Die „Caritativa“: eine grundlegende Dimension des Lebens

Tina erzählt von den Schülern von Don Giussani, die vor 60 Jahren in die armen Dörfer im Süden von Mailand gingen, um dort sich in die Nächstenliebe zu üben: Das ist die „Caritativa“.
Paola Bergamini

Vor 60 Jahren gingen die ersten Schüler von Don Giussani in die „Bassa“, die armen Dörfer im Süden von Mailand, um dort „Caritativa“ zu machen, also sich in Nächstenliebe zu üben. Sie spielten mit den Kindern, halfen den Jugendlichen bei den Hausaufgaben ... auch Tina Tuzzi. Sie erinnert sich voll Dankbarkeit daran, wie diese Freunde ihr Leben verändert haben.
Tina steht mitten im Raum, in der Hand einen Besen. Sie fröstelt. Mit einem dumpfen Schlag schließt sie das Fenster. Draußen ist dichter Nebel. Die Umrisse des Hauses auf der anderen Seite des Hofes sind kaum zu erkennen. Soweit das Auge reicht, hat der Raureif die Felder um das kleine Dorf Buccinasco Castello im Süden von Mailand in ein weißes Meer verwandelt. Kaum vorstellbar, dass man bei klarer Sicht von hier aus die Muttergottesstatue auf der Spitze des Mailänder Domes sehen kann.

Missmutig kehrt die junge Frau den Boden. Dann muss sie Betten machen, Mittagessen kochen … Alles Dinge, die sie überhaupt nicht mag. Sie ist 18 Jahre alt, liest gern, war auch eine gute Schülerin. Aber als sie in der 5. Klasse war, starb ihre Mutter. Und der Vater bestimmte: „Es braucht eine Frau im Haus. Du bleibst von nun an daheim.“ Dabei wäre sie so gerne aufs Gymnasium gegangen. Doch der Vater blieb hart. Die drei älteren Geschwister arbeiteten schon; Piero, der jüngste, war noch klein und brauchte Betreuung. Also musste Tina ran. Sie macht ein Kreuzzeichen, wie sie es bei ihrer Mama gelernt hat, und beginnt mit der Arbeit. Dabei sinniert sie: „Soll das das ganze Leben sein? Ob ich es nachher wenigstens schaffe, kurz bei Don Stefano im Pfarrheim vorbeizuschauen?“

Doch dann ist es Don Stefano, der gegen Abend bei den Tuzzis anklopft. Der junge Pfarrer weiß genau, dass Tinas Vater ein eiserner Kommunist ist. Sie hatten schon so manche „politische“ Diskussion miteinander. Aber jetzt hat er einen wichtigen Vorschlag für Tina. „Hör mal, nächsten Sonntag treffen wir eine Gruppe von Jugendlichen aus Mailand, die dann jede Woche zu uns kommen werden. Ich habe es auch schon deinen anderen Freunden aus der Pfarrei gesagt. Bist du dabei?“ Tina zögert keinen Augenblick. Sie vertraut Don Stefano, er ist wie ein Vater für sie. „Ja, ich komme. Wie alt sind die denn?“ „Es sind Studenten und Schüler der Oberschule. Sie nennen es Caritativa. Ich kenne den Priester, der sie betreut, Don Giussani. Ich bin mir sicher, dass das etwas Gutes ist für uns. Es ist der richtige Weg.“

Ende 1957, Anfang 1958 waren die ersten Schüler von Don Giussani in die „Bassa“ gegangen, die ärmliche Gegend im Süden von Mailand. Sie sprachen sich mit den jeweiligen Pfarrern ab und spielten entweder mit den Kindern oder gaben Nachhilfe oder Katechismus-Unterricht. Damit begannen die sogenannten „Caritativa“, eines der wichtigsten Instrumente der Glaubenserziehung in der Bewegung Comunione e Liberazione. Um es mit den Worten Don Giussanis zu sagen: „Wenn wir Menschen sehen, denen es schlecht geht, dann drängt es uns, ihnen zu helfen. Dieses Bedürfnis ist so ursprünglich, dass es in uns wirkt, bevor wir uns dessen bewusst werden. Zu Recht wird es als ein Grundgesetz des Lebens bezeichnet. So über wir die ‚Caritativa‘, um diesem Bedürfnis zu entsprechen.“



Jeden Sonntag trafen sich die Schüler und Studenten aus Mailand zunächst im Pfarrheim von Romano Banco, in der Nähe von Buccinasco. Von dort machten sich die einen auf in Richtung Via Marsala. Dort hatte man in Zeiten des Baubooms riesige Mietblöcke hochgezogen, in denen viele junge Familien mit Migrationshintergrund wohnten. Andere fuhren mit dem Auto nach Gudo Gambaredo, ein winziges Dorf weiter südlich, umgeben von Feldern. Erst sprach man ein Gebet, dann spielten sie mit den Kindern, zum Abschluss wieder ein Gebet.

Tina begegnete den jungen Leuten von CL ein paar Jahre später, 1966. Und dieser „richtige Weg“, wie ihn Don Stefano nannte, hat ihr Leben verändert – bis heute. „Je nachdem, was zu Hause an Arbeit anstand“, erzählt Tina, „ging ich zu dem einen oder dem anderen. Am meisten liebte ich die Spiele. Da waren Mädchen und Jungs zusammen. Schon das war etwas ganz Neues.“ Jeden Sonntag kamen mehr Kinder hinzu. Aber nicht die Spiele waren es letztendlich, die Tina und ihre Freunde aus der Pfarrei faszinierten. „Ich fühlte mich so angenommen, wie ich war.“ Ihre Stimme stockt etwas, als sie sich nach 50 Jahren daran erinnert. „Bis dahin hatte mich nie jemand so behandelt wie diese jungen Leute. Und ich dachte mir: ‚Ich will so werden wie die.‘ Das war wirklich etwas Gutes für mich.“



Die jungen Leute wurden ihr immer vertrauter. Manche, wie Sarina, auch ganz besonders. Mit der Zeit kamen „die aus Mailand“ auch zu Tina nach Hause, so dass Vater Tuzzi sie irgendwann anwies: „Deck auch für die.“ Eines Tages beobachtet Sarina, wie Tina den Fußboden schrubbt. Sie ruft aus: „Don Gius sagt immer, wir sollen uns die Nonne zum Vorbild nehmen, die sich das Paradies verdiente, indem sie Zwiebeln schnitt.“ Für Tina bedeutet das eine Wende um 180 Grad. Plötzlich sieht sie diese „verflixten“ Hausarbeiten völlig anders. „Ich sagte mir: Ich kann mir das Paradies verdienen, indem ich den Abwasch mache! Da fing ich an, alles mit Liebe zu tun. Von denen, die nicht einmal fähig waren, Teller zu spülen, habe ich gelernt, wie man die Arbeit einer Hausfrau gut macht.“

Don Stefano ist immer dabei. Er erzählt ihnen von Don Giussani, mit dem er ab und zu in der Trattoria „Cecchino“ im Zentrum von Buccinasco zu Mittag ist. „Er hat eine neue Art, das Christentum zu leben. Das möchte ich auch für euch“, sagt er seinen Jugendlichen. Und die sehen sie auch bei ihren neuen Freunden aus Mailand. „Früher in der Pfarrei waren die Gruppen immer säuberlich getrennt nach Mädchen und Jungen. Unser einziges Ziel war, möglichst viel Blödsinn zu machen. Aber mit denen von CL war das ganz anders! Das Leben explodierte.“



Im Sommer gab es einen weiteren Vorschlag: Ferien in den Bergen, in Germasino. Der Vater von Tina gab sofort sein Einverständnis. „Wenn er auch bei seinen ‚roten‘ Vorurteilen blieb, merkte er doch, dass ich mich verändert hatte, und vertraute mir.“ Auch Tinas Bruder Piero fährt mit. Insgesamt sind sie ungefähr 50. Don Stefano, Don Antonio Villa und Franca, Sarina, Vincenzo, Adriano, also die aus Mailand, begleiten sie. Alles müssen sie mitbringen: von den Töpfen bis zu den Feldbetten. Mitte der Woche kommt Sarina mit folgender Bitte zu Tina: „Ich muss Adriano ein Hemd bügeln. Er muss nach Mailand. Kannst du mir zeigen, wie das geht.“ „Lass mich schnell machen.“ „Nein, bring es mir bitte bei.“ Tina erinnert sich: „Da war ich es, die einer Lehrerin etwas beibrachte! Bei denen fühlte ich mich nie beurteilt. Vielleicht wurde man mal korrigiert, aber sie nahmen mich immer ernst, so wie ich war.“ Diese Tage in Germasino waren für alle etwas ganz Besonderes. „Das war toll“, erinnert sich Tina. „Das hat mir bestätigt, dass das etwas für mich war.“

Tina war nicht die einzige in diesen Dörfern, die die Schule nicht zu Ende gemacht hatte. Daher richteten die Mailänder eine Art Vorbereitungskurs auf die Abschlussprüfung der Mittelschule ein. An drei Nachmittagen pro Woche halfen die Studenten den Jugendlichen beim Lernen. „Zuerst konnten wir es bei mir zu Hause machen. Dann musste aber mein Bruder, der im Schichtdienst beim Bau der Umgehungsstraße von Mailand arbeitete, oft in dieser Zeit schlafen. So beschlossen wir, zu Mariuccia zu gehen. Die Studenten kamen immer mit dem Auto, packten uns ein und wir fuhren los. Die einen unterrichteten uns in Französisch, andere in Italienisch, wieder andere in Mathe.“



Aus der Gruppe schafft nur Tina den Mittelschulabschluss. Die anderen kommen jeweils eine Klasse weiter. Aber für alle ist es ein Gewinn. „Don Villa, Don Stefano, Sarina und Cesi waren stolz auf mich. Ich wollte gerne eine Ausbildung als Kindergärtnerin machen. Aber dann hatte mein Bruder einen Autounfall, und wieder sagte mein Vater: ‚Du bleibst zu Hause.‘ Aber dieses Mal war es anders. Es kam keine Wut auf. Ich hatte diese Freunde. Und diesen Weg.“

Einen Weg, der weiter ging, auch als sie heiratete, Kinder bekam, Enkel. Und diese Freunde sind dabei ihre Gefährten geblieben. „Mit einigen, wie Sarina, mache ich Seminar der Gemeinschaft, andere sind schon im Paradies. Wenn wir uns treffen und uns an die Ferien in Germasino erinnern, an Don Stefano, Don Villa und überhaupt an diese Zeit ... Dann kann ich eigentlich nur danke sagen – und weitermachen. Denn ich bin immer noch eine Vollzeit-Hausfrau.“

Heft Der Sinn der Caritativa zum Downloaden