Gerogi Welikanow

Würden wir für einen „unnützen Menschen“ unser Leben geben?

Moskau: Christus im Mittelpunkt des Alltags - Die Geschichte von Georgi Welikanow, einem 35-jähriger Mann, der von einem Zug überfahren wurde. Eine Nachricht wie viele andere, die wir normalerweise kaum zur Kenntnis nehmen würden....
Afyan Artemii und Thiry Jean François

Am 25. Januar 2018 starb am Stadtrand von Moskau ein 35-jähriger Mann. Er wurde von einem Zug überfahren. Eine Nachricht wie viele andere, die wir normalerweise kaum zur Kenntnis nehmen würden. Wenn die Umstände dieses Todes nicht ebenso beeindruckend wie tragisch wären.
An jenem Tag gegen 21 Uhr kam Georgi Welikanow zum Bahnhof. Georgi war ein sehr aktives Mitglied der Pfarrei vom Barmherzigen Erlöser am Stadtrand von Moskau. Er bereitete sich gerade auf die Diakonweihe vor. Als er auf den Bahnsteig kam, sah er einen sichtlich betrunkenen Landstreicher, der gefährlich taumelnd über die Schienen lief, ohne zu merken, wo er war. In wenigen Minuten sollte ein Hochgeschwindigkeitszug eintreffen. Georgi reagierte sofort: Er sprang auf die Gleise und versuchte den Mann zu überzeugen, mit ihm auf den Bahnsteig zu klettern. Vergeblich. Der Mann wehrte sich. Später, als er bei der Polizei vernommen wurde, erklärte er, er sei völlig durcheinander gewesen und habe nicht verstanden, was los war. Dann kam der Zug. Georgi gestikulierte wild mit den Armen, um den Zugführer auf sie aufmerksam zu machen. Ein verzweifelter Versuch, den Zug zum Halten zu bringen. Aber es war zu spät. Obwohl der Zugführer eine Notbremsung einleitete, reichte es nicht. Georgi drückte den Landstreicher unter die Bahnsteigkante, wo eine Einbuchtung war, und schirmte ihn mit seinem Körper ab. Der Mann berichtete den Ermittlern später, er sei wieder in die Realität zurückgekommen, als der Körper von Georgi durch den Zug auf ihn geschleudert wurde. Er bleibt unverletzt. Aber Georgi war auf der Stelle tot. Er hatte keine Sekunde gezögert, sein Leben einzusetzen, um einen „hoffnungslosen“ Menschen zu retten, den viele nur als eine Last für die Gesellschaft betrachten würden.

Eingang der Orthodoxen Sankt-Tiichon-Universität

Diese Geschichte machte in den Massenmedien und sozialen Netzwerken sofort die Runde. Und es ist zu hoffen, dass sie nicht so schnell wieder aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwindet. Was sie wirklich bedeutet, werden wir erst mit der Zeit verstehen, aber ein paar Aspekte sind schon jetzt deutlich. In einem Brief an einen Freund schrieb Georgi 2011: „Als Gott mich schuf, noch bevor ich im Mutterleib empfangen wurde, wird er meine Seele gefragt haben: ‚Bist du bereit, diesen Weg zu gehen? Willst du diesen Weg?‘ Und ich werde ja gesagt haben. Die Theologen sagen vielleicht, das sei eine Häresie, aber ich glaube, unsere Seele kennt den Weg, der vor ihr liegt. Unsere Aufgabe besteht darin, ihn zu erkennen und ihn als ein Geschenk aus den Händen Gottes anzunehmen. Dann ist er nicht mehr nur ein Kreuz, sondern wird er auch zur Freude. Er ist ein Kreuz, weil man auf dem Weg der Berufung mit der Welt, dem Fleisch und dem Teufel kämpfen muss. Aber er ist eine Freude, weil man auf diesem Weg – und keinem anderen – die Gemeinschaft mit Gott erlangt.“

Aus diesen Worten wird deutlich, dass Georgis mutige Tat nicht in erster Linie die Heldentat eines Einzelnen war. Sie war auch Frucht eines in der Gemeinschaft der Kirche erworbenen Bewusstseins, das in jenem Augenblick zu einem Handeln führte, das nicht nur aus ihm selbst erwachsen war.

Wer ist mein Nächster?
Georgis Tat hat in Russland viele beeindruckt. Sogar der Moskauer Patriarch Kyrill hat Georgis Frau und seinen Eltern geschrieben: „Ohne lange darüber nachzudenken, ist Georgi hingesprungen, um einen völlig Fremden zu retten, der auf die Gleise gefallen war. Er hat sein Leben hingegeben, um seinen Nächsten zu retten. Möge Gott ihn für diese Tat belohnen, weil er damit Christi Gebot erfüllt hat: ‚Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt‘ (Joh, 15,13).“ Das scheint ein Widerspruch zu sein, weil Georgi sein Leben ja nicht für einen „Freund“, sondern für einen völlig Fremden hingegeben hat. Es sei denn, dieser arme Mann wäre für ihn wie ein lieber Freund gewesen. In einem anderen Brief schrieb er: „Ich bin ein merkwürdiger Mensch, unnütz für die Welt, aber wenn ich Menschen besuche, die so nutzlos oder überflüssig sind wie ich, dann wird mir Frieden geschenkt.“

Georgi war von Kind auf im Glauben erzogen worden, in der Pfarrei der Heiligen Cosmas und Damian, die das Vermächtnis von Pater Alexander Men aufgenommen hat. Seine Eltern hatten für ihn eine glänzende Ausbildung vorgesehen  und wollten ihn an die Sorbonne in Paris schicken. Aber das entsprach gar nicht Georgis Vorstellungen. Am Ende floh er von zu Hause und fand für ein paar Wochen bei Freunden Unterschlupf, bis sich die Familie dieses Projekt aus dem Kopf geschlagen hatte. Sein persönlicher Wunsch war ein anderer: der Dienst an den Armen. Nachdem er sich an der Orthodoxen Sankt-Tichon-Universität eingeschrieben hatte, nahm er eine Beschäftigung in der Abteilung des Patriarchats für die karitativen Werke auf. Dort hatte er gleich mehrere Aufgaben: Als Ehrenamtlicher war er im Krankenhaus in einer Abteilung für Geisteskranke tätig; außerdem war er verantwortlich für die Sammlung von Hilfsgütern für Obdachlose und zeitweise auch Pressesprecher.

Georgi Welikanow

Pater Werenfried van Straaten, der Gründer des Hilfswerks „Kirche in Not“, sammelte nach dem Zweiten Weltkrieg in Holland Geld und Nahrungsmittel für deutsche Familien. Für die Feinde von gestern, die ganz Europa zerstört hatten. Für viele war das inakzeptabel; sie konnten die Deutschen nicht als Mitmenschen betrachten. So sehen wir auch oft Obdachlose und Penner. Wir meinen, sie hätten durch eigene Schuld ihr menschliches Antlitz verloren. Wir lesen ohne innere Beteiligung Nachrichten, die von Übergriffen oder sogar Mord an solchen Menschen berichten. Allenfalls geben wir ihnen ein bisschen Geld, im Grunde vor allem, um unser Gewissen zu beruhigen. Aber es würde uns sicher nie in den Sinn kommen, sie zum Beispiel zum Tee einzuladen! Männer wie Pater Werenfried oder Georgi dagegen bezeugen uns, dass jeder Mensch – unabhängig von seinem gesellschaftlichen Rang – eine Würde und einen unschätzbaren Wert besitzt.

In jedem von uns stecken tief verwurzelte Vorurteile, Mauern, die wir jeden Tag neu errichten, nicht nur in der Gesellschaft im allgemeinen, sondern auch innerhalb der Kirche. So trennen wir das alltägliche Leben von unserem Glauben. Aber wenn ein Mensch durch sein Leben die Worte des Evangeliums wieder Fleisch werden lässt, dann bricht diese Trennung zusammen, die Mauern beginnen zu schwanken und Christus wird wieder zum Mittelpunkt des ganz normalen Lebens. Das ist die Methode der Kirche, die jedem Zeitalter Heilige schenkt, die den „Zeichen der Zeit“ entsprechen. Das ist die Methode Gottes, der nicht in die Welt gekommen ist, um eine Philosophie zu vermitteln, sondern um sein Leben hinzugeben.

Bischof Panteleimon, der als Leiter der Patriarchats-Abteilung für die karitativen Werke Georgi sehr gut kannte, meint: „Taten wie die von Georgi können die zwischenmenschlichen Beziehungen verändern. Er hat nach dem Evangelium gehandelt. Er hat seinem Nächsten geholfen, egal aus welchem Land der kommt,  wie seine wirtschaftliche Lage ist, wie er aussieht oder wie alt er ist. Unser Nächster ist jeder, der in unserer Nähe ist.“



Die Türen zur Ewigkeit
So angeschaut und sogar dem Leben zurückgegeben, hat der „Penner“ aufgehört, ein solcher zu sein. Wie Pater Grigori Geronimus, der junge Pfarrer von Georgi, erzählt, kam der Mann in die Pfarrei und sagte, er heiße Michail. Dann berichtete er die Fakten, so weit er sich an sie erinnern konnte. Er war einverstanden, sich der Polizei zu stellen und bei den Ermittlungen mitzuwirken. Ferner äußerte er den Wunsch, neu anzufangen und sich therapieren zu lassen.

Georgi war ein paar Tage zuvor aus Kasan zurückgekehrt, wo er einen Freund besucht hatte, dessen junge Frau gerade bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. In einer Email schrieb er: „Ich bin vor ein paar Tagen von der Beerdigung zurückgekommen ... Was für ein absurder, grausamer Tod ... Heute Nacht konnte ich nicht schlafen und dachte ständig darüber nach. Still bat ich Gott um eine Antwort. Und plötzlich, wie es manchmal geschieht, erschloss sich mir etwas, was man mit dem Verstand nicht begreifen kann, was aber für das Herz klar ist. Ich hatte irgendwie die Intuition, dass Gottes Plan das ganze Leben umarmt: das Leben von Elmira, die gestorben ist, und das Leben derjenigen, die sie zurückgelassen hat. Alle Ereignisse, selbst die tragischen und solche, die eindeutig vom Bösen hervorgerufen werden, sind in das Gewebe der Vorsehung verflochten, das in jedem Augenblick weitergewebt wird. Plötzlich wurden mir die Worte des Evangeliums ganz klar: „Bei euch sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt.“ ... Mein Gott, ich hätte niemals den Mut gehabt, so über diese schrecklichen Dinge zu sprechen, wenn ich diesen Verlust nicht persönlich erlebt hätte, indem ich meinem Freund beistand. Es wurde mir klar, dass Elmira, die starke und fröhliche junge Frau, die ich kannte, uns einen Weg gebahnt hatte. Sie hat auch mir, nicht nur Sergei, die Türen zur Ewigkeit geöffnet. Sie ist dorthin gegangen, wohin wir auch gehen müssen. Und jetzt weiß ich: Wenn die Zeit für mich kommen wird, dorthin zu gehen, werde ich dort schon erwartet ...“

© La nuova Europa – 5.2.2018