wartet auf dich.‘ ‚Nein, ich bleibe bei dir, wir essen später.‘ Da hatte ich plötzlich Christus vor mir, in Fleisch und Blut. Und war nur noch froh und dankbar über diese Ferien und die ganze Gemeinschaft.“

Nach und nach lernt Enzo, was wahre Freundschaft ohne Ansprüche ist. „Heute erlebe ich etwas, das mir früher nie passiert ist: Ich denke an jemanden, und allein die Tatsache, dass ich an ihn denke, führt dazu, dass ich bete und mir die Augen aufgehen. Jemand, den ich vielleicht nur ganz selten sehe. Trotzdem gelange ich durch ihn zu Christus.“ Das verändert auch die Art, wie er seine engsten Freunde sieht: „Sie sind das Teuerste was ich habe, einfach, weil sie da sind, und nicht weil sie so sind, wie ich sie haben will.“



Jahrelang hatten Alida und Enzo Angst, noch weitere Kinder zu bekommen. Nach den Erkenntnissen der Wissenschaft war die Wahrscheinlichkeit, dass ein weiteres Kind auch die Krankheit hätte, eins zu vier. Daher hatten sie eindeutig entschieden: Es reicht. Doch irgendwann veränderte sich ihre Haltung, sie waren selbst überrascht. Es war das Ergebnis eines Weges, ohne große Erklärungen, einfach angenommen und gelebt. Irgendwann wurde ihnen klar, dass sie sich noch ein Kind wünschten. Als sie feststellen, dass Alida wieder schwanger ist, wirft ein Freund so hin: „Diesmal schuldet Gott euch aber ein gesundes …“ Für die beiden ist das eine echte Herausforderung. „Da wurde uns bewusst, dass wir nicht Lotto spielen. Wir wollten das Kind so, wie Gott es uns schenkt.“

„Bist du froh?“ Simone ist heute fünf Jahre alt. Er hat dieselbe Krankheit wie sein Bruder. Allen Voraussagen der Mediziner zum Trotz hat er aber keinen kognitiven Rückstand. Der Arzt, der seinen Eltern vorgeworfen hatte, dass sie nicht abgetrieben hatten, ist sprachlos. Simones Sehvermögen ist eingeschränkt, aber er sieht genug, um rennen zu können. Und er ist immer glücklich. Ganz unvermittelt fragt er einen: „Bist du froh?“ Und wenn man mit Ja antwortet, fragt er: „Warum?“ Oder: „Warum machst du dann so ein Gesicht?“ „Dadurch habe auch ich gelernt, meiner Frau diese Frage zu stellen“, erklärt Enzo. „Ich frage sie, ob sie froh ist, wenn meine eigene Sicht vernebelt ist. Sie hat immer einen so schönen Blick auf alles. Sie weist mich dann gleich auf etwas Schönes hin, das ihr aufgefallen ist und mir nicht.“



Und Samuele wird groß. Inzwischen ist er 16 Jahre alt. „Er ist der frömmste Mensch, den ich kenne“, sagt der Vater. Er will immer in die Messe gehen. Die Kirche ist der einzige geschlossene Raum, in dem er es aushält. Bis zur Kommunion ist er unruhig, dann beruhigt er sich. Er will immer Musik hören, aber nur Lieder, in denen der Name einer Person vorkommt, die er gerne hat. „Sobald er den Namen hört, ist er anders“, sagt Enzo. „Wenn er vorher traurig war, ändert sich seine Stimmung schlagartig. Wenn er auf dem Boden lag, steht er auf, beginnt zu lachen, zu rufen. Ich möchte auch so sein können wie er. Er zeigt mir, was Freiheit ist: ein Mensch, der sich an denjenigen erinnert, den er liebt, und wieder aufsteht. Alles blüht wieder auf.“